Montag, 30. März 2015

Ein demokratischer Zirkus

Vom alten Kontinent aus betrachtet ist die Politik der USA immer ein bisschen merkwürdig. Man braucht sich nur die Präsidentschaftswahlkämpfe anzuschauen: nicht nur werden die Stimmen nach einem reichlich undemokratischen Verfahren verteilt, das eine echte Entscheidung auf gerade eine Handvoll Bundesstaaten beschränkt. Nein, da werden dann auch noch die Elektoren gewählt, die dann zu irgendwelchen Konventen reisen und dort offiziell den Präsidenten wählen, der dann drei Monate nach der eigentlichen Wahl - schließlich muss er noch per Kutsche nach Washington kommen - eingeschworen wird. Aber das ist ein harmloses Kuriosum, verglichen mit einigen anderen Elementen der amerikanischen Politik, die in der letzten Zeit für Schlagzeilen gesorgt haben und den gesamten Betrieb dort so aussehen lassen, als sei man in einem Zirkus gelandet, wo allerlei Abstrusitäten zur Belustigung des Publikums ausgestellt werden, nicht aber im Machtzentrum der letzten verbliebenen Supermacht. Und all das hat mit der Demokratie zu tun.


"Was für ein Zirkus?" werden sich jetzt manche fragen, deren Hobby nicht darin besteht, der amerikanischen Innenpolitik zu folgen. Einige Beispiele:

- Der Vorsitzende des Umweltausschusses des Senats, James Inhofe aus Oklahoma, brachte einen Schneeball in den Senat, schleuderte diesen grob in die Richtung der Democrats und verkündete siegessicher, damit die Theorie des Klimawandels widerlegt zu haben: schließlich erwärme sich die Erde offensichtlich nicht, wenn er draußen einen Schneeball formen könnte.

- Nachdem eine vierte Klasse zusammen mit ihrem Lehrer ein eigenes Gesetz geschrieben hatte, das den Rotschwanzfalken als "offizielles Raubtier New Hampshires" definiert hätte und zur Debatte dieses Gesetzes in C0ncord angereist war, zerrissen die Abgeordneten das Gesetz vor den Augen der Grundschüler, unter anderem mit den Argumenten "wir haben ohnehin zu viele Gesetze", "der Rotschwanzfalke tötet seine Beute, indem er sie mit scharfen Klauen festhält und mit einem rasiermesserscharfen Schnabel zerfetzt" und meinem persönlichen Favorit, dass der Falke allenfalls eine Metapher für Empfängnisverhütung darstellen könnte. Das alles, wohlgemerkt, direkt vor den Viertklässlern und nachdem der zuständige Ausschuss das Gesetz mit Stimmen beider Parteien durchgewunken hatte.

- In Kalifornien können Bürger für 200$ ein Gesetz einbringen, das, wenn es dann rund 375.000 Unterschriften erhält, einer Volksabstimmung unterzogen wird. Aktueller Kandidat: ein Gesetz, das die Todesstrafe für Schwule und Lesben vorsieht. Das Gesetz hätte im Zweifel keine Chance, am Supreme Court zu bestehen, aber die Regierung ist gesetzlich verpflichtet, es durch alle Instanzen laufen zu lassen.

- Ritch Workmann, Abgeordneter des Kongresses von Florida, wollte ein Gesetz gegen das Werfen von kleinwüchsigen Menschen abschaffen, weil "diese ihre eigenen Entscheidungen treffen können".

- Abgeordnete Sally Kern aus Oklahoma begründete die Initiative zur Abschaffung von Affirmative Action in ihrem Bundesstaat damit, dass sie Schwarze kenne, die nicht so hart arbeiten wie Weiße. Es gäbe also keine Diskriminierung von Schwarzen, wenn diese sich einfach mehr anstrengen würden.

- Ebenfalls in Oklahoma verkündete Abgeordneter John Bennett, dass der Islam ein Krebsgeschwür sei, das aus der amerikanischen Gesellschaft herausgeschnitten werden müsse und dass er zu dieser Aussage stehe, nicht bereit, seine Meinung zu ändern.

