Montag, 27. Oktober 2014

Warum ISIS ein Hype ist

Originalbeitrag auf Deliberation Daily. 

Die ISIS (oder ISIL, oder Daash, oder wie auch immer) ist derzeit in aller Munde. In den USA entblöden sich einige Republikaner nicht, vor ihren Kämpfern zu warnen, die über die Grenze via Mexiko in die USA einsickern könnten. Die irakische Armee hat sich in ihrem Angesicht praktisch aufgelöst. Baghad wird angegriffen. Kobane liegt unter Beschuss. Obama will Bomben werfen. Deutschland schickt sechs technische Unterstützer, die in der Türkei hängen bleiben. Was um Gottes Willen ist da eigentlich los? Ist die ISIS nun wirklich gefährlich, oder ist sie nur ein riesiger Hype? Sieht man sich die Lage vor Ort an, so resultieren daraus vorrangig einmal zwei Schlussfolgerungen: erstens, alles ist ziemlich verworren, und zweitens, ja, sie ist ein Hype. Aber der Reihe nach.

Zuerst einmal gibt es die ISIS schon wesentlich länger als die kurze Periode des Hypes, den sie gerade erlebt. Sie war auch nicht einmal eine irakische Organisation; ihr "Kalifat", das zu errichten das erklärte Ziel der Organisation ist, wurde schon an ganz verschiedenen Orten des Nahen Ostens proklamiert und reichlich unzeremoniell wieder eingestampft, wenn der Widerstand zu groß wurde. Gary Brecher von Pando.com erklärte dieses Phänomen physikalisch: Die größte Fähigkeit von ISIS sei es, ein Machtvakuum zu erkennen und dann, den Regeln des Vakuums entsprechend, quasi in dieses hineingesaugt zu werden. Sie ist wie eine Flüssigkeit. Das bedeutet auch, dass ISIS an ernsthaftem Widerstand nicht vorbeikommt - um im Bild zu bleiben, ein Damm. So kämpfte ISIS unter ständig wechselnden Namen bereits in Syrien und Jordanien (und früher auch schon einmal im Irak). Ideologisch hilft ihr dabei, dass das Kalifat, das sie zu errichten gedenkt, ohnehin weltumspannend sein soll und es daher ziemlich egal ist, in welcher Wüste der Welt sie sich aktuell befindet. Ähnlich wie bei allen anderen radikalen Ideologien wird am Ende ohnehin alles ihnen gehören; zeitweise Rückschläge und Ähnliches sind also irrelevant und vermutlich ohnehin Gottes Plan, oder was auch immer. Fakt ist dass die ISIS sich bei Widerstand meist eher zurückzieht und sich andere leichte Ziele aussucht.

Die Stärke von ISIS ist dabei nicht zu verachten; ihr gehören um die 10.000 Mann an, was für eine radikal-sunnitische Miliz ein ganzer Haufen ist. Weder für die türkische Armee, noch für die türkischen Milizen, noch - theoretisch gesehen - für die irakische Armee ist ISIS eine reale Bedrohung. In einer offenen Feldschlacht würde sie innerhalb weniger Stunden zu Hackfleisch verarbeitet werden, weswegen ISIS auch keine offenen Feldschlachten schlägt. Die irakische Armee löste sich praktisch komplett auf, als sie ISIS entgegengeworfen wurde, aber nicht unbedingt wegen deren hoher Kampfstärke (sonst hätte sie seinerzeit gegen die US Army noch wesentlich schneller aufgeben müssen), sondern aus innerirakischen Gründen. Der Religionskonflikt zwischen Sunniten und Schiiten etwa spielt eine Rolle, die Unzufriedenheit vieler Irakis mit ihrer Regierung, die ohnehin katastrophale Moral in der Armee, und so weiter und so fort - sie war ein Kartenhaus, das nur eines entschlossenen Stoßes bedurfte, und diese Entschlossenheit hat ISIS, Wagenladungen davon.

