Sonntag, 31. Januar 2016

Warum Bernie Sanders scheitern wird - und scheitern muss

Wenn Bernie Sanders' eine Schwäche hat, dann die, dass er seine großangelegten Reformen von einer Krankenversicherung für alle bis zur Zerschlagung der Investmentbanken nicht wird durchführen können, solange der Kongress so strukturiert bleibt wie er ist: in der Hand der Republicans, eingebunden in ein Netz hervorragend organisierter Lobby-Interessen. Spricht man Bernie Sanders auf diesen Schwachpunkt an, so gibt er immer dieselbe Antwort: dass eine Mobilisierung der amerikanischen Bevölkerung (sprich: seiner Wähler) auch über den Wahltag hinaus notwendig ist, um eine "Revolution" (seine Worte) zu schaffen, in der quasi die Macht der Straße die Blockaden des Kongresses durch den schieren Druck der öffentlichen Meinung hinwegspült. Occupy Wallstreet, tausendfach potenziert, vier Jahre lang, 24/7. Das aber ist eine Schimäre.

Die Vorstellung einer solchen populistischen Revolution, die Bernie Sanders zum Regierungsprogramm erheben will, ist völlig unrealistisch. Und nicht nur das, sie ist auch gefährlich.

Mir ist unbegreiflich, wie so viele Menschen an die Umsetzbarkeit dieser "Revolution" glauben können. Sanders hat selbst mehrfach zugegeben, dass er es nicht für wahrscheinlich hält, die Menge der Wahlstimmen, die Obama 2008 mobilisieren konnte, zu übertreffen. Dieser hatte die Wahlbeteiligung in Iowa gegenüber 2004 fast verdoppelt - von rund 120.000 auf 240.000 Menschen. Wahlberechtigt waren ungefähr 600.000 Menschen (weil sie offiziell als Democrats registriert sind), bei der eigentlichen Präsidentschaftswahl gewann Obama rund 820.000 Stimmen. Das entsprach einer Wahlbeteiligung von rund 61%. Das bedeutet, dass Bernie Sanders nicht damit rechnet, mehr als vielleicht 200.000 Menschen in Iowa mobilisieren zu können - nicht ganz 10% der Wahlberechtigten in einem Staat, dessen Demographie und kulturelle Prägung verglichen mit vielen anderen Bundesstaaten sehr Sanders-freundlich ist.

Es ist auch nicht so, dass Sanders' Plan einer permanenten Mobilisierung übermäßig innovativ wäre: Obama hatte genau dieselbe Idee, und erneut: nach Sanders' eigenen Worten war seine Organisation größer! Trotz der Ressourcen des Weißen Hauses und dem technologischen Vorteil, den Obama genoss, gelang es ihm nicht, die Begeisterung, die ihn 2008 ins Amt getragen hatte, auch nur dazu zu nutzen, drei Monate später - im Frühjahr 2009 - den Stimulus durch den Kongress zu bringen. Und das war eine ziemlich sandersige (ja, das ist ein Adjektiv) Unternehmung. Warum Sanders glaubt, dass er in der Lage wäre, hier größere Erfolge zu feiern, ist mir schleierhaft.

Aber Sanders muss gar nicht zu sehr auf Obama schauen, den er als Verräter an den progressiven Idealen darstellen kann, solange er will. Ein viel besseres Beispiel lädt seit 2010 ebenfalls zum ausgiebigen Studium ein: die Tea Party. Genauso wie viele überzeugte Progressive fühlten sich die radikalen Conservatives nicht vom Kongress repräsentiert und bauten eine hervorragend organisierte Graswurzelbewegung in den konservativen Teilen des Landes auf, die sie gegen das eigene Partei-Establishment in Stellung brachten. Und im Gegensatz zu Obama hielten diese Begeisterung und Organisation viele Jahre lang, feierten 2010 und 2014 elektorale Erfolge und legten Washington komplett lahm.

Aus Sicht reaktionärer Konservativer aber bleibt die Tea Party mit ihrem "Freedom Caucus" im Kongress ein Misserfolg. Ihr Mobilisierungserfolg, ihre Präsenz, all das half ihnen nicht, die Hürden des Systems in Washington zu überwinden. Stattdessen nannten sie jeden einen Verräter, der versuchte, irgendetwas zu erreichen, und igelten sich in der Totalopposition ein.

Natürlich können Bernie-Fans behaupten, dass das bei Sanders alles anders werden wird. Dass er tatsächlich eine progressive Revolution entfachen wird, deren Druck dann so groß ist, dass die gegnerische Partei im Kongress keine andere Möglichkeit haben wird, als mit dem Präsident zusammenzuarbeiten. Aber das ist ein Ausflug ins Wolkenkuckucksheim. Die Tea Party hatte größere Beteiligungszahlen als alles, was Sanders bisher auf die Beine gestellt hat, und Obama sah sich in acht Jahren trotz eines durchschlagenden Erfolgs der Bewegung in Kongress und öffentlicher Meinung nicht dazu genötigt, mit ihr zusammenzuarbeiten. Es gibt keinen Grund, warum der Druck von maximal 20% der amerikanischen Bevölkerung plötzlich die demokratisch legitimierten Republicans im Kongress zur Totalkapitulation vor dem radikalsten progressiven Programm seit dem New Deal zwingen sollte. Das ist nichts als progressive Fan Fiction, wishful thinking.

Und es ist auch gefährlich. Denn wenn Bernie Sanders Erfolg hätte, wenn er den Stein der Weisen fände, der es ihm erlaubt, sämtliche institutionellen Hürden in Washington durch den Druck einer ihm ergebenen populistischen Bewegung aus dem Weg zu räumen, dann hebelte er effektiv die Verfassung aus. Er würde vier, vielleicht acht Jahre lang progressive Träume Wirklichkeit werden lassen. Nur sollte sich jeder Sanders-Fan diese Frage stellen: was hält einen Trump, einen Cruz, einen George Wallace später davon ab, das Gleiche mit einem rechtsextrimistischen Programm zu machen? Die Aufhebung der Gewaltenteilung zwischen Exekutive und Legislative, die Sanders in ultimativer Konsequenz verfolgt, ist ein Geist, der, einmal aus der Flasche gelassen, nicht mehr zurückgestopft werden kann.

Freitag, 29. Januar 2016

Zwischen Jesus und Kant

In seinem Artikel "Die Verrohung der Bürgergesellschaft" hat Stefan Pietsch einen kausalen Zusammenhang zwischen der Aufklärung, dem Rechtsstaat und Frieden in Europa auf der einen Seite und der in Europa jahrhundertelang vorherrschenden Religion des Christentums auf der anderen Seite postuliert und dafür heftige Kritik geerntet. Die Konfliktlinien liefen dabei in etwa entlang folgender Linien: Die Kritik an Pietsch war, dass christliche Nationen jahrhundertelang selbst blutige Kriege geführt und Taten begangen haben, die nach heutigen Maßstäben Menschenrechtsverletzungen und Völkermord darstellen. Die Argumentation Pietschs dagegen war, dass wenigstens seit Beginn der Aufklärung die Gewalt kontinuierlich zurückgegangen sei. Ultimativ stellt sich die Frage: ist Europa friedlich, weil es christlich ist, oder ist das eine reine Korrelation? Die Antwort darauf ist etwas komplizierter, als es Schwarz-Weiß-Muster zu zeigen in der Lage sind.

Um sich dieser Frage anzunähern, möchte ich drei größere Blickpunkte einbringen: der Rückgang der Gewalt, die Grundlagen der Aufklärung und die Entwicklung des Rechtsstaats. Ich möchte mit dem letzten Punkt beginnen.

In seinem Buch "The Origins of Political Order" über die Entstehung politischer Ordnungssysteme hat der Politikwissenschaftler Francis Fukuyama die Behauptung aufgestellt, dass die Entwicklung des Rechtsstaats seine Wurzeln im Christentum habe. Er beantwortet damit gleichzeitig auch die Frage, warum muslimische, hinduistische oder buddhistische Staaten (pars pro toto) nicht dieselben rechtsstaatlichen Strukturen wie Europa entwickelt haben. Die Bedeutung dieser Strukturen ist zweierlei: einerseits regeln sie das Miteinander der Menschen und ihr Verhältnis zum Staat, so dass weniger Willkür und Gewalt herrschen. Andererseits geben sie durch die Rechtssicherheit (pacta sunt servanda) die Grundlagen für die spätere Industrielle Revolution und den beispiellosen Wohlstandsgewinn der vergangenen 200 Jahre.

Für Fukuyama haben sie ihre Ursache im spezifischen institutionellen Gewand der katholischen Kirche: ihre Entwicklung eines weitgehend parallelen politischen Systems mit eigener Rechtsprechung und der Möglichkeit, Urteile und Gesetze der weltlichen Herrscher aufzuheben, sind für ihn die Keimzelle des Rechtsstaats. Das heißt nicht, dass die katholische Kirche des Mittelalters und der Neuzeit rechtsstaatlich war; sie schuf vielmehr die Voraussetzungen, auf denen andere aufbauen konnten. Der Islam konnte dies laut Fukuyama nicht, weil ihm eine kirchliche Struktur fehlte (kein anerkanntes Oberhaupt, keine anerkannte transnationale Struktur). Für das heutige, rechtsstaatliche Europa ist daher die historische Rolle der christlichen Kirche ausschlaggebend. Fukuyama sagt aber dezidiert, dass christlich zu sein keine Voraussetzung für rechtsstaatliche Strukturen ist; es handelt sich hierbei um eine rein historische Herleitung der Entstehung dieser Strukturen. Übernehmen kann sie grundsätzlich jeder (und warum diese Übernahme so oft scheitert beschäftigt einen großen Teil seiner beiden Bücher, soll hier aber nicht Thema sein).