- In Massuchesetts wurden drei aufeinanderfolgende Sprecher des Repräsentantenhauses wegen Bestechung angeklagt, und zwar wegen der Art mit dem Geldkoffer und nicht der schwer nachzuweisenden "Job nach erfolgreicher Karriere"-Methode von Gerhard Schröder oder Wolfgang Clement. Eine Abgeordnete, die sich von einem FBI-Undercoveragenten bestechen ließ, stopfte das Bargeld direkt in ihren BH.

- Dominic Ruggerio, Senator in Rhode Island, wurde von der Polizei betrunken wegen Ladendiebstahls einiger Kondome angehalten. Sein Kollege Frank Ciccone hielt daraufhin an und drohte den Polizisten, dass Ruggerio ihre Rente gekürzt habe und sie noch viel krasser kürzen werde, wenn er wieder im Kongress sei, nachdem die Polizei ihn angehalten habe.

- In einem Wahlwerbespot verspricht Richter Kenneth Ingram, dass er der einzige Kandidat sei, der Angeklagte zuverlässig zum Tode verurteile. Dasselbe Versprechen wird von Michael Oster gemacht, während Kandidatin Paula Manderfield in ihrem Spot einen Ausschnitt aus einer Urteilsverkündung zeigt, indem sie verkündet, es sei "mein Privileg, Sie zu lebenslanger Haft ohne Bewährung" zu verurteilen. Willie Singletary, Bewerber für das Amt des Verkehrsrichters, sammelte Wahlkampfspenden bei Motorradclubs mit dem zugkräftigen Slogan, sie alle bräuchten ihn vor Gericht. (Alles hier)

Und wir sind noch gar nicht bei den Absurditäten von wählbaren Ämtern wie Sheriffs oder Hundefängern.

Vielleicht lese ich nur zu selektiv, ich weiß es nicht, aber mir scheint es, als ob solcher Quatsch in Deutschland nicht passiert. So langweilig Parteitage, Parteilisten und die Ochsentour auch sein mögen, sie schließen effektiv aus, dass irgendwelche cranks den politischen Prozess kapern und zugunsten von extremen Positionen drehen. Woher also kommt es, dass in den USA offensichtliche Rassisten in den Parlamenten sitzen, Vorsitzende von Umwelt- oder Wissenschaftsausschüssen mit dem logischen Verständnis von Kleinkindern argumentieren und Richter sich damit profilieren, die härtesten Strafen auszuteilen oder aber ihre Spender nachlässig davonkommen zu lassen? Zwei Faktoren spielen hier die entscheidende Rolle: Basisdemokratie und parteipolitische Polarisierung, und beide verstärken sich gegenseitig.

Bekanntlich sind die USA bei der Wahl ihrer Vertreter wesentlich demokratischer aufgestellt als wir, sofern man "demokratisch" mit "wählbar" gleichsetzt. In Vorwahlen werden die jeweiligen Parteikandidaten für die verschiedenen Parlamente, Bürgermeister, Gouverneure und das Präsidentenamt ausgewählt. Richter und andere Ämter des exekutiven und judikativen Bereichs werden ebenfalls in Wahlen besetzt. Zudem gibt es in vielen Bundesstaaten einfache Pfade zum Plebiszit, vor allem in Kalifornien. Nun könnte man das prinzipiell gut und progressiv finden, wenn doch nur ein Problem nicht wäre: die Wahlbeteiligung.