ISIS weitere große Fähigkeit neben dem Erkennen von Machtvakuums ist jedoch die Propaganda. All das oben Gesagte sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass ISIS eine barbarische , blutige und unterdrückerische Herrschaft aufrichtet, die auf dem fußt, was die Amateur-Theologen der Miliz als "die Scharia" betrachten, gemixt mit einem ohnehin vorhandenen extremen Radikalismus und den üblichen Verrohungen der Erfahrung von Bürgerkrieg und Krieg im Allgemeinen. ISIS köpft Menschen vor laufender Kamera, filmt Steinigungen junger Mädchen, hackt Gliedmaßen ab, zerstört Lebensgrundlagen und Existenzen und füttert die Maschinerie des Kriegs mit immer neuen Opfern. Kurz gesagt. ISIS ist ein abstoßender Haufen von Irren, den man gar nicht früh genug stoppen kann. Wie eine Biker-Gang ist ISIS zudem auch noch stolz auf all das und, ganz Kind des 21. Jahrhunderts, veröffentlicht das alles auf dem eigenen Youtube-Kanal, um so neue Rekruten anzulocken und die Erfolge gegen die irakische Armee zu wiederholen, indem man den Gegner einschüchtert.

Eine dieser beiden Strategien geht auf: ISIS fließen neue Rekruten zu, gerade auch aus Europa und den USA. Nicht viele, natürlich, wir reden vom niedrigen dreistelligen Bereich, aber propagandistisch ist es für ISIS natürlich grandios, Europäer und Amerikaner für ihren Kampf zu gewinnen. Es unterstützt sie in ihrem Anspruch, den wahren Islam zu vertreten. Das Kalifat war schließlich Zeit seiner früheren Existenz für die muslimische Welt das, was der Vatikanstaat und das Römische Reich lange Zeit für Christen waren. Entsprechend große Bedeutung für den Propagandakrieg in der Region haben daher auch die Angriffe anderer arabischer und muslimischer Staaten gegen ISIS, etwa von Saudi-Arabien, was diesen Alleinvertretungsanspruch untergraben soll. Angesichts der politischen Lage in Saudi-Arabien und der prekären Situation des dortigen Königshauses ist das allerdings keine sonderlich effektive Strategie.

All das führt uns zu der politischen Geographie des Nahen Ostens. Bekanntlich teilt sich die Region, ähnlich dem Christentum, in zwei theologische Hauptrichtungen auf: Sunniten und Schiiten. Der Irak war seit je her zwischen den beiden Richtungen gespalten, ein Produkt der Realpolitik nach dem Erste Weltkrieg, wo die Region irgendwie zwischen Frankreich und Großbritannien aufgeteilt werden musste, denen Ölfelder und definierte Grenzen wichtiger waren als gesellschaftliche Phänomena. Später wurde das Land hauptsächlich durch die harte Hand Saddam Husseins zusammengehalten, eine Bedingung, die indessen weggefallen ist, weswegen die gesellschaftlichen Fliehkräfte praktisch ungehindert das Land auseinanderreißen. Die Kurden im Nordosten sind de facto bereits unabhängig und der Kontrolle der Zentralmacht in Bagdad effektiv nicht mehr unterworfen, und die Sunniten vorrangig im Westen des Landes (und in Baghdad, dazu gleich mehr) fühlen sich von den Schiiten ohnehin in die Ecke gedrängt.

Ein Problem des Irak ist nämlich seine theologische Spaltung: die Mehrheitsbevölkerung ist schiitisch (wie auch der Iran), eine Minderheit sunnitisch. Nur ist diese Minderheit bis zum Fall Saddam Husseins an der Macht gewesen: Hussein selbst war Sunni, und die Elite, auf die er sich stützte, ebenso, während die breite Masse der Armen und Arbeiter Schia war. Seit der US-Invasion hat sich das gedreht. Inzwischen stellen Schiiten die Regierung, und die Sunniten sehen ihre Felle davonschwimmen - zu Recht, denn die schiitische Regierung des Irak kümmert sich nicht besonders um rechtstaatliche und humanitäre Ideale oder versucht einen "Irak für alle" zu schaffen. Stattdessen wird der Staat eher als Beute der nun herrschenden Schia gesehen, die den Sunniten jetzt die Rechnung präsentiert. Da ISIS sunnitisch ist, erklären sich auch die überragenden Erfolge der Miliz im Westen des Irak (dem so genannten "Sunni Dreieck") und ihr nicht vorhandener Erfolg gegen Kurden und Schiiten.