Der nächste Punkt ist die eigentliche Aufklärung, wie sie sich im 18. Jahrhundert vollzog. Die Aufklärer - Kant, Lessing und Konsorten - empfanden sich dezidiert als gläubige Christen und dachten aus einem Selbstverständnis des Gläubigen heraus. Die zahllosen fruchtlosen Versuche, Gottesbeweise zu schaffen, sind beredter Ausdruck hiervon. Die Kirchen aber waren zu diesem Zeitpunkt bereits im Niedergang. Die Renaissance und die Versuche der Kirche, die Deutungshoheit zu behalten, hatten eine defensive, konservativ bis reaktionäre Haltung geschaffen. Die Aufklärer fochten damit gewissermaßen einen Streit innerhalb des Glaubens aus, aber anders als Calvin, Luther und die anderen Reformatoren war ihnen nicht an der Begründung einer neuen Kirche gelegen. Vielmehr schufen sie eine Denkrichtung - die Aufklärung - die, obgleich aus dem Glauben an Gott motiviert, deutlich kosmopolitischer angelegt war. Beispielhaft lässt sich dies in Lessings Drama "Nathan der Weise" sehen, in dem die zentrale, aufklärerische Figur ein Jude ist, der Christen und Muslime gleichermaßen bekehrt und in eine einzige, große Familie vereint.

Um aufgeklärt zu sein, ist christlich zu sein also keine Voraussetzung. Umgekehrt aber ist die Aufklärung als Geistesströmung ohne das Christentum nicht vorstellbar. Wir sind heute so weit, dass wir Glaube und Vernunft voneinander trennen und den Atheismus überhaupt als theoretische Möglichkeit zulassen; davon war das 18. Jahrhundert weit entfernt. Ebenso wie der Humanismus der Renaissance ist auch die Aufklärung daher eine Geistesströmung, die aus dem Christentum entstand und sich dort verbreitete, sich von der Religion selbst aber mittlerweile emanzipiert hat. Entsprechend tiefer verankert aber ist sie natürlich in den christlichen Ländern, die die Aufklärung zugelassen haben - was nicht für alle zutrifft. Östlich von Elbe und Donau hat sie nie Halt gefunden, was bis heute sichtbar ist, trotz des dort immer noch aktiv gelebten Christentums, und auch in Südeuropa war ihr Halt deutlich fragiler. Dies liegt ohne Zweifel an den stärkeren Beharrungskräften der katholischen und orthodoxen Kirche gegenüber den protestantischen Strömungen. Die Institutionalisierung, die bei der Entstehung des Rechtsstaats noch so ein Vorteil für das Christentum war, wurde zu einem Mühlstein um den Hals, und die individualistischeren protestantischen Kirchen waren die neuen Zentren des Fortschritts.

Zuletzt müssen wir uns mit der Frage der Gewalt beschäftigen. Der Rückgang von Gewalt, das hat der Psychologe Steven Pinker eindrucksvoll aufgezeigt, ist ein weltweites, seit Jahrhunderten konstantes Phänomen, das aber - erneut - mit der Aufklärung besonders stark zugenommen hat. Für Pinker liegt dies vor allem an der Einhegung der Gewalt durch Kirche und Staat. Auch hier hat das Christentum eine besonders starke Rolle gespielt, weil es durch seine parallelen Strukturen und Proto-Rechtsstaatlichkeit in der Lage war, seine Verdammung von "wilder" Gewalt - also abseits der definierten Grenzen des Krieges und der Justiz - mit Nachdruck zu verfolgen. Der generelle Trend aber ist ein weltweiter und nicht exklusiv auf das Christentum begrenzt.

Es ist nützlich, sich dieser Zusammenhänge bewusst zu sein. Das Christentum bietet damit eine plausible Erklärung für den (aus westlicher Sicht) großen Erfolg Europas und Nordamerikas auf dem Feld der Sicherheit, der Freiheit und des Wohlstands im Vergleich zum Rest der Welt. Gleichzeitig zeigt es aber auch deutliche Grenzen, denn die größere Fremdenfeindlichkeit Ostdeutschlands lässt sich kaum aus der Tatsache erklären, dass das Christentum 40 Jahre lang unterdrückt worden ist. Dann nämlich müsste Polen ein Hort der Rechtsstaatlichkeit und Ungarn ein Freiheitsparadies sein, aber beides ist dezidiert nicht der Fall. Wir müssen also neben diesen geistesgeschichtlichen Entwicklungslinien noch andere Faktoren in die Berechnung einbeziehen und uns nicht darauf beschränken, das Christentum als einen Argumentationsknüppel zu missbrauchen - in beide Richtungen.

Mittwoch, 27. Januar 2016

Making a Murderer: Aufklärung, Unterhaltung oder beides?

Von Jan Falk und Stefan Sasse 2016-01-27 10_06_18-Netflix Mit "Making a Murderer" hat Netflix zum Jahreswechsel unerwartet eine Doku-Serie veröffentlicht, die in ihrer Schilderung eines echten Kriminalfalls in Wisconsin so spannend, aber auch aufwühlend und verstörend ist, dass Stefan und Jan darüber noch einmal ausführlich sprechen mussten. Das Brisante: Wie deutlich hier Verfehlungen des US-Justizsystems an einem tragischen Fall demonstriert werden. Doch nach der Veröffentlichung wurde von Seiten der Staatsanwaltschaft und der Medien Kritik an der Montage und Auswahl der präsentierten Fakten in der Serie laut und so stellt sich unter anderem die Frage, ob "Murderer" nun eigentlich eher ein Unterhaltungsprodukt ist oder tatsächlich Aufklärung betreibt.

Jan Falk: Stefan, wir haben mittlerweile beide den Real Crime-Hit “Making a Murderer” auf Netflix gesehen, der den umstrittenen Justiz-Fall von Steven Avery über drei Jahrzehnte begleitet. Avery saß seit 1985 18 Jahre lang unschuldig wegen Vergewaltigungsvorwürfen hinter Gittern, wurde dann durch neue Testmethoden entlastet und freigelassen, nur um kurze Zeit wieder angeklagt zu werden, diesmal wegen Mordes an einer jungen Frau. Über die Serie, die in ihrer Wirkung und Machart stark an den Podcast-Hit des vergangenen Jahres, Serial, erinnert, ist in den letzten Wochen viel geschrieben worden. Und zurecht: Die Serie wirft eine Reihe von Fragen auf, nicht nur über der Qualität des US-Justizsystems, sondern auch über den Modus solcher Entertainment-Formate, so etwas wie Aufklärung leisten zu können. Und ich möchte später anknüpfend an die Serie auch noch über Transparenz und Kontrolle der deutschen Justiz sprechen.

Zunächst sollten wir unsere Leser jedoch warnen, dass dieses Gespräch natürlich den Fortgang und das (vorläufige) Ende der Serie spoilert. Und ich denke, dass noch eine Warnung angebracht ist: Murderer ist kein Popcorn-TV wie andere moderne Serien, bzw. nicht nur. Denn natürlich entfaltet sich auch hier dieser Sog, weiterschauen zu wollen, zu bingewatchen. Ich habe die Serie bis tief in die Nacht an einem Stück geschaut. Doch zugleich ist sie nur schwer zu verdauen, sie verstört, macht wütend, hilflos und ich würde sie nur eingeschränkt weiterempfehlen. Wie war Deine Rezeptionserfahrung?

Stefan Sasse: Ich habe die Serie nicht am Stück, sondern verteilt über knapp eine Woche gesehen, aber das lag hauptsächlich an...real life concerns, nicht daran dass es nicht zu ertragen gewesen wäre oder so. Die Serie ist aber unzweifelhaft harter Tobak, und man schaut sie definitiv nicht, weil sie im klassischen Sinne unterhaltend wäre, und man wird auch nicht von einem ständigen heiligen Zorn an den Bildschirm gefesselt, wie ihn etwa Michael Moore immer wecken konnte. Stattdessen ist was passiert im besten Sinne betäubend.

Ich will diese Diskussion daher auch kurz mit einer Diskussion über die Serie als Serie, also als Unterhaltung, beginnen. Die zehn Folgen sind grandios aufgebaut, haben einen klaren Spannungsbogen und fangen die Aufmerksamkeit des Publikums auf eine ungeheure Art und Weise ein. Man taucht richtiggehend in die Geschehnisse ein, wird quasi selbst ein Zuschauer im Gerichtssaal.

Gleichzeitig ist aber auch immer wieder offensichtlich - und durch die Berichterstattung seit Erscheinen auch bestätigt - dass die Macher eine deutliche Schlagseite haben und für Steven Avery und Brendan Dassey eintreten. Sie sind effektiv die “Guten”, und das sagt eine ganze Menge, denn beide sind wahrlich keine Sympathieträger. Von daher, kudos für die Macher und ihr offensichtliches Können im Schneideraum, aber man muss sehr vorsichtig sein, alles für bare Münze zu nehmen. Letztlich ist am Ende der zehn Stunden immer noch genauso unklar wie am Anfang, ob Avery und Dassey nun schuldig sind oder nicht - und das wahrlich nicht in einem formalen Sinne. Ich bin bei weitem nicht so sehr von ihrer Unschuld überzeugt wie viele andere Rezipienten. Wie ging es dir da?

[embed]https://www.youtube.com/watch?v=qxgbdYaR_KQ[/embed] Jan: Ich frage mich, ob diese narrative Einseitigkeit, diese Zuspitzung überhaupt nötig waren. Die Autorinnen der Serie, Moira Demos und Laura Ricciardi, erklären sie auch damit, dass etwa Staatsanwalt Ken Kratz nicht eben kooperativ war. Dennoch: Serial etwa hat es geschafft, hat den Fall um Adnan Syed offener zu halten, ohne dadurch Spannung zu verlieren.

Nach “Murderer” war dann schon fast mit einer heftigen Reaktion der Öffentlichkeit zu rechnen. So gab es etwa eine Petition beim Weißen Haus, Avery zu begnadigen - dabei ist Washington gar nicht zuständig, was viel über das Wissen um das juristische System in den USA verrät. Zuständig ist übrigens der amtierende Gouvernor von Wisconsin, Scott Walker, der laut Berichten allerdings nicht zu einer Begnadigung bereit ist.