Denn die USA sind keine Ausnahme von dem Trend, der sich auch in Europa feststellen lässt: je kleiner und unbeachteter die Wahl, desto weniger Menschen gehen wählen. Landtagswahlen haben eine geringere Beteiligung als Bundestagswahlen, Landtagswahlen eine größere als Kommunalwahlen, und so weiter. Die Wahlbeteiligung von Volksabstimmungen überschreitet selten die 50%-Marke. Im Normalfall aber gehen vor allem zwei Arten von Menschen regelmäßig wählen: die Gebildeten und Wohlhabenden auf der einen und die Polarisierten auf der anderen Seite. In Deutschland haben der große Allparteienkonsens, der Allmedienkonsens und Merkels "assymetrische Demobilisierung" dafür gesorgt, dass die wenigsten Wahlen wirklich große Bedeutung haben: es geht eher um Details als um große Richtungsentscheidungen. In den USA aber ist das anders. Hier gibt es starke radikale Flügel (wenngleich rechts derzeit mehr als links), die versuchen, die Wahlen zu beeinflussen. Und da die Radikalen eher zur Wahl gehen als die Gemäßigten und eher bereit sind, Zeit und Geld zu investieren, sind sie bei den entscheidenden Vorwahlen der ausschlaggebende Faktor (bei den tatsächlichen Wahlen relativiert sich das dann wieder, aber da ist es zu spät).

Die meisten Menschen sind keine sonderlich aufmerksamen Beobachter des politischen Prozesses und wissen meist nur rudimentär Bescheid, was gerade läuft, das ist auch im vom Mehrheitswahlrecht geprägten Land of the Free and the Brave nicht anders als hierzulande. Wahlentscheidungen werden daher oft anhand von Parteiloyalitäten getroffen, die auch in den USA - entgegen den weit verbreiteten Vorurteilen - sehr stark sind. Während Parteilisten hierzulande größtenteils von den Parteifunktionären bestimmt werden, können in den USA unter den richtigen Bedingungen durchaus nicht vernetzte, radikale Außenseiter die Arena betreten. Diese landen später zwar selten in entscheidenden Positionen, verschieben aber die Gewichte und vor allem die öffentliche Debatte und können bei entsprechender Bedeutung die "seriösen" Kandidaten in ihre Richtung zwingen. Dies konnte man beispielhaft bei Romneys Wandlung vom "moderate Republican" zum "severe conservative" 2012 betrachten.

Mehr Demokratie ist nicht immer hilfreich, um ein für die Gesamtbevölkerung repräsentatives oder im gesamtgesellschaftlichen Sinn progressives Ergebnis zu bekommen. Der politische Zirkus der USA zeigt deutlich, dass zu viel Demokratie auch schädlich sein kann. Entscheidungen werden immer von denen getroffen, die da sind. Und das sind nach der Lage der Dinge immer diejenigen, die sich am meisten für Politik interessieren, und das wiederum nach Lage der Dinge nicht immer die, von denen man will, dass sie die Hebel der Entscheidung in der Hand halten. Man sollte das bedenken bevor man sich das nächste Mal begeistert in Ideen von Basisdemokratie, Volksabstimmungen und offener Kanzlerkandidatenkür stürzt.

Freitag, 13. März 2015

Sechs Doktoren, ein Patient

Wenn man sich analog zum Ende der 1990er beliebten Vergleich Deutschland als "kranken Mann Europas" vorstellt, dann stehen um sein Krankenbett gerade sechs Doktoren, die jeweils ihre eigene Analyse und Heilungsmethode vorlegen. Und wenn man diese Analogie zu Ende denkt, offenbar sie einem einige Wahrheiten über die deutsche Innenpolitik 2015. Wir sehen auch, warum Dr. med. Gabriel die Bundestagswahl 2017 jetzt schon verloren gibt: Getroffene Hunde bellen. Lassen wir die Herren und Damen im weißen Kittel einmal zur Konferenz antreten. CDU: Der Patient ist nicht krank, ihm geht es bestens. Er sollte sofort entlassen werden. Therapien oder Medizin sind nicht nötig. SPD: Der Patient ist krank, aber wir haben keine Ahnung, wie wir ihn heilen können. Wir verabreichen daher einige Schmerzmittel und hoffen das Beste. LINKE: Der Patient ist unheilbar krank und kurz vor dem Exitus. Wir müssen sofort mit dem Fibrillator ran. Grüne: Der Patient ist krank, aber das ist eine Frage des Lebensstils. Mit einer guten Diät, Umstellung der Lebensgewohnheiten und ein paar Globoli kriegen wir das hin. (Keinesfalls impfen! schreit noch jemand von hinten) FDP: Der Patient ist krank, aber das liegt nur an den Doktoren. Würde der Patient einfach nach draußen gehen und ordentlich Sport treiben, würde er von selbst besser werden. AfD: Der Patient ist krank. Das liegt aber nur an den Erregern, mit denen andere ihn infizieren. Mit Quarantäne lässt sich das Problem schnell lösen.