ISIS operiert daher gewissermaßen in einem Stadium des permanenten Heimspiels. Sie versuchte zu Beginn der 2000er die Kräfte der sunnitischen unterdrückten Bevölkerung in Jordanien für einen Putsch zu nutzen, machte sich dann die Unzufriedenheit der Sunniten in Syrien zunutze und greift jetzt im Irak an. Außerhalb überwältigend sunnitisch bewohnter und, vor allem, unzufriedener Regionen hat sie noch nie Erfolge erzielt. Dies erklärt auch wie die Miliz es schafft, seit nunmehr fast einem Jahr sowohl jeden Moment Kobane (in kurdischem Gebiet) als auch Baghdad einzunehmen, ohne es je zu schaffen: an beiden Orten existiert kein Vakuum. Die Vororte von Baghdad waren von sunnitischen Flüchtlingen, die vor Husseins Sturz die Macht in Händen hatten, überfüllt und daher ein leichtes Ziel. Nur, die Gebiete in Baghdad selbst, aus denen sie vertrieben wurden, gehören inzwischen den schiitischen Opportunisten, die kein Interesse an dem Sturz ihrer Regierung haben.

Zumindest in Kobane liegt ISIS effektiv mitten in der Wüste vor der Stadt, ohne gegen die Kämpfer der kurdischen Milizen Erfolge zu erringen. Berichten zufolge ist ihre Taktik so schlecht, dass sie gewaltige Verluste erleiden (so werden etwa von der irakischen Armee eroberte Panzer ohne Infantriedeckung in die Stadt geschickt und, wenig überraschend, schnell ausgeschaltet). In neun Monaten hat ISIS die Stadt an der türkischen Grenze nicht einnehmen können. Gleichzeitig aber wurde ISIS auch nicht geschlagen. Ist also doch mehr dran am Hype, ist ISIS kampfstärker als bisher angenommen? Immerhin 10.000 Mann unterstehen ihr schließlich. Aber: nein. Die Gründe für die erstaunliche Beharrungskraft vor Kobane und Baghdad sind andere. Und sie haben viel mehr mit der Realpolitik der Region zu tun. Es ist realistisch anzunehmen dass wenn die USA oder die Türkei wöllten, die Belagerung von Kobane bereits vorbei und die ISIS-Truppen ein rauchender Haufen Schrott und Leichen wären, ähnlich den Bildern des "Highway of Death" im Golfkrieg 1991. Warum also wollen sie, aller markigen Statements zum Trotz, nicht?

Es hängt mit der völlig verworrenen politischen Situation zusammen. Die irakisch-schiitische Regierung würde ISIS natürlich gerne jederzeit besiegen. Zu diesem Zweck erhält sie bereits massive Hilfen aus Iran, der in den letzten Jahren große Erfolge darin verzeichnete, den Irak zu seiner persönlichen Kolonie zu machen - eine Entwicklung, die den USA als Endergebnis des absurd-teuren Irakkriegs kaum gefallen kann. Ein Sieg gegen ISIS stärkt daher den Iran. Er stärkt aber auch gleichzeitig den syrischen Diktator Assad. ISIS hat Wurzeln und Nachschubbasen im syrischen Kriegsgebiet, wo sich die Miliz bis zur Unkenntlichkeit mit den örtlichen Aufständischen gegen Assad vermischt. Ein Angriff auf ISIS-Nachschublinien und -basen in Syrien stärkt daher Assad, dem man effektiv helfen würde. Schon jetzt gibt er sich als Garant der Stabilität und Vernunft im Kampf gegen die ISIS und präsentiert sich als natürlicher Verbündeter des Westens im Kampf gegen die Terrormiliz.

Die Kurden ihrerseits könnten die ISIS mit ein wenig logistischer und materieller Unterstützung vor Kobane selbst besiegen, nur bekommen sie diese Unterstützung nicht. Während der Westen gerne jeder x-beliebigen syrischen Miliz massenhaft Waffen zur Verfügung stellt ohne zu wissen, ob sich diese später gegen ihn wenden werden, werden die eigentlich verlässlichen Kurden fast gar nicht unterstützt. Das liegt an zwei Gründen. Zum Einen wollen die USA die territoriale Integrität des Irak erhalten, die mit einer aufgerüsteten Kurden-Miliz nicht mehr möglich wäre (weil dann die irakische Armee endgültig keine Bedrohung mehr darstellt), andererseits aber sind die Kurden und die Vorstellung eines unabhängigen kurdischen Staates, auf den die Kurden unzweifelhaft hinarbeiten, Anathema für die Türkei. Und die Türkei ist ein essenzieller NATO-Verbündeter in Region. Die türkische Antipathie gegen die Kurden geht soweit, dass Ankara effektiv einen Waffenstillstand mit ISIS geschlossen hat, sofern diese nur weiterhin die Kurden attackiert - ein Waffenstillstand, in dem die USA zwangsläufig mitgefangen sind, denn gegen den expliziten Willen der türkischen Regierung kann an ihrer Grenze kein Krieg geführt werden.