Ich war auch sehr viel vorsichtiger in meinem Urteil. Nicht nur, weil die Serie innerhalb der zehn Stunden es keinesfalls schafft, Averys Unschuld zu beweisen. Sondern vor allem auch, weil man ja eben - ohne massive eigene Recherchen, zu denen ich aber wirklich keine Lust hatte - eben nicht weiß, was die Autoren uns vorenthalten haben. Klar, von den 700 Stunden Bildmaterial konnten später nur zehn übrig bleiben - aber welche, das bleibt offen. Und so wundert es auch nicht, dass nun nach und nach von Seiten der Staatsanwaltschaft, aber auch durch Medien Kritik an der Montage durch Demos und Ricciardi laut wird.

Stefan: Dass Kratz nicht kooperativ war war wahrscheinlich das cleverste, was er in seiner Karriere gemacht hat. Es ist natürlich nicht nachzuweisen, aber ich denke er hat mit seiner Befürchtung Recht, dass sie ihn framen wollten. Der generelle Ton der Serie legt das ziemlich nahe, und die reichlich überflüssige abschließende Dekonstruktion mit dem Sexting-Skandal, der mit dem Thema wirklich nichts zu tun hat - dazu mit Averys Voice-Over, als ob der eine definitive moralische Autorität wäre - waren nur noch Nachtreten. Und auch das völlig unnötig - Kratz ist auch so eine zutiefst abstoßende Persönlichkeit. Da begeben sie sich in Tiefen, in die sie überhaupt nicht müssten. Sowohl Avery als auch Kratz hätten durchaus abgewogener dargestellt werden können, und die eigentlichen Problemthemen hätten weiterhin herausgestanden wie wunde Daumen, wenn man mir die krude Übersetzung des geflügelten Wortes von den sore thumbs erlaubt.

Der eigentliche Bösewicht sind nämlich nicht die Personen, die vor allem im Falle des anfänglichen Sexualverbrechens reichlich offensichtlich lügen. Das Problem ist struktureller Natur, und während das am Anfang der Serie noch sehr schön herausgearbeitet wird, geht es gegen Ende im schwarz-weißen Narrativ etwas unter.

Denn die Serie offenbart brutale Schwächen im amerikanischen Justiz- und Polizeisystem. Einige dieser Schwächen teilen sie mit jeder anderen Nation auch, sie lassen sich kaum vermeiden, egal wie gut das System konstruiert ist. Einige andere sind spezifisch amerikanisch, und ich würde gerne über beide reden.

Aber fangen wir einmal mit der an, die wir hier in Deutschland genauso haben: die unglaubliche Schwierigkeit, Polizisten, Richter und Staatsanwälte wegen Fehlverhaltens dranzukriegen. Auch in Deutschland sind die Staatsanwälte schließlich eng auf eng mit der Polizei, sollten aber gleichzeitig die Verfolgung übernehmen, so wie die Polizei ihre eigenen Verbrechen aufdecken soll. Auf der anderen Seite gibt es aber niemanden sonst, der das übernehmen kann. Parallele Polizeiorganisationen schaffen das offensichtlich auch nicht, teils verschlimmern sie das Problem noch, wie man in Wisconsin ja ebenfalls sehen kann. Was denkst du dazu?

Jan: Ich bin neulich durch einen Tweet von Welt-Redakteuer Stephan Dörner in einem ganz anderen Kontext auf etwas aufmerksam geworden, das ich allerdings gar nicht empirisch nachweisen kann, sondern nur einen subjektiven Eindruck widergibt: Die - im Vergleich zu anderen Systemen wie Wirtschaft und Politik - nur schwach ausgeprägte mediale Beobachtung und Transparenz der Justiz in Deutschland. Dörner hatte versucht, das Amtsgericht München für eine Recherche zu erreichen. Aber: “Das Arbeitsgericht München hat keine E-Mail-Adresse. Anfragen per Fax oder Post.” Nur eine Kleinigkeit, aber doch symptomatisch, glaube ich.

Wie viel weiß man eigentlich über unsere Judikative wirklich? Sicher, einzelne spektakuläre Fälle werden auch medial begleitet, etwa der NSU-Prozess, auch im Lokalen gibt es Gerichtsreporter. Aber ich meine strukturell: Wer sind unsere Richter, wie werden sie ausgewählt, wo stehen sie politisch (was im Falle des Verfassungsgerichts schnell relevant wird)? Wie sozial gerecht fallen Urteile und Strafmaße aus, und wie unterscheiden sich etwa Richter verschiedener Bundesländer in ihren Urteilen? Wie effizient arbeiten Gerichte, wie viele Fehlurteile gibt es? Noch ein Beispiel: Erst kürzlich hat das Recherchebüro Correctiv systematisch öffentlich gemacht, an welche Organisationen eigentlich Geldstrafen verteilt werden. Super interessant. Aber auch eine Ausnahme, die die Regel bestätigt, nämlich, dass man über all das (als durchschnittlicher Bürger) nur sehr sehr wenig weiß. Und mehr noch: Man merkt es nicht einmal, dass man es nicht weiß, weil es medial kaum thematisiert wird. Das sind “unknown unknowns”, um mit Donald Rumsfeld zu sprechen. Die Gerichte dürften das begrüßen, doch es offenbart im Grunde ein leicht vormodernernes Verständnis in einer Demokratie. Diese Problematik dürfte übrigens auf der anderen Seite des Atlantiks ähnlich ausfallen.

Und insofern sind populäre Einzelfallbetrachtungen wie Murderer, trotz der nun immer deutlicher werdenen Schwächen, die Du beschrieben hast, so wichtig, um überhaupt Fehlleistungen der Justiz einmal auf die öffentliche Agenda zu setzen, um ein Bewusstsein zu schaffen. Der nächste Schritt wäre, dies sehr viel systematischer zu betreiben. Und dabei könnte ja durchaus auch herauskommen, dass Justiz und Polizei etwa in Deutschland, oder auch den USA, in den allermeisten Fällen fabelhaft und korrekt arbeiten. Oder auch nicht. Aber es wäre doch wichtig, das erst einmal zu wissen. Und erst dann lässt sich eine gesellschaftliche Debatte über Reformen führen.

Stefan: Wir müssen hier zwei Dinge unterscheiden, die du aktuell noch zusammenwirfst: Transparenz und demokratische Strukturen. Wie du richtig beschreibst, mangelt es sowohl in Deutschland als auch in den USA an Transparenz im Gerichtswesen (gibt es überhaupt Staaten wo das besser ist?). Aber die USA bauen ihr System demokratisch auf, mit gewählten Sheriffs, Richtern und Staatsanwälten, während in Deutschland Polizei und Justiz in obrigkeitsstaatlicher Tradition Beamte sind und vom Staat direkt eingesetzt werden.

Ich halte jedoch das deutsche System für besser. Das Wählen der Richter und Staatsanwälte in den USA setzt Anreize, die ungeheuer negativ sind und trägt, wie du bereits beschrieben hast, kaum zur Transparenz bei. John Oliver hatte diese perversen Mechanismen in einer Sondersendung bereits beschrieben. Genau diese Mechanismen sehen wir in “Making a Murderer” direkt bei der Arbeit. Richter wie Staatsanwalt müssen “tough on crime” sein, wenn sie wiedergewählt werden wollen. Wir sehen diese Dynamik auch im Pflichtverteidiger von Brendan Dassey: der Mann will in die Politik, und ein erfolgreicher Freispruch eines möglichen Sexualmörders aus Mangel an Beweisen schadet da ziemlich. Daher dessen Drang, Dassey zu einem Geständnis zu bewegen und sich als Star an der Seite von Kratz inszenieren zu können, um am Ruhm der Verurteilung Averys teilzuhaben.

In Averys Fall wird diese Problematik noch mehrfach potenziert. Der Fall fand in einem dörflichen Umfeld statt, wo jeder jeden kennt. Der Sheriff und seine untergeordnete, ihm persönlich verpflichtete Organisation (Klientelismus ist ein ebenso typisches Problem der USA wie Griechenlands) von Deputys hassen die Familie. Die Averys sind abgehängtes Prekariat und Nichtwähler. Das Opfer dagegen ist ein aktives Mitglied in der community, Kleinunternehmer (nichts vergöttern die Amerikaner wie small business owners) und garantierte Wähler. Selbst ohne die persönlichen Fehden und verwandtschaftlichen Bindungen, die der Sheriff in seine Ermittlungen einbrachte, entsteht hier ein toxischer Mix. Und den hast du in den USA überall auf dem Land. Das ist ein Problem, das du in Deutschland deutlich weniger hast.

Dazu kommen zwei weitere Eigenheiten des US-Systems, die unserem Rechtsstaatsverständnis eher entgegenlaufen. Das wäre zum einen die Tatsache, dass die Staatsanwälte nur in eine Richtung ermitteln. Wenn Kratz ausschließlich belastende Beweise vorbringt und von Anfang an eine Story konstruiert, die er dann nur noch zu bestätigen versucht - genauso wie die Sheriffs - dann ist das Justizsystem nicht ein ermittelndes, sondern, wie Averys Anwälte richtig sagen, nur an einer Verurteilung, nicht aber an der Wahrheitsfindung interessiert. Das ist in Deutschland wenigstens dem Anspruch nach anders.

Das andere ist das Jurysystem. Diese Einrichtung macht nur historisch Sinn. Die Zeit aber, in der eine “jury of your peers” das einzige Mittel war, gegen die Willkürjustiz königlicher, adeliger Beamter bestehen zu können, sind schon lange vorbei, weswegen wir den Unsinn nicht mehr haben. Der gewaltige Fokus auf die Persönlichkeit des Angeklagten, die strafrechtlich völlig irrelevant ist, lässt sich nur aus diesem abstoßenden Show-Element erklären. Kratz erklärt im ersten Satz seines Plädoyers, dass er zeigen will, was für ein widerlicher Mensch Avery ist! Das wäre in Deutschland, genauso wie die künstliche Dramatik, völlig undenkbar, genauso die reichlich arbiträre Verurteilung auf Basis einer intransparenten Mehrheitsentscheidung von Leuten, die keinerlei Erfahrung und jeweils ganz eigene Vorurteile haben. Das ist ein völlig veraltetes, irres System, und Making a Murderer zeigt diese Mechanismen deutlich auf, wenn man sich der Spannung des eigentlichen Dramas um Avery für einen Moment entziehen kann.