Was hat diese kleine Analogie jetzt mit der deutschen Innenpolitik zu tun? Jeder Patient hört gerne, dass, obwohl er sich gerade eigentlich nicht gut fühlt, in Wirklichkeit alles in Ordnung ist. Hervorragend! Kann ich nach Hause gehen und muss nichts machen. Das ist die Botschaft der CDU. Alles läuft, alles ist ok, warum mitten im Rennen die Pferde wechseln? Angesichts der nicht enden wollenden Eurokrise scheint Deutschland die Insel der Seligen zu sein. Verglichen mit Griechenland geht es uns immer gut. Angela Merkel verkörpert für viele Deutsche (nicht zu Unrecht) diese Mentalität. Daher auch der immer noch ungebrochen große Erfolg, den die Partei in Umfragen genießt. Die Grünen, Linken, FDP und AfD besetzen jeweils eine Nische. Ihre Meinung zum Patienten ist nicht mehrheitsfähig, aber das ist auch ziemlich egal, weil der Chefarzt sie zwar höflich anhört, ihnen aber niemals die Verantwortung für den Patienten überlassen würde. Sie sehen sich gerne als Dr. House, aber in Wahrheit sind sie nur Dr. Wilson.

Gleichzeitig haben sie aber genügend Groupies, um ihre Existenz fortzuführen, und wenn sich die Situation des Patienten rapide verschlimmert, greift auch der Chefarzt zum Fibrillator (und heftet sich selbst die Meriten an die Brust), während in Zeiten in denen es ohnehin in Ordnung ausschaut auch mal ein Globoli verabreicht wird. Die FDP hat es in diesem Umfeld noch am schwersten, schon allein weil keiner mehr ihr ständiges Genörgle mehr hören kann, dass er zu fett ist und dringend mehr Sport machen muss, besonders, wenn der FDP-Arzt selbst eher Wasser predigt und Wein säuft. Am schlimmsten ist die Situation aber für die SPD. Denn die hat keinerlei Analyse, die in einer Lösung mündet. Letztlich landet sie daher immer bei derselben Analyse wie der CDU-Arzt: man muss alles weiterlaufen lassen und mal schauen. Dafür verabreicht sie gerne mal ein kleines (nicht zu wirksames) Sedativ, wenn der Patient über Schmerzen klagt, und im Delirium dankt der dann der CDU. Ohne eine eigene Analyse aber gibt es keinen Grund, warum man die ständigen Grummler von der SPD (Steinbrück, Steinmeier, Scholz) oder ihren Hofnarren Gabriel irgendwie dem so viel seriöser wirkenden Team von Dr. Schäuble und Dr. Merkel vorziehen sollte.

Man muss sich nur einmal ansehen, welche Lektion Steinbrück in seinem neuen Buch aus dem gescheiterten Wahlkampf 2013 zieht: Mütterrente und Rente mit 63 waren die großen Fehler. Man hätte mit einer stärkeren Botschaft von Blut, Schweiß und Tränen antreten müssen. Selbst wenn Steinbrück mit der Analyse richtig läge (was ich nicht glaube), so wird der Patient im Zweifel trotzdem bei den CDU-Doktoren bleiben, denn die versprechen ihm, dass ihn die gleiche Behandlung kein Stück schmerzen wird. Politik braucht eine Alternative, wenn sie als solche wahrgenommen werden will. Diese Tautologie scheint im Willy-Brandt-Haus vergessen zu sein. Die einzige Strategie der SPD ist es, sich als die bessere CDU zu präsentieren. Aber wozu sollte ich die Kopie wählen, wenn ich das Original haben kann? Gabriel stellt damit immerhin die richtige Prognose für sein eigenes Team: zum Chefarzt befördert wird es auch 2017 nicht.