Würden diese vielen verschiedenen Faktoren nicht an ISIS zerren und drücken und sie so pervererweise an Ort und Stelle halten - die Miliz wäre längst vernichtet. Natürlich ist das nichts, was man auf seinen Youtube-Channel stellt. Stattdessen regieren dort Geschichten von der furchterregenden Überzeugung und Kampkraft der Miliz, eine Illusion, an deren Aufrechterhaltung alle Seiten Interesse haben. Die irakische Regierung will es aufrechterhalten, weil es die Hilfe von Iran und USA nötig macht. Für Assad ist es wichtig, damit er als Verbündeter akzeptiert wird. Für die Kurden resultiert ein Gegner, den man heldenhaft aufhalten kann, während die Türken NATO-Hilfen in Anspruch nehmen können. In allen beteiligten Ländern eignet sich ISIS als greifbarer Feind, um die Heimatfront zu mobilisieren. Und der ISIS selbst fließen immer neue Rekruten zu. Win-Win. Sobald einer dieser Faktoren wegfällt, wird ISIS wie das Kartenhaus, das sie ist, in sich zusammenbrechen. Aber bis dahin sind sie der böse schwarze Mann unter dem Bett, vor dem alle Angst haben. Ein klassischer Hype, erkauft mit dem Blut all derer die das Pech haben, unter der barbarischen Knute der Vakuum-Experten von ISIS zu leben.

Montag, 20. Oktober 2014

CBD Öl: legale Alternative für medizinisches Marihuana

Ein Gastbeitrag von Anne Friederich.

Disclaimer: Dieser Artikel stammt nicht vom Autorenteam des Oeffinger Freidenker.



In Deutschland gibt es keine legale Möglichkeit, an legales Cannabis zu kommen. Nur in seltenen Fällen darf von Ärzten Cannabis an Schmerzpatienten verschrieben werden, doch auch das ist meist synthetisch produziert. Eine legale alternative für alle, die nicht mehr weiter mit ihren Schmerzen und Leiden kämpfen wollen, könnte sich aber eventuell schon bald im CBD Öl zeigen. Das sogenannte Cannabidiol (CBD abgekürzt) ist der Wirkstoff neben dem THC, der in der Planze am effektivsten gegen Erkrankunken wirkt.

Samstag, 4. Oktober 2014

Ich lag falsch (5): Don't tell me who I am

Originalbeitrag auf Deliberation Daily.

Geschlechterrollen gibt es schon seit Ewigkeiten. Bereits bei Adam und Eva waren sie klar verteilt: "Der Mensch gab Namen allem Vieh, den Vögeln des Himmels und allen Tieren des Feldes. Aber eine Hilfe, die dem Menschen entsprach, fand er nicht." Woraufhin Gott ihm die Frau als Hilfe zur Seite stellte. Gemacht war sie aus einem Teil des männlichen Menschen, ihre Identität war ihm zur Seite zu stehen. Aber nicht einmal das bekam sie hin, denn sie verriet ihn aus Naivität an die böse Schlange. Diese Geschichte, die auch heute noch fleißig gepredigt wurde, diente Christen über Jahrhunderte zur Rechtfertigung ihrer Herabwürdigung von Frauen. Nicht, dass heidnische Gesellschaften besser gewesen wären. Es gibt wohl nur wenige, in denen Frauen einen so schlechten Status hatten wie im Römischen Reich. Dagegen war die christliche Misogynie geradezu ein Segen. Auch bei den alten Griechen war man nicht gerade auf der Seite des Fortschritts, was Geschlechterrollen anging.