Jan: Deine Analyse klingt jedoch plausibel. Dass etwa mit dem Geschworenensystem etwas nicht stimmen kann, siehst Du tatsächlich schon an den Berichten über nachträgliche Aussagen der Juroren, die teils widersprüchlich ausfallen und von “Kompromissen” bei der Urteilsfindung berichten. Ich war eher auf Fragen der mangelnden Öffentlichkeit und Transparenz eingegangen, da mir dieser Aspekt des Justizsystems als Journalist und Kommunikationswissenschaftler am deutlichsten aufgefallen war und diese auch Voraussetzung für weitere gesellschaftliche Debatten sind.

Anyway, um unseren Artikel nicht zu lang werden zu lassen, ich denke, dass schon unser kleiner Anriss der Implikationen und Fragestellungen, die Making a Murderer aufgeworfen hat, wie wertvoll dieses (gigantische) journalistische Projekt bei allen Schwächen doch ist.

Sonntag, 24. Januar 2016

Empörend, diese Empörung

Wir alle wissen, dass eine Empörungswelle im Netz ziemlich schnell gehen kann und meistens nicht zu detaillierten Nachforschungen im Vorfeld jener Empörung führt. Stattdessen wird schnell geteilt, sich aufgeregt, und weitergelebt. Und während bei Fällen wie "die Flüchtlinge kriegen vom Sozialamt alle kostenlos einen Mercedes" tatsächlich eine Sekunde Nachdenken angebracht ist, wie wahrscheinlich ein Sachverhalt wohl sein könnte, ist die Empöruing über die Empörung in einem anderen Fall deplatziert. Bei Amazon bot ein Händler namens FancyMe ein Flüchtlingskostüm (2. Weltkrieg) für Kinder an, mit Klamotten im typischen 1940er-Jahre-Stil. Dass das Nachstellen der deutschen Flucht, bei der über zwei Millionen Menschen gestorben sind, als Faschingsspaß für Kinder keine Kinder gute Idee ist, liegt auf der Hand, und entsprechend rollte die Empörungswelle durchs Netz. Nun hat SpiegelOnline nachrecherchiert und festgestellt, dass das alles eigentlich ganz anders ist.

Die Firma, die das Kostüm verkauft, sitzt in England und hat noch mehr solche Perlen im Angebot. Kostüme dieser Art sind in England ungeheuer populär, weil einmal im Jahr die Schulen die große Evakuierung der Kinder aus den Großstädten aus der Zeit des "Blitz" nachspielen, der deutschen Bomberoffensive. Zudem sind in England wohl generell Reenactments des Zweiten Weltkriegs ("1940 Family Weekend") relativ beliebt. Die Kostüme beziehen sich daher nicht auf die deutsche Flucht, sondern auf die englische Version der deutschen "Kinderlandverschickung". Der Spiegel schließt daraus:
Denn der Skandal um das Flüchtlingskostüm ist, wie Sie merken, gar keiner. Im Gegenteil: Er ist stattdessen ein guter Beleg für die unschöne Dynamik der Erregung im Internet. Erst denken, dann schreiben - diese Regel gilt oft nicht mehr. Es reicht, sich der Empörung anderer anzuschließen, auch wenn sie jeder Grundlage entbehrt. Den Anbieter der Kostüme hat der wohlmeinende Mob vorerst erlegt: Sämtliche WW-II-Verkleidungen wurden aus dem Angebot entfernt.

Nur ist diese Empörung über die Empörung reichlich wohlfeil. Denn es ist nicht meine Aufgabe als Konsument bei Amazon nachzurecherchieren, wie denn so etwas unter Umständen gemeint sein könnte. Es ist die Aufgabe des Anbieters, seine Produkte entsprechend zu kennzeichnen. Und bei der Beschreibung als "Flüchtlingskostüm Zweiter Weltkrieg" brauche ich keinen großen Interpretationsspielraum, besonders, da das Kostüm beim Originalanbieter als "Evacuee" ausgezeichnet ist - ein gewaltiger semantischer Unterschied zum "refugee". Wenn das Angebot für die deutsche Amazonseite also eingedeutscht wird, hätte man es wohl besser als "Kinderlandverschickung" ausgezeichnet. Das wäre immer noch geschmacklos gewesen, aber immerhin nicht ganz so sehr. Oder am besten gleich als "englische evakuierte Kinder" oder irgendetwas in der Art, dass der Ursprung deutlich wird.

Sich daher über mangelnde Recherche zu beklagen, ist in diesem Fall schlichtweg unaufrichtig, die Schuld liegt hier klar beim Anbieter. Wahrscheinlich ist diese Übernahme für das deutsche Amazon mehr oder weniger automatisch passiert, aber das ist nicht das Problem der Kunden. Es gibt bestimmte kulturelle Sensibilitäten, und die zu verletzen geht immer auf eigenes Risiko. Aus gutem Grund verkauft Amazon auch keine Wehrmachts- und SS-Verkleidungen (NVA-Paraphernalia gibt's dagegen massenhaft). Wenn der Spiegel sich jetzt also darüber empört, dass die Leute keine ausgiebige Recherche in den kulturellen Hintergrund eines englischen Anbieters stecken (nachdem sie vorher recherchiert haben, woher der kommt) ist das Unfug und dient nur dazu, sich seinerseits zu empören. Und darüber bin ich jetzt empört. Oder so.

Freitag, 22. Januar 2016

Die Kandidaten 2016: Bernie Sanders

Hätte man Hillary Clinton Anfang 2015 prophezeit, dass ihr Hauptgegner in den primaries 2016 ein greiser Sozialist aus Vermont sein würde, der stolz darauf ist, in seinem Leben noch keinen Smoking getragen zu haben, hätte sie wahrscheinlich genauso reagiert wie Jeb Bush wenn man ihm prophezeit hätte, dass er von einem narzistischen glorifizierten Immobilienmakler deklassiert werden würde. Aber hier ist Hillary, in den Umfragen in Iowa überholt von eben diesem Sozialisten. Da stellt sich die Frage - wer ist Bernie Sanders? Und warum gilt jemand, der vor kaum einem halben Jahr noch eine Kuriosität war, in vielen US-Medien plötzlich als ernsthafter Anwärter auf die Nominierung? Ist Sanders am Ende der Donald Trump der Democrats?

Bernie Sanders ist bereits seit langer Zeit in der Politik aktiv. Seine Wurzeln liegen in Brooklyn, aber seine Politik ist deutlich ländlicher. Seit den 1970er Jahren begann er in der Lokalpolitik seiner Wahlheimat Vermont mitzumischen, wurde Bürgermeister, dann Repräsentant, dann Senator. Bemerkenswert ist vor allem, dass er dies alles als Independent, unter dem Label "Sozialist" tat - nicht gerade ein Wort, das übermäßig viel Sympathie im Land der Brave and Free genießt. Sanders' erster Ausflug in die Präsidentschaftspolitik fand 2011 statt, als er kurz mit dem Gedanken flirtete, Präsident Obama in den primaries der Democrats herauszufordern (in denen er keinen Gegner hatte). Seine Argumentation, dass es einer Alternative bedürfe, fand aber wenig Anklang, und so ließ er den Gedanken schnell wieder fallen und attackierte die Regierung im Senat von links.

Genauso wie Elizabeth Warren ist auch Sanders ein one-issue-candidate, also ein Kandidat, der sich vorrangig über ein Leib-und-Magen-Thema definiert. Was bei Warren Verbraucherschutz und Wallstreet-Regulierung sind, ist bei Sanders die Ungleichheit. Seine Positionen sind seit den späten 1970er Jahren ziemlich konstant: er fordert höhere Steuern für die Reichen, eine Umverteilung von oben nach unten, eine gesetzliche Krankenversicherung und andere Maßnahmen, die auf eine Reform des amerikanischen Wohlfahrtsstaats nach europäischem Vorbild hinauslaufen. Nicht umsonst nennt Sanders als großes Vorbild gerne Dänemark (auch wenn Dänemark selbst den Vergleich dankend ablehnt). Hier in Europa würde er mit seinen Positionen kaum groß auffallen; vieles von dem, was er will, ist hier längst verwirklichter politischer Mainstream. In der SPD würde er sich problemlos zurechtfinden.

In den USA jedoch ist Sanders ein Außenseiter mit geradezu radikalen Positionen. Umso überraschender sind seine seit Herbst kontinuierlich steigenden Umfragewerte. War das Clinton-Team am Anfang noch herablassend-großzügig gegenüber seiner Kandidatur, werden inzwischen schwere Geschütze ausgepackt (etwa die Betonung seines nicht gerade liberalen Umgangs mit dem Waffenthema oder der Versuch, seine gesetzliche Krankenversicherung als Angriff auf Obamacare darzustellen). Seine Attraktivität dürfte sich dabei im Wesentlichen aus derselben Quelle speisen wie Trumps: eine breite Unzufriedenheit mit dem Status Quo in Washington. Das bedeutet nicht, dass Trumps und Sanders' Wähler identisch sind oder dass ihre Positionen Ähnlichkeiten aufweisen. Interessant ist lediglich, dass die Unzufriedenheit dieselbe ist. Die Schlüsse, die Trump/Sanders und ihre jeweiligen Anhänger daraus ziehen, könnten unterschiedlicher kaum sein.

Ich möchte an dieser Stelle bemerken, dass ich Sanders' Positionen fast durch die Bank zustimme. Seine Forderung, die Verantwortlichen für die Finanzkrise zur Verantwortung zu ziehen, resoniert sofort. Gleiches gilt für Steuererhöhungen für die in den USA lächerlich niedrig besteuerten Superreichen, die Einführung eines vernünftigen und all-umfassenden sozialen Netzes und vieles mehr. Ich sehe auch keine großen Probleme beim Funktionieren dieser Pläne. Die Diskussion in den USA über die Verwirklichungsmöglichkeit eines single-payer-Systems ist geradezu absurd. In Europa gibt es zahlreiche große wie kleine Staaten, die ein solches System seit Jahrzehnten fahren. Auch die Steuern sind in Europa teils deutlich höher als in den USA, ohne dass dort die Wirtschaft zusammenbräche. Ich wäre glücklich, wenn Bernie Sanders den Großteil seiner Forderungen umsetzen könnte.