Montag, 2. März 2015

Sollte man den Beamtenstatus von Lehrern abschaffen?

Angesichts des aktuellen Streiks von angestellten Lehrern in mehreren Bundesländern empfiehlt SpiegelOnline, den Beamtenstatus komplett abzuschaffen: "Trotzdem wäre es falsch, reflexhaft am Schulbeamtentum festzuhalten. Die finanzielle Bürde durch verbeamtete Lehrer und die Frage einer gerechten Bezahlung der angestellten Lehrer sind wichtiger. Denn gerade wenn nicht mehr das Berufsbeamtentum lockt, muss der Lehrerberuf attraktiv bleiben - auch beim Gehalt." Befürchtet wird im Artikel außerdem die Schaffung einer Zwei-Klassen-Gesellschaft im Lehrerzimmer. Nur: die ist schon längst da.

Bereits jetzt werden selbst in Ländern wie Baden-Württemberg, die ihre Lehrer eigentlich noch verbeamten, viele Lehrer einige Jahre angestellt, stets befristet, exklusive der Sommerferien (wo dann ALG beantragt werden muss), am besten das Deputat auf mehrere Schulen verteilt und jedes Jahr erneut die Unsicherheit, ob man im September wieder einen Job bekommt, wo und mit wie viel Stunden. Junge Lehrer steigen zu wesentlich schlechteren Konditionen ein als ihre älteren Kollegen, und ihre Pensionen wurden bereits massiv gekürzt. Das Zwei-Klassen-System ist bereits massiv da.

Die Abschaffung des Beamtenstatus für Lehrer kann nur zwei Folgen haben: entweder sinken die Gehälter aller Lehrer massiv, oder es kommen erhebliche Mehrkosten auf den Staat zu. Das klingt erst einmal nicht sonderlich intuitiv: wie der Spiegel rechnen die meisten Leute die Pensionen der Lehrer hoch und stellen einen großen Kostenfaktor fest. Und das ist ja auch wahr: die Renten der Beamten laufen nicht über die Rentenkasse, sondern über die Steuerzahler. Gleichzeitig sind Beamte aber auch vergleichsweise kostengünstig. Sind wir ehrlich - wären sie das nicht, hätten längst alle Bundesländer sie abgeschafft.

Die Erklärung für das seltsame Phänomen lässt sich ziemlich einfach aus einer Betrachtung der Gehälter herleiten, die uns auch wieder zu der eingangs aufgestellten Dichothomie bringt, entweder die Gehälter massiv zu kürzen oder eben gerade nicht zu sparen. Berlin und andere Bundesländer haben sich für eine massive Gehaltskürzung entschieden. Konkret: um als angestellter Lehrer dasselbe Netto vom Brutto zu haben wie verbeamtete Lehrer, muss das Jahresgehalt rund 76.000 Euro brutto betragen. Unrealistisch? Aber sicher. Aktuell verdienen angestellte Lehrer rund 49.000 Euro im Jahr, brutto. Ich kann das aus der Erfahrung meines eigenen Lohnzettels sagen: ein verbeamteter Kollege im selben Alter, mit demselben Familienstand und dem exakt selben Job verdient pro Monat 800 Euro netto mehr als ich. Netto. Pro Monat.