Argumentiert wurde dabei eigentlich fast immer gleich: Der Mann wurde, mit unterschiedlichen Begründungen, als dominanter Teil gezeigt, dem die öffentliche Sphäre unterlag und der für Schutz und Versorgung von Frau und Kindern zu sorgen hatten, die rechtlich häufig auf derselben Stufe standen. Natürlich war dies auch für den Mann nicht ganz ohne Nachteile, oblag es doch ihm, in die zahllosen Kriege zu ziehen, die für die menschliche Geschichte so kennzeichnend sind. Da jedoch zu allen Zeiten Armeen sich nicht auf das Töten gegnerischer Kombattanten beschränkt haben, ist das nur ein sehr schwacher Trost.

Es gehört mit zu den in der Einführung angesprochenen Blindheiten, dass ich mich bei der Betrachtung von Geschlechterrollen immer nur auf die politische und rechtliche Gleichstellung beschränkt habe. Selbstverständlich gilt auch weiterhin meine Aussage, dass sowohl Männer als auch Frauen im überwiegenden Teil der Geschichte sehr wenig bis nichts zu sagen hatten. Das ändert aber nichts daran, dass jenseits der politischen Enrechtung der Mann deutlich mehr Rechte als die Frau genoss. Nicht nur, dass er häufig über die Frau als Eigentum verfügte (was in zahllosen Kulturen auch zeremoniell bestätigt wird); oft war er auch alleiniger Verwalter des Hausstands und einziger legaler Vormund der Kinder. Scheidungen waren fast immer nur für den Mann möglich, und die Frau zu schlagen oder anderweitig zu misshandeln galt nicht als Verbrechen, sondern als Prärogativ des Mannes. Bis 1997 (!) war es in der Ehe für eine Frau nicht möglich, ihrem Ehemann sexuelle Dienste zu verweigern. Mir ist es inzwischen unbegreiflich, wie ich diese Fakten einfach unter den Tisch kehren konnte, aber ideologische Verblendung hilft da wohl.

Legitimiert werden diese Rollenbilder häufig mit "Tradition" beziehungsweise "Kultur" auf der einen oder biologischen Faktoren auf der anderen Seite. Natürlich bestreitet niemand, dass Frauen und Männer durch ihre biologische Disposition voneinander getrennt werden: nur eines der beiden Geschlechter kommt in den zweifelhaften Genuss von Schwangerschaft und Entbindung und produziert danach nahrhafte Muttermilch. Daraus jedoch eine fundamentale Schieflage in den Rechten zu konstruieren ist mehr als nur gewagt. Es fügt zum Schaden auch noch den Spott dazu. Genau das aber geschieht ständig. Frauen werden mit Mutterschaft und Versorgung assoziiert, was sie an Heim und Herd bindet. Eine gleichzeitige Assoziation mit Frauen war und ist grundsätzlich "Schwäche" ("das schwache Geschlecht"), sowohl im Sinne körperlicher als auch psychischer Kraft. Frauen wird unterstellt, emotionaler zu sein als Männer und nicht zu den gleichen Denkleistungen imstande zu sein. Generell wird "weiblich" mit "schlecht" assoziiert, auch wenn das nicht immer explizit ausgesprochen wird, während "männlich" meist "gut" bedeutet. Nivea hat dies für eine Werbekampagne grandios aufgearbeitet:

Das Zurschaustellen von "männlichen" Verhaltensweisen wird für Frauen meist nicht akzeptiert. Dies sieht man häufig bei Politikerinnen oder Unternehmensführerinnen, wenn man ihnen aggressives oder machtgieriges Verhalten vorwirft, das für Männer problemlos akzeptiert wird. Auch hier wirkt sich das Rollenmodell auch für Männer schädlich aus: stellen sie ihre Gefühle zur Schau, gilt dies als "weibisch" oder "schwach". Diese Rollenmodelle reduzieren daher die Palette gesellschaftlich akzeptabler Verhaltensweisen für Männer. Gleichzeitig gelten Zorn und Gewalt für Männer als akzeptierte Gefühlsvehikel (etwa um Trauer auszudrücken), für Frauen nicht. Dass solche Zuschreibungen zu einer Schieflage in der Akzeptanz von häuslicher Gewalt führen, die erst seit kurzer Zeit als Thema erkannt und bekämpft wird, ist nur eine der vielen negativen Auswirkungen dieser Rollenbilder. Für Männer führt dies umgekehrt dazu, dass sie in den selteneren Fällen weiblicher Gewalt über keinerlei eingeübte Konfliktlösungsmechanismen verfügen, da man diese immer nur den Frauen zuschrieb und antrainierte, während sie vor allem kompetitive Strategien kennen.