Ich betone dass, weil ich weiterhin der Überzeugung bin, dass Bernie Sanders aller Wahrscheinlichkeit nach nicht Kandidat der Democrats wird. Ich betone das auch, weil ich nicht will, dass Sanders der Kandidat der Democrats wird. Um diese kognitive Dissonanz aufzulösen, müssen beide Faktoren erläutert werden.

Zwar führt Sanders aktuell die Umfragen in New Hampshire knapp an und liegt in einigen Umfragen zu Iowa vorne. Jedoch sind die beiden Staaten, wie im Blog bereits erklärt, alles andere als repräsentativ. Sie sind überwiegend weiß und ländlich geprägt. Zudem haben sie nur sehr wenig Einwohner und damit auch nur sehr wenig Delegierte. Selbst wenn Sanders beide Staaten gewinnt - nach Einschätzung praktisch aller Beobachter eine absolute Voraussetzung, um Clinton gefährlich werden zu können - hat das nur wenig Bedeutung für die weiteren primaries. Exemplarisch kann man dies am dritten Vorwahl-Staat, South Carolina, sehen. Der Staat ist deutlich urbaner als es New Hampshire und Iowa sind, und, was noch wesentlich bedeutender ist, deutlich schwarzer. Der Anteil der Schwarzen an den Wählern der Democrats in South Carolina liegt bei über 20%, während er in New Hampshire und Iowa unter 5% liegt. Und Sanders schneidet bei dieser Demographie konsistent so schlecht ab, dass South Carolina oft als "firewall" Clintons bezeichnet wird.

Der Grund dafür liegt in Bernie Sanders einseitiger Ausrichtung. Zwar betrifft seine Botschaft der Ungleichheit natürlich auch massiv die Lebensrealität von Schwarzen. Aber seine Tendenz, alles auf die ökonomische Ebene zu ziehen, kommt bei diesem Publikum überhaupt nicht an. Sanders hat konstant Probleme mit schwarzen Aktivisten, vor allem "Black Lives Matter", und hat mit seiner geradezu hochmütigen Antwort auf Ta-Nehisi Coates Frage nach seiner Unterstützung für Reparationen auch noch einen der wichtigsten schwarzen Intellektuellen vergrault. Dazu kommt, dass Sanders auf dem Gebiet der Waffenregulierung geradezu konservativ ist, was er als Senator eines ländlichen Kleinstaats wohl auch sein muss. Aber hier ist er reichlich entfernt von der Basis der Democrats, und Clinton erinnert die Wähler nur zu gerne daran.

Clinton genießt zudem eine ungeheure Unterstützung durch die Partei selbst, der Sanders nicht einmal angehört. Diese Unterstützung ist, wie bereits erklärt, extrem wichtig. Auf dieser Basis hatte ich schon vor Jahresfrist einen Sieg Clintons prognostiziert, und an der Einschätzung hat sich wenig geändert. Bis vor kurzem hatte Sanders im vierten Vorwahlstaat, Nevada, nicht einmal ein Büro. Er hat hier mittlerweile zwar aufgeholt, aber Clinton hat Nevada in eine wahre Bastion verwandelt. Danach kommen, vor allem in Richtung Super Tuesday, eine ganze Reihe bevölkerungsreicher Südstaaten zum Zuge - und die sind Clinton-Territorium, schon immer gewesen. Wenn der Nordosten und Kalifornien und damit die liberalen, Bernie-affinen Bastionen wählen, kann das Rennen gut und gerne schon entschieden sein.

Natürlich besteht nirgendwo ein Automatismus, und ein Fehler Clintons kann alles zum Einsturz bringen. Aber Sanders muss eine ganze Reihe von Herausforderungen mit Bravour bestehen. Scheitert er auch nur an einer Hürde, so dürfte seine Kandidatur Geschichte sein. Und das ist wahrscheinlich auch besser so.

Denn so sehr ich mit seinen Positionen sympathisiere, eine Kandidatur Sanders' ist eine gewaltige Gefahr. Nicht, weil er sein Programm durchsetzen könnte. Wenn ihm das gelänge - Hut ab, Amerika wäre ein besserer Ort. Dummerweise wäre es für die USA eine Katastrophe, wenn ein Republican die Wahl gewinnt. Ein Sieg der GOP 2012 wäre bedauernswert gewesen, denn Mitt Romney hätte Politik für die Reichen und Obamas Erfolge zunichte gemacht. Aber die Bewerber 2016 sind geradezu extremistisch, völlig realitätsfern und höchst aggressiv. Ihre Politik wäre eine Kombination der schlechten Teile von Barry Goldwater, Richard Nixon und George W. Bush. Der nächste Präsident der Democrats hat nicht die Aufgabe, das Land zu transformieren. Er hat die Aufgabe, Obamas Errungenschaften abzusichern und Feintuniung zu betreiben. Und dafür ist Sanders' Agenda radikalen Wandels schlecht geeignet.

Denn beide Häuser des Kongresses sind gerade fest in der Hand der Republicans, und zumindest das House of Represenatives wird nur dann vor 2020 eine demokratische Mehrheit haben können, wenn Sanders die Wahlwerte Obamas von 2008 deutlich übertrifft. Und das ist eine reichlich optimistische Annahme. Abseits eines solchen Wunders erreicht Sanders genau gar nichts. Seine Pläne erfordern alle die Mitarbeit der Legislative, und seine einzige Strategie, mit einem zu über 90% Wahrscheinlichkeit republikanischen Kongress umzugehen ist die Vorstellung, dass sein Sieg eine solche Euphorie für hope and change hervorrufen würde, dass der Kongress gezwungen wäre, mit ihm zusammenzuarbeiten und alle Parteistreits beiseite zu legen. Genau das war Obamas Prämisse 2008. Wir wissen, wie gut das funktioniert hat. Und Bernie Sanders ist, bei aller Liebe, kein Obama.

Stattdessen ist Sanders eine echte Belastung für die Partei im Wahlkampf. Er hat keine Verbindungen in die Partei, weswegen der Wahlkampf zwangsläufig schlecht koordiniert sein wird. Sanders ist für die Partei unberechenbar, und das DNC wird einen Teufel tun und seine Ressourcen einfach einem Kandidaten unterstellen, der dezidiert nicht Mitglied der Partei sein will. Allein das macht Sanders zu einem wackeligen Kandidaten.

Dazu kommt aber, dass Sanders zwar seit über 40 Jahren in der Politik aktiv ist, bisher aber keine große Rolle in der Bundespolitik gespielt hat. Clinton ist nicht gerade die beliebteste Politikerin oder beste Wahlkämpferin, aber jeder kennt sie. Die ist eine berechenbare Größe, und die Rechnungen sehen gut aus. Sanders ist eine wild card. Er wurde noch nie von den Medien besonders intensiv durchleuchtet. Hunderprozentig lagern in seinem Keller noch eine Menge bisher unentdeckter Leichen wie sein Abstimmungsverhalten bei Schusswaffenregulierungen. Einige davon wird Clinton in den nächsten Wochen noch finden. Den Rest würden die Medien und der RNC besorgen, sobald Sanders seinen Status als liebenswerter Underdog verloren hat. Und dieser Tag wird kommen, so sicher wie das Amen in der Kirche, denn er kommt immer. So funktioniert Wahlkampf.

Verliert Sanders aber die Wahl, dann kontrollieren die Republicans alle drei Regierungszweige:
  • eine Mehrheit im Supreme Court, die auf über eine Dekade gesichert sein wird.
  • eine solide Mehrheit wenigstens im House of Representatives, wahrscheinlich auch im Senat
  • das Weiße Haus
Das wäre aus der Perspektive eines Democrats - und wie 86% der Deutschen ist das meine Perspektive - der Super-GAU. Daher hole ich meinen inneren Helmut Schmidt heraus, schicke die Visionäre zum Arzt und nehme das beste, was ich bekommen kann: Hillary Clinton, und eine dritte Amtszeit Obama.

Dienstag, 19. Januar 2016

Und bist du nicht willig, so gebrauch ich Integration

Ich möchte damit beginnen, Stefan Pietsch für seinen letzten Artikel zu danken. Ich kann sein Zögern verstehen, denn wie er richtig sagt - talk is cheap. Trotzdem denke ich, dass wir so oder so Vorschläge einbringen müssen, gewählt oder nicht. Die Experten und Politiker können immer noch Stellung beziehen. Ich möchte daher sowohl seine Vorschläge diskutieren als auch neue in die Debatte einbringen.

Stefan hat natürlich Recht wenn er sagt, dass es unter der Schwelle des Schießbefehls noch andere Möglichkeiten gibt, die Grenze zu sichern. Und das kann man natürlich auch alles machen. Nur ist das rückwirkend für die Flüchtlingskrise 2015 irrelevant, denn unser damaliger Grenzschutz war effektiv das Dublin-II-Abkommen: wir mussten unsere Grenzen nicht mit einigen wenigen, von Wärmebildkameras überwachten Grenzpunkten sichern, weil wie mitten in Europa nicht damit rechneten, dass sie mehr als eine Formalität wären. Das hat sich nun offensichtlich geändert, und man kann das im Blick auf neue Flüchtlingsströme entsprechend ändern - nur wäre es vermessen damit zu rechnen, dass die Illegalitätsfrage als Fundament der Integrationsdebatte eine hohe Priorität einnehmen kann. Menschen, die aus dem syrischen Bürgerkrieg oder vor Boko Haram geflohen sind, haben nichts mehr zu verlieren. Aufenthaltsgenehmigungen und Ähnliches sind für sie irrelevant. Eine Rückkehr in die aktuell herrschenden Verhältnisse ist schlichtweg ausgeschlossen. So wichtig es auch ist, hier Rechtssicherheit herzustellen, so darf dies nicht als Ersatzhandlung zu viel Aufmerksamkeit bekommen.