Wer jetzt einwendet, dass das eine Milchmädchenrechnung ist, weil in das Angestelltengehalt die Gesetzliche Krankenversicherung einfließt während der verbeamtete Lehrer das von seinem Netto noch bezahlen muss liegt natürlich richtig. Mein hypothetischer verbeamteter Kollege rutscht damit auf "nur" noch 500 netto im Monat mehr. Zusätzlich dazu ist er unkündbar und hat eine wesentlich höhere Pension. Oh, und er ist privat versichert, seine Bezüge steigen automatisch und höher als die der Angestellten und er bekommt umfrangreiche Zulagen für die Familie.

Deswegen kann ich über den Vorschlag von SpiegelOnline nur lachen. Der Lehrerberuf muss attraktiv bleiben, auch beim Gehalt? Sieht irgendjemand ein Bundesland wie Baden-Württemberg, das rund 120.000 verbeamtete Lehrer hat, diese auf 76.000-Euro-Angestelltenveträge umstellen (wohlgemerkt: Einstiegsgehalt)? Allein die Vorstellung ist lächerlich. Selbstverständlich würde bei einer Abschaffung des Beamtenstatus' das Gehalt auf das Niveau der bisherigen Tariftabelle des Öffentlichen Dienstes abrutschen.

Da helfen auch die üblichen Klischees nicht weiter. Manche Lehrer machen den Job nur wegen der Bezüge/der Ferien/der Rente, nicht alle Lehrer sind top, man kann sie nur schwierig feuern, und so weiter und so fort - stimmt natürlich alles. Wie überall gibt es auch bei den Lehrern schwarze Schafe, gibt es Leute, die ihren Job weniger gut machen als andere, gibt es Leute, die mit zunehmenden Alter eher in den Schonmodus gehen und die Tage bis zur Rente vom Kalender abreißen. Aber die gibt es überall, und die würde man auch mit Angestelltenverträgen nicht loswerden. Klar kann man solche Leute dann theoretisch feuern, aber in der Realität passiert das bei der "Dienst-nach-Vorschrift"-Fraktion auch in der freien Wirtschaft selten, wenn nicht gerade Umstrukturierungsmaßnahmen anstehen (die im Bildungssektor nicht gerade häufig sind). Dieses Argument kann daher eigentlich nicht ernstgenommen werden.

Jetzt könnte man natürlich einwenden, dass das im Interesse der Sanierung der Haushalte ein notwendiger Schritt ist. Alle anderen müssen ja auch bluten, warum also nicht auch die Lehrer? Und klar, das kann man so schon machen. Dsa wird mit Sicherheit Wunder für die Attraktivität des Lehrerberufs wirken. Und während die armen Schweine, die Geistes- oder Sprachwissenschaften studiert haben auch weiterhin wenig andere seriöse Karrieremöglichkeiten haben, dürfte der Mangel in den MINT-Fächern nur umso größer werden. Der ließe sich dann nur beseitigen, wenn man genau die Lehrerzimmerzweiklassengesellschaft wieder einführt, die man gerade noch zu beseitigen angetreten war. Letztlich wäre es für alle vernünftiger, den Irrweg der vergangenen Jahre zurückzudrehen und endlich wieder normale Berufsbeamte aus den Lehrern zu machen.