Das perfide an allen Rollenbildern ist, dass sie, gerade weil sie sich aus einer langen Tradition her begründen, praktisch unsichtbar sind. Wir sind sie gewohnt, sie wurden uns von Geburt an anerzogen. Kleine Jungs werden ermutigt, ihre Grenzen auszuprobieren, während Mädchen eher beschützt werden. Mädchen helfen eher als Jungs bei der Hausarbeit, man gibt ihnen Puppen statt Autos, statt zum Judo gehen sie zum Ballett. Es ist gerade das omnipräsente der Rollenbilder, das sie so mächtig macht, und das den Kampf gegen sie mit einem so großen Backlash kommen lässt - einer heftigen Gegenreaktion der Gesellschaft selbst. Frauen sind hier keinesfalls ausgenommen. Einer der großen Irrtümer des Feminismus war schon immer anzunehmen, dass alle Frauen automatisch auf seiner Seite sind (ebenso wie der Irrtum der Sozialisten war, alle Arbeiter müssten automatisch zu ihnen stehen), und jede Abweichung davon als Verrat wahrzunehmen. Lebenslang antrainierte Verhaltensweisen wieder abzulegen, selbst wenn sie schädlich sind, ist nicht gerade eine kleine Leistung. Für Männer kommt noch hinzu, dass die trotz aller Schäden, die selbst durch das System erleiden, immer noch Netto-Profiteure sind.

Die Versuche des Aufbrechens von Rollenbildern sind daher fast zwangsläufig ein Elitenprojekt. Nur wo das kritische Reflektieren von Denkmodellen eingeübte Routine ist, kann eine Erfolgschance bestehen. Dass der Urboden des Feminismus die Universitäten sind, überrascht daher nicht. Die Gefahr hier besteht hauptsächlich darin, dass die Diskussion in den abstrakten Welten der universitären Welt bleibt. Das Aufkommen einer neuen Generation von Feministinnen, die die erlernten Theorien auch auf bisher als zu profan abgelehnte Wirkungsbereiche anwenden (gerade die Popkultur) und ihre Analysen publikumswirksam und verständlich zu verpacken wissen, könnten hier Wunder wirken.

Doch auch die eher akademischen Diskussionen enthalten wertvolle Ansätze. So mag das Gender Mainstreaming zwar einige extreme Verrennungen in Sackgassen hervorgebracht, ist aber in seiner grundsätzlichen Richtung zu begrüßen. Auch die Ansätze zu einer geschlechtergerechten Sprache, wie sie etwa von Anatol Stefanowitsch vertreten werden, sind trotz ihrer bisher eher mangelhaften Alltagstauglichkeit ein Schritt auf dem richtigen Weg. Was es hier noch braucht sind die Mittler, die die wissenschaftlichen Erkenntnisse aufgreifen und wirkungsvoll verankern können - in einer Art und Weise, die für die breite Bevölkerung auch akzeptabel ist. Bisherige Versuche wie das Binnen-I und seine Geschwister (Asterikse, Unterstriche, etc.) sind nur Krücken und für den Alltag unbrauchbar.

Das Ziel muss es also sein, klassische Geschlechterrollen aufzulösen und die volle Bandbreite an Möglichkeiten für beide Geschlechter zugänglich zu machen. Das heißt explizit nicht, wie von vielen Kritikern befürchtet, die Unterschiede zwischen den Geschlechtern völlig aufzulösen. Das ist selbstverständlich eine biologische Unmöglichkeit. Das Ziel muss es sein, sie komplett irrelevant zu machen. Es sollen daher nicht Röcke, Ohrringe und Makeup verboten werden oder gleich utopische (oder dystopische) Vorstellungen einer Welt ohne Geschlechtsverkehr und Babys aus der Retorte gepflegt werden. Es geht darum, die akzeptablen Verhaltensweisen, Ziele, Rollen und Möglichkeiten jedes Geschlechts auch auf das andere auszuweiten. Jungs sollen weinen dürfen und Mädchen sich aktiv behaupten, um es plakativ auszudrücken. Und von diesem Ziel sind wir noch weit entfernt.