Ich stimme Stefan zu, dass es wichtig ist, die Kinder möglichst früh und umfassend einzubinden. Verpflichtender Ganztagskindergarten und später Ganztagsschule sind hierzu der richtige Schritt. Gleichzeitig ermöglichen sie es auch, die Eltern - so vorhanden - ihrerseits in Fördermaßnahmen einzubinden, ohne gleich die Betreuung der Kinder zu gefährden.

Davon ausgehend möchte ich Stefans Punkt der Weiterbildungsmaßnahmen betonen. Die Forderung nach mehr Deutschlehrern ist ja inzwischen ein Dauerbrenner in der Debatte, aber da können wir nicht stehen bleiben. Es braucht umfassende Maßnahmen, sowohl in der Grundbildung (etwa die VAB-O Klassen) als auch darauf aufbauend. Das hat mehrere positive Effekte. Zum einen gibt es den Menschen etwas zu tun. Das kann in seiner Wichtigkeit gar nicht unterschätzt werden, denn das Schlimmste wäre, wenn die Leute zuhause herumsitzen und depressiv versauern; das gleiche Problem haben wir für unsere Langzeitlosen ja auch bis zum Erbrechen diskutiert. Weiterhin zwingt es die Leute, mit der deutschen Sprache in Kontakt zu bleiben, auch wenn sie keinen dezidierten Deutschunterricht haben, und zuletzt können wir dabei gleichzeitig Werte vermitteln, wie es die Schule für unsere eigenen Schüler ja auch tut.

Die Integrationsdebatte wird im Übrigen im Gegensatz zu Pietschs Aussage auch in den USA geführt, nur hat sie dort nicht den gleichen Stellenwert wie hier, weil bestimmte Faktoren bereits einem Konsens unterliegen. So ist das Land klar Einwanderungsland und bietet einen Patriotismus, der nicht der Zugehörigkeit zur Ethnie unterliegt. Amerikaner kann jeder sein, egal ob er Vietnamese, Syrer, Mexikaner oder Ire ist. In Deutschland ist das nicht der Fall, was sich in unserer sprachlichen Verwirrung um "Ausländer" immer wieder ausdrückt und zu merkwürdigen Konstellationen wie "Hast du einen deutschen Pass?" führt. Wir unterscheiden immer noch nicht wirklich zwischen "Ausländer" und "Ausländer mit deutschem Pass", zwischen zugewandertem Experten mit Greencard und Einwanderer in der zweiten Generation mit türkischer Staatsbürgerschaft.

Dies bleibt ein Problem, das wir dringend lösen müssen. Letztlich brauchen wir eine neue Definition dessen, was es heißt, "Deutsch" zu sein - und zwar eine, die auch explizit Einwanderern die Zugehörigkeit ermöglicht. Denn so ehrlich müssen auch die Kritiker der Willkommenspolitik und der bisherigen Integrationsbemühungen sein, die deutsche Identität definiert sich immer noch eher darüber, wer nicht dazugehört, und diese Zugehörigkeit wird effektiv über die Hautfarbe geregelt. Hier sind uns die USA voraus: dort ist es nicht von der Hautfarbe abhängig, ob man die Stars-and-Stripes auf die Veranda hängt.

Davon ausgehend müssen wir auch dafür sorgen, die Opposition im eigenen Land zu befrieden. Aktuell läuft das hauptsächlich über einen Rechtsruck, besonders bei der CSU, in der aktionistische Gesetzesverschärfungen gefordert und weiter auf das tote Pferd der "ganzen Härte des Rechtsstaats" eingeprügelt wird. Tatsächlich ist zu erwarten, dass die Flüchtlinge wenigstens kurzfristig Kosten verursachen werden. Sie beziehen Sozialleistungen und sind zumindest aktuell noch nicht einem solch harten Prüfungsregime unterworfen wie das Hartz-IV-Empfänger sind. Und wenn es etwas gibt, was wirklich jeder hasst, dann das Gefühl, dass jemand umsonst bekommt, wofür man sicht selbst anstrengen muss. Man erinnere sich an die Hartz-IV-Debatten von vor zehn Jahren - Stichwort Florida-Rolf. Ich denke daher, dass es notwendig ist, eine Möglichkeit für die Migranten zu konstruieren, sich Leistungen und Aufenthalt tatsächlich zu verdienen.

Mir ist klar, dass diese Vorstellung gerade unter Linken ungeheuer unpopulär ist. Ich weiß auch, dass man sich das Asylrecht nicht verdienen muss, sondern dass es ein Menschenrecht ist, man muss mich nicht extra darauf hinweisen. Darauf will ich auch gar nicht hinaus. Pietsch und viele andere haben schließlich zweifellos Recht damit, dass die Bleibeperspektiven vieler Asylbewerber und Flüchtlinge hier nach den Buchstaben des Gesetzes dürftig sind, auch wenn dies in der Praxis wegen juristischer und diplomatischer Hürden häufig auf eine Duldung hinausläuft. Wir sollten daher einen direkten "Pfad zur Staatsbürgerschaft" konstruieren. Dies erfordert den bereits oben angesprochenen, kosmopolitischen deutschen Patriotismus, der sich von alten Blut-und-Boden-Vorstellungen löst. Es beinhaltet aber auch eine Leistung seitens der Migranten, denn würde man hier schlichtweg massenhaft Einbürgerungen zulassen, würde es die Gesellschaft tatsächlich zerreißen. Es muss etwas getan sein, der Status muss verdient werden. Und das kann nicht ein Sponsoring wie bei der amerikanischen Green Card sein, die sich eh keiner leisten könnte.

Stattdessen macht es vielleicht Sinn, sich ökonomisch zu fragen, was wir von den Migranten wollen. Die größte Befürchtung ist und bleibt eine "Einwanderung in die Sozialsysteme". Letztlich also wollen wir, dass sie einen Job finden und arbeiten. Über die Integration des Dönerbudenbesitzers hat sich schließlich noch keiner beklagt, egal wie schlecht sein Deutsch war, hauptsache, Döner und Pide schmecken. Gleichzeitig haben wir keine halbe Million Jobs für Geringqualifizierte mit nur rudimentären Deutschkenntnissen herumliegen.

Hier kommen wir entgültig in das von Stefan angesprochene Problem: ich bin wahrlich kein Experte für solche Sachen. Man möge die folgenden Gedanken daher bitte ausschließlich als Denkanstöße verstehen und nicht als belastbaren, ausgearbeiteten Plan.

Es sollten zwei Möglichkeiten angeboten werden, zusätzlich zu den bisher bestehenden Regeln die deutsche Staatsbürgerschaft zu erlangen. Das eine wäre der Abschluss einer Ausbildung, die als entsprechend wertvoll angesehen wird. Niedrigschwellig könnte dies das Abitur, höherschwellig ein Studium sein. Damit löste man auch gleich das Problem, das die erste Green-Card-Initiative plagte: dass Leute ein Studium in Deutschland abschließen und dann nicht im Land bleiben können. Das ist schlicht unsinnig. Gleichzeitig bietet es einen Weg für entsprechend talentierte Einwanderer.

Die zweite Möglichkeit könnte in einer Art Zivildienst bestehen, praktisch einer Art zivilen Version der französischen Fremdenlegion. Jeder, der sich für das (freiwillige) Programm entscheidet, müsste entweder eine bestimmte Stundenzahl arbeiten (etwa vier am Tag) oder eine Vollzeitstelle nachweisen. Nach einer bestimmten Zeitspanne - etwa 20 Jahre - erhielte man automatisch die deutsche Staatsbürgerschaft. Dies ist etwa gut mit Pietschs Vorschlag zu kombinieren, der den deutschen Sozialstaat nur anerkannten Einwanderern öffnet. Das Problem ist offenkundig dasselbe wie bei Ein-Euro-Jobs, nämlich vernünftige Beschäftigung zu finden, die im Idealfall keine reguläre Beschäftigung verdrängt, aber das sollte machbar sein.

Der Vorteil bei dieser Vorgehensweise wäre, dass die Menschen einen erkennbaren Beitrag zum Gemeinwesen leisten. Damit ließe sich zumindest ein Teil der toxischen Pegida-Gefühlslage entschärfen, da sowohl Staat als auch Einwanderer darauf hinweisen könnten, dass sie eben nicht einfach nur etwas geschenkt bekommen, sondern im Gegenzug dazu eben auch etwas zurückgeben. Durch dieses System ließen sich auch die Verlierer unseres Systems einbinden. Wer keinen Job findet und nicht in der Lage ist, eine höhere Schulbildung (Sekundarstufe II oder mehr) zu erreichen, der kann immer noch seinen Beitrag über diesen "Zivildienst" erbringen. Gezwungen würde niemand - das alte System, mit all seinen Vor- und Nachteilen, bliebe parallel bestehen. Es würde aber eine verbindliche Perspektive eröffnen, die dem Bedarf von Einheimischen und Einwanderern gleichermaßen Rechnung trägt - ohne dass man sich gleich wieder in Lebenslügen über Gastarbeiter, Gastrecht und wolkige Integrationsforderungen verliert.