Wie Gefühle Politik machen

Wenn es ein Problem in der Politik gibt, das über alle Partei- und Landesgrenzen hinaus Gültigkeit besitzt, dann ist dies der Vorrang von Gefühlen und Meinungen über irgendwelche Empirie oder Evidenz. Sehr anschaulich lässt sich dies an der Kritik der Digitialisierung der Schulen des Vorsitzenden des Deutschen Lehrerverbands, Josef Kraus, festmachen:
Frenzel: Jetzt könnte ich Sie verstehen, wenn wir zum Beispiel in Norwegen wären. Da kommen, ich hab da mal Zahlen rausgeholt, auf jeden PC 2,4 Schüler. In Deutschland sind es elf Schüler, die auf einen Rechner kommen. Sind wir nicht ganz schön weit weg von einer Situation, wie Sie sie gerade an die Wand malen? Kraus: Also, ich lasse mich nicht blenden von irgendwelchen Quoten oder Zahlen. Es hat mir bislang noch niemand nachweisen können, dass eine Totaldigitalisierung des Unterrichts beziehungsweise eine Eins-zu-eins-Computer-und-Tabletversorgungsrate für Schüler den Schülern wirklich etwas bringt und dass die beispielsweise in Leistungstests besser abschneiden würden. Den Beweis, den möchte ich erst mal sehen. Ich sehe nach wie vor, bis zum Beweis des Gegenteils, eine ganze Reihe an möglichen Kollateralschäden, wenn wir Unterricht total digitalisieren. Frenzel: Wie sehen die aus, diese Schäden? Kraus: Ich habe ein bisschen den Eindruck, dass Kinder ohnehin durch die Neuen Medien dazu neigen, sich nur noch Häppchen-Informationen zu holen, dass die Ausdauer, das Durchhaltevermögen, dass das Konzentrationsvermögen leidet und das, was man mit dem Laptop unterrichtlich oder auch zu Hause recherchierend bearbeitet, eher ein bisschen an der Oberfläche bleibt. Schule braucht auch Durchhaltevermögen, braucht das Konzentrative, das Besinnliche, das Meditative. Ich glaube, das wird durch eine totale Digitalisierung, wenn alle sechs oder acht Unterrichtsstunden am Tag nur noch mit Tablets zu tun haben, gefährdet.
"Ich lasse mich nicht blenden von irgendwelchen Quoten und Zahlen", "Ich habe den Eindruck", "Ich glaube" - nichts von alledem basiert auf irgendeiner Art von Faktenbasis. Das ist symptomatisch.

Im Übrigen will ich gleich sagen, dass Kraus natürlich Recht hat wenn er sagt, dass die Gegenseite keinen positiven Effekt beweisen kann - entsprechende (belastbare) Studien wären mir bisher auch nicht bekannt. Ich will an dieser Stelle auch gar nicht die Debatte über Sinn und Unsinn von Computern und Tablets in deutschen Klassenzimmern führen. Worum es mir geht ist der faszinierend luftleere Raum, in dem sich diese Diskussion abspielt. Solche Meinungen können Leute ja haben, und ich habe selbst auch genug davon, aber sollte man nicht erwarten, dass jemand, der das Ganze beruflich macht, wenigstens ein bisschen Datenbasis hat? Das gleiche Phänomen finden wir in der Politik generell (und ich wette ein paar Cent darauf dass die großen Entscheidungen in den Chefetagen der Unternehmen auch wesentlich öfter aus purem Bauchgefühl getroffen werden als die so rauslassen): Effekte werden einfach behauptet, Gefühle werden gennant ("Irgendwie finde ich die Digitalisierung, die in meinem Alltag keinerlei Rolle spielt, schon irgendwie komisch") und auf der Basis dann Politik gemacht oder auch nicht ("Breitbandausbau brauchen wir nicht, Mobilfunknetz tut's auch"). Und vom Journalismus, dessen ungehemmte Lust nach griffigen Narrativen ohne Faktenbasis sprichwörtlich ist will ich gar nicht anfangen. Wir sehen dasselbe übrigens auch in der Wirtschaftspolitik: während die Rechten behaupten, dass sozialstaatliche Absicherung Arbeitsanreize nimmt und dass Arbeitslosigkeit effektiv auf einem Tausch von Freizeit und Geld beruht, behaupten die Linken, dass genau dies nicht der Fall sei und sich alles durch einen selbsttragenden Aufschwung über steigende Binnennachfrage regeln lässt (jeweils stark vereinfacht). Eine echte Faktenbasis dafür hat keiner; argumentiert wird eher psychologisch mit angenommenen Verhaltensmustern. Es zeigt eher das Menschenbild des jeweiligen Diskutanten auf als dass es sich mit der eigentlichen Frage beschäftigt. Es wird wirklich Zeit, dass Entscheidungen auf etwas belastbareren Fundamenten getroffen werden als Instinkt und Gefühl, ganz besonders wenn es sich um die Instinkte von alten Männern handelt.