Sonntag, 17. Januar 2016

Die Notwendigkeit von Integrationspolitik ist ein alter Hut

Stefan Pietsch argumentiert in seinem jüngsten Beitrag "Warum Deutschland kein Einwanderungsgesetz braucht" unter anderem, dass eine große Illusion die deutsche Politik und, natürlich, seinen liebsten verbalen Boxsack, die Linken, im Griff hält. Wie so oft in der aktuellen Debatte wirft Stefan in seinem Beitrag munter Einwanderung, Flucht und Asyl durcheinander, denn tatsächlich dürfte es unbestreitbar sein, dass bei den letzteren beiden eine Unterscheidung nach Talent oder Nützlichkeit sich selbst verbietet. Andernfalls wäre jede Unterscheidung überflüssig. Bei der klassischen Einwanderung ist dies anders, aber hier arbeiten wir immer noch den Problemberg ab, der zwischen 1960 und 2000 geschaffen worden ist, nämlich die massenhafte Einwanderung niedrig qualifizierter, kulturell fremder Menschen und die gleichzeitige Leugnung dieses Vorgangs. Seither hat es effektiv keine großen Einwanderungswellen aus Südeuropa oder dem Mittleren Osten mehr gegeben, denn die großen Fluchtbewegungen der 1990er Jahre im Zuge der Balkankriege blieben eine vergleichsweise beschränkte Angelegenheit, und viele der damals nach Deutschland geflohenen sind mittlerweile wieder zurückgekehrt.

Das Hauptaugenmerk liegt daher auf der Bewältigung der aktuellen Krise und den Zukunftsaussichten für die vielen Menschen, die zwar wahrscheinlich zu einem Teil auch wieder in ihre Heimat zurückkehren werden, von denen aber schon alleine wegen ihrer ungeheuren Zahl mit einem guten Teil von Bleibewilligen zu rechnen ist. Diese Debatte konzentriert sich hauptsächlich auf die Frage, wie gut die Perspektive ist die diese Menschen in Deutschland haben und welchen Kosten und Nutzen sie der Gesellschaft als Ganzes bringen.

Plakat
Plakat 1979
Wenn Stefan Pietsch hier triumphierend Meinhard Miegel zitiert, so kann man ebenfalls Heinz Kühn zitieren, den ersten Ausländerbeauftragten der BRD. Er legte 1979 ein Memorandum vor, in der er darauf hinwies, dass Deutschland de facto ein Einwanderungsland war und dass es dringend notwendig war, Maßnahmen zur Integration der hier lebenden Ausländer zu ergreifen und sich nicht der Illusion hinzugeben, dass diese irgendwann wieder gehen würden. Er forderte unter anderem, "Bildung, Arbeitsleben, Kultur und Bürgerrechte" miteinzubeziehen. Die frühen 1980er Jahre sahen auch eine Initiative, den in Deutschland lebenden Ausländern das kommunale Wahlrecht zuzugestehen.

Wohlgemerkt, das war unter einer SPD-Regierung. Zu großen Maßnahmen kam es nicht mehr - was folgte waren Kohl, die große Ausländerlebenslüge der Konservativen und 16 verlorene Jahre auf diesem Gebiet. Die CDU unterstützte Bürgerinitiativen wie "Bürgerinitiative Ausländerstopp" ("Damit wir in diesem Land eine Zukunft haben"), investierte Millionen in Anreize für die Gastarbeiter, wieder in die Türkei zurückzugehen (ohne greifbare Ergebnisse) und hielt eisern daran fest, dass die deutsche Staatsbürgerschaft an deutsches Blut gebunden war. Dieses ius sanguinis führte zu Beginn der 1990er Jahre dann zu der absurden Situation, dass die Kohl-Regierung hunderttausende so genannter "Aussiedler" oder "Russlanddeutscher" ins Land ließ, ohne irgendwelche Schritte zur Integration zu unternehmen - wozu auch, es handelte sich für die Konservativen ja technisch gesehen auch nicht um Zuwanderung, sondern um eine Rückführung. Gleichzeitig glaubte man auch, die Flüchtlinge vom Balkan mit einer Verschärfung des Asylrechts hinreichend bedacht zu haben.

Erst Rot-Grün unter Schröder - und hier vor allem die Grünen - hoben das Thema wieder auf die Agenda und versuchten, mit dem viel geschmähten Multi-Kulti eine erste Antwort auf diese drängenden Fragen zu geben. Das Zuwanderungsgesetz, das 2005 in Kraft trat, blieb dabei weit hinter den Anforderungen zurück, und das Thema verschwand später im Skandalsumpf der Visa-Affäre, als das von Joschka Fischer geführte Außenministerium deutlich zu laxe Visa-Neuregelungen erließ, die zum Missbrauch geradezu einluden. Trotzdem ist es das Verdienst von Rot-Grün, das Thema "Integration" überhaupt dauerhaft auf dem politischen Tablett verankert und auch die CDU/CSU wenigstens zu Lippenbekentnissen hierzu gezwungen zu haben.

Sieht man sich diese lange Geschichte der Verdrängung des Integrationsthemas an, so überrascht es, dass immer noch nicht auch nur ansatzweise eine allgemein anerkannte Definition dessen vorliegt, was eigentlich "Integration" eigentlich bedeutet. Die CDU hat eine Weile lang den Begriff der "deutschen Leitkultur" als politischen Kampfbegriff genutzt, ohne ihn verbindlich mit Inhalt zu füllen. Das greifbarste Leitkultur-Ergebnis dürfte der Einwanderertest sein, der eher an eine Trivial-Pursuit-Variante erinnert als an Integrationspolitik. Auf der anderen Seite müssen sich die Grünen den Vorwurf gefallen lassen, tatsächlich zu optimistisch und naiv an die Sache herangegangen zu sein, während die SPD gefühlt seit Heinz Kühn das Thema schlicht ignoriert. So entsteht die absurde Situation, dass zwar alle lautstark Integration einfordern, aber niemand wirklich zu sagen vermag, was Integration nun eigentlich ist. Welches Sprachniveau braucht es? Welche kulturelle Assimilation? Reicht das Einhalten der Gesetze? Etc.

Das frustrierende an den ständigen Integrationsforderungen ist diese Unklarheit, denn sie entschuldigt auch das große Nichtstun. Man kann dies wunderbar an Pietschs Beiträgen der vergangenen Tage untersuchen. Die Integration der Türken ist "weitgehend gescheitert", die Leute vom Balkan schuhplatteln auch noch nicht und die Syrer entstammen ohnehin einer völlig anderen Kultur, so dass eine Integration ohnehin nicht möglich ist. Warum also überhaupt versuchen? Es ist nur die neueste Auflage von "Deutschland ist kein Einwanderungsland", dem letzten Mantra, mit dem Konservative ihre eigene Untätigkeit zum Prinzip erhoben. Natürlich ist grenzenloser Optimismus genausowenig hilfreich. Pietsch, Lübberding und viele andere Kritiker haben natürlich schon Recht, wenn sie feststellen, dass in den aktuellen Plänen zwischen der Reise von Punkt X (Flüchtlinge kommen nach Deutschland) zu Punkt Z (Flüchtlinge sind toll integriert und leisten ihren Beitrag zum Wirtschafts- und Gesellschaftsleben) eine Lücke Y klafft, die aktuell durch göttliche Intervention ausgefüllt scheint.

Das kann aber kein Grund sein, die Arme in die Luft zu werfen, mehr Härte durch die Exekutivorgane zu fordern und zu hoffen, dass sich damit alles erledigen möge. Wir brauchen eine konstruktive Debatte für einen ersten, umspannenden Integrationskonsens. Nur dann wissen Migranten, was von ihnen verlangt wird, und nur dann kann es einen Punkt geben, an dem wir Erfolg und Misserfolg klar konstatieren können. Vorher ist alles nur Gerede.

Freitag, 1. Januar 2016

Bücherliste 2013/14

Bücher sind der Schlüssel zur Welt, und es gibt praktisch unendlich viele davon auf der Welt, und jedes Jahr kommen neue hinzu. Da das Leben kurz ist, möchte man nicht unbedingt mehrere Bücher anfangen und irgendwann feststellen, dass sie Mist sind und man bisher seine Zeit verschwendet hat. Andererseits ist es oft schwer, an gute Ideen für neue Bücher heranzukommen, wenn man sie nicht gerade durch Zufall findet. Ich stelle daher hier meine Bücherliste 2013/14 vor, die zwar nicht alle Bücher enthält, die ich in diesem Zeitraum gelesen habe, aber alle, die ich guten Gewissens weiterempfehlen kann. Vielleicht findet ja jemand etwas Interessantes darin. Die meisten Bücher habe ich auf Englisch gelesen; wo vorhanden, habe ich Links auf die deutschen Versionen beigefügt. Alle Links führen direkt zu Amazon, und wer die Bücher über diese Links bestellt sorgt dafür, dass ein kleiner Teil des Preises von Amazon an mich geht. Kapitalismus!


Abhit Banerjee - Poor Economics (dt: Poor Economics: Plädoyer für ein neues Verständnis von Armut)
Dieses Buch beschäftigt sich mit einer äußerst spannenden Frage: der Ökonomie der Armut. Wie ticken Menschen, die arm sind? Diese Frage ist nur scheinbar simpel. Denn die Vorstellung, dass diese Leute halt einfach jeden Cent zweimal umdrehen und sich zurücknehmen greift wesentlich zu kurz, und sie erklärt auch nicht das permanente Versagen vieler Entwicklungshilfeprogramme und sozialer Maßmahmen. Banerjee erklärt eindrucksvoll, wie sich das Leben von Armen von dem von Reichen unterscheidet. Ihm geht es dabei nicht um den Unterschied von Hartz-IV-Empfänger und Millionär, sondern um den eines Textilarbeiters in Bangladesch zum typischen Mittelschichtangehörigen hierzulande. Die Schlussfolgerungen, die er aus seinen Untersuchungen zieht sind überraschend und stellen die meisten Entwicklungshilfe-Ideen auf den Kopf. Wer dieses Buch liest versteht leicht, warum über 50 Jahre Armenhilfe wenig getan haben, die weltweite Armut zu reduzieren.

Adam Tooze - Wages of Destruction (dt: Ökonomie der Zerstörung)
Dieses Buch des Historikers Adam Tooze befasst sich mit der Wirtschaft des Nationalsozialismus, einem deutlich unterrepräsentierten Thema der Forschung, das hier voll ausgeleuchtet wird. Für jeden an der Ära interessierten Leser ist dieses Buch ein absolutes Muss, denn Tooze hilft, die Bedrohung des Nationalsozialismus' auf die ökonomisch-empirischen Füße zu stellen. So kann er das Leistungsvermögen der Nazi-Kriegswirtschaft mit dem Großbritanniens, der USA und der Sowjetunion vergleichen, erklären, welche Parameter den Angriffsplan auf Frankreich entscheidend beeinflussten oder den eine weitere Ebene des Wahnsinns hinter dem Angriff auf die Sowjetunion erklären.

Andrew Sullivan - I was wrong (nur Englisch)
Dieses mit dem obigen Link kostenlos erhältliche eBook von Andrew Sullivan fasst Blogposts seines berühmten "Sullidish"-Blog zusammen, die sich mit dem Irakkrieg beschäftigen. Sullivan zeigt dabei eindrucksvoll auf, wie er sich von einem fanatischen Befürworter des Krieges über einen Skeptiker hin zum absoluten Gegner entwickelte. Den Gedankengang eines öffentlichen Intellektuellen auf diese Art nachverfolgen zu können ist äußerst faszinierend.

Christopher Clarke - Sleepwalkers (dt: Die Schlafwandler - Wie Europa in den 1. Weltkrieg zog)
Das Buch war nicht gerade unkontrovers, und entsprechend viel ist darüber geschrieben worden, so dass eine weitere Vorstellung hier eher sinnlos wäre. Daher nur einige eigene Gedanken: Clarke wurde zwar von der konservativen Presse gerne für ihre eigene Agenda vereinnahmt, das ändert aber wenig an der Qualität des Buchs und an den vielen neuen Perspektiven, die Clarke eröffnet. Er nimmt nämlich in dem Werk eine wirklich europäische Perspektive ein und löst sich von der Nabelschau, die so viele andere Werke auszeichnet (ob deutsch-zentrisch oder britisch-zentrisch ist dabei irrelevant). Allein wegen der Herausforderung für liebgewonnene Narrative lohnt das Buch sich.

Daron Acemoglu - Why Nations fail (dt: Warum Nationen scheitern)
Wie auch Poor Economics ist dies ein Buch, das gut dazu geeignet ist, Präkonzepte zu zerstören. Ich habe das Buch seinerzeit auf dem Geschichtsblog besprochen, daher hier nur eine kurze Zusammenfassung: Acemoglu und seine Mitautoren stellen ein Theoriekonstrukt auf, das dazu dienen soll, das Scheitern vieler Nationen (von der Sowjetunion über diverse Entwicklungsländer)  und gleichzeitig den Erfolg des Westens zu erklären, ohne dabei in irgendwelche Kulturgeschichten zu laufen ("die Aufklärung", "das Christentum", etc). Das tun sie meiner Meinung nach ganz überzeugend.

Eri Hotta - Japan 1941: Countdown to Infamy (nur Englisch)
Hotta beschreibt in diesem Buch etwas, das man nur selten liest: eine genaue Rekonstruktion der Entscheidungsfindung in Japan 1941. Warum entschied sich Japan, Pearl Harbor anzugreifen, obwohl es selbst seine Chancen bestenfalls (!) mit 1:2 bewertete? Welche Alternativen gab es? Welche Fraktionen kämpften mit welchen Mitteln um die Macht in der arkanenen imperialien Bürokratie? Hotta gelingt es hervorragend, dieses weitgehend unbekannte Kapitel zu beleuchten und so auch die andere Seite aufzuzeigen, die nach ganz eigenen und nur schwer verständlichen Regeln spielte.

Frank Stauss - Höllenritt Wahlkampf
Frank Stauss ist ein erfahrener Wahlkämpfer, der über die Agentur BUTTER vor allem für die SPD tätig ist. In diesem Buch erzählt er anekdotenhaft von der Realität des Wahlkampfs. Er bezieht sich dabei auf den Wahlkampf 2005, als die SPD mit Gerhard Schröder beinahe noch einmal Angela Merkel entthront hätte. Die Geschichte ist locker erzählt, ohne dabei allzuviel Theorie oder Empirie ins Spiel zu bringen.

Hans-Henning Kortüm - Kriege und Krieger 500-1500
In diesem Buch erklärt der Historiker Kortüm, wie und von wem im Mittelalter Krieg geführt worden ist. Dabei räumt er viele bekannte Narrative und Vorturteile auf. Die für mich wohl wichtigste Erkenntnis war, dass mitnichten feudale Trüppchen ins Feld zogen - also lauter Feudalherren irgendwelche Landwehren aushoben und diese dann in eine ungeordente Armee zusammenführten - sondern dass bereits im Mittelalter überwiegend mit professionellen Soldaten gekämpft wurde. Aber auch sonst findet sich von der Verbrannten Erde bis zur Ernährung zu den sanitären Anlagen und Belagerungen eine Menge Interessantes für den einschlägig Interessierten.

Hector Garcia - A Geek in Japan (dt: Xcentric Culture: A Geek in Japan)
Ein Reiseführer der besonderen Art ist Hector Garcias "A Geek in Japan". Garcia, ein Japanfan, nimmt den Leser auf eine Reise durch das Land und seine Sitten. Er erklärt kulturelle Fallstricke und beleuchtet mit viel Liebe die Besonderheiten der japanischen Kultur, ohne ständig in irgendwelche Klischees abzurutschen. Wer sich für das Land interessiert, dem seien seine Ausführungen sehr ans Herz gelegt. Etwas negativ schlägt sich jedoch sein Schreibstil zu buche. Vielleicht liegt es an der Übersetzung, aber der Satzbau und die Wortwahl waren nicht immer ganz gelungen.

Ian Kershaw - Hitler: Hubris (dt: Hitler 1889-1936)
Die Hitler-Biographie von Ian Kershaw ist wohl eine der besten, die je geschrieben wurde. Mit großer Sachkenntnis geht er ans Werk und arbeitet die Herkunft und Ideologisierung des Diktators heraus. Dabei zeigt er sowohl die Einflüsse seiner Wiener Zeit als auch den langsamen Aufbau der NSDAP auf, was das Buch gleichzeitig zu einer Art Geschichte des frühen Dritten Reichs macht. Kershaw behält aber stets Hitler im Blick und weiß dabei sich von der Versuchung freizuhalten, allzuviel Küchentischpsychologie für ihn anzuwenden. Es gibt keine wilden Spekulationen über Sexleben und Beziehungen, stattdessen regiert das, was wir sicher wissen können.

Ian Kershaw - Hitler: Nemesis (dt: Hitler 1936-1945)
Im zweiten Band seiner Biographie bleibt Kershaw den oben beschriebenen Qualitäten treu und widmet sich der zweiten Hälfte von Hitlers Wirkenszeit. Ja, sie ist kürzer als die erste, aber auch deutlich konsequentieller (ist das ein Wort?) und braucht dementsprechend mehr Gewicht.

John Quiggin - Zombie Economics (nur Englisch)
Als Zombie-Ökonomie bezeichnet John Quiggin alle die ökonomischen Ideen, die schon lange tot sein sollten - weil sie offensichtlich falsch sind - aber trotzdem noch da sind und Einfluss haben. Vom Homo Oeconomicus bis zur Lafferkurve findet sich hier alles, was die Wirtschaftsseiten von FAZ, Süddeutscher Zeitung und Welt glücklich macht. Quiggin erklärt dabei nicht nur die Theorien selbst, sondern auch, warum sie eigentlich tot sein sollten und welche Faktoren dafür verantwortlich sind, dass sie immer noch unter uns sind.

Jonathan Alter - The Center Holds (nur Englisch)
Obamas deutlicher Sieg über Mitt Romney 2012 überraschte viele Experten völlig. In "The Center Holds" zeigt Jonathan Alter detailliert auf, wie Obamas Team den Wahlkampf anging, wie auf der anderen Seite Mitt Romney agierte und warum es Obama möglich war, ihn so deutlich zu schlagen - und auch, warum die Experten alle so daneben lagen. Das Buch wechselt dabei Betrachtungen struktureller Faktoren mit dem anekdotenhaften auf eine Art und Weise ab, die ein plastisches Bild des Wahlkampfs ermöglicht und gleichzeitig als Analyse der ersten Amtszeit Obamas taugt. Sehr empfehlenswert.

Marty Cohen - The Party Decides (nur Englisch)
Inzwischen ist "The Party Decides" in aller Munde, aber ich kann mit einem gewissen Stolz verkünden, ein Hipster des Buchs zu sein, denn ich hatte es schon gelesen bevor es alle cool fanden. Cohen und seine Mitautoren stellen hier eine Theorie über die Nominierungen amerikanischer Präsidentschaftskandidaten auf, in der sie postulieren, dass trotz der Umstellung auf das primary-System weiterhin das alte Partei-Establishment entscheidenden Einfluss über den Nominierungsprozess hat. Ich habe mit dieser Hypothese hier im Blog schon öfter argumentiert, und 2016 dürfte ein ziemlich deutlicher test case für sie werden. Zeit genug, sich bis Iowa noch die nötige Theorie anzueigenen!

Steven Attewell - Race for the Iron Throne (nur Englisch)
Wer sich für "Game of Thrones" interessiert, sollte unbedingt diese brillante Analyse des ersten Bandes von Steven Attewell lesen. Kapitel für Kapitel untersucht Attewell mit dem Mittel der politikwissenschaftlichen Analyse das Geschehen, erklärt die Implikationen, stellt Was-wäre-Wenn-Fragen und vergleicht das Geschehen mit den historischen Vorbildern und der TV-Serie. Unbedingt empfehlenswert.

William Hogeland - Founding Finance (nur Englisch)
Dieses Buch gehört sicherlich in die Abteilung "Nischeninteressen", aber wer sich schon immer für die persönlichen Finanzen der Gründerväter interessiert hat, liegt hier richtig. Hogeland zeigt einige interessante Fakten auf, vor allem die finanzielle Verquickung der Gründerväter mit ihrer Sache. Linke überziehen die Analogien hier zwar gerne, aber es ist trotzdem interessant zu sehen, wie Jefferson durch die Unabhängigkeit seine Sklaven behalten konnte, die Landspekulationen jenseits der Appalachen plötzlich Früchte trugen oder wie John Hancock weiterhin Tee schmuggeln konnte.