Donnerstag, 23. Februar 2017

Die Stärke der SPD ist die Schwäche der CDU

31% in den Umfragen - so stark war die SPD seit 2005 nicht mehr. Es ist ein ungewohntes Gefühl, ob man Sozialdemokrat ist oder nicht. Ein Wahlkampf in Deutschland, bei dem sich die Kontrahenten scharf angreifen und so etwas wie verschiedene Richtungen zur Auswahl stehen? Auch so etwas hat man seit 2005 nicht mehr gesehen. Und damals ging es auch nur um die Frage, wer nun als Kanzler die Früchte des sich abzeichnenden Aufschwungs ernten und seiner eigenen Politik zuschreiben durfte. Die Geschichten über Martin Schulz, der die SPD mit beherztem Linksruck zurück ins 30%-Feld zieht, schreiben sich quasi von selbst. Nur wurde bereits mehrfach zurecht darauf hingewiesen, dass die SPD bereits 2013 mit einem Programm antrat, das vom sich aktuell abzeichnenden allenfalls in Details abweicht. Genau hier liegt die Kernfrage: was treibt eigentlich den aktuellen SPD-Erfolg in den Umfragen?

Ein guter Teil ist mit Sicherheit der Neuheitswert von Martin Schulz. Es ist ein Armutszeugnis für die Presse wie für die Wähler, dass das der Fall ist, denn Schulz ist nicht gerade ein Newcomer ohne bisherige politische Erfahrung. Aber wen interessiert schon Europa? Schulz kommt daher mit einer gehörigen Ladung Altlasten, die hierzulande keiner kennt und die wahrscheinlich auch niemanden interessieren. Warum sich deutsche Wähler mehr für die Untiefen der Abrechnungspraxis von Mitarbeiterbezügen im Europaparlament interessieren sollten als französische Wähler, erschließt sich mir jedenfalls nicht. Es mag sein, dass sich dieses Narrativ in Dimensionen einer, sagen wir: E-Mail-Affäre, auswächst, aber zumindest aktuell lockt das keinen toten Hund hinter dem Ofen hervor.

Mehr Bedeutung hat da die Absage an eine Fortführung der Großen Koalition unter Merkel, eine Entwicklung, die sich wohl nicht ganz zufällig in derselben Politik der S&D im Europaparlament spiegelt. Die Idee, dass die SPD 2013 stärker als die CDU werden und dann ihrerseits unter Steinbrück die Koalition anführen würde, war genauso irrsinnig wie unattraktiv. Will die SPD als eine Alternative wahrgenommen werden, muss sie sich wie eine verhalten (und im Zweifel akzeptieren, dass sie nicht von der Mehrheit gewünscht wird). Das Fesseln an Merkel von 2009 und 2013 war jedenfalls offensichtlich ein elektoraler Irrweg, der nun beendet ist. Selbst ein Kartoffelsack fährt unter diesen Umständen als Kanzlerkandidat höhere Werte ein als die Stones.

Das Manöver, mit einem Kandidaten anzutreten der nicht direkt an der GroKo beteiligt war (indirekt natürlich schon, aber erneut, niemand interessiert sich für das Europaparlament), war clever, weil es die SPD in die Lage versetzt, mit ihrem Programm aus der Regierung heraus Oppositionspolitik zu betreiben - ein Luxus, den sie 2009 und 2013 nicht hatten, als die jeweiligen Kandidaten viel zu sehr mit eben dieser Regierung verknüpft waren. Gabriel hätte seinerzeit auf Ministerposten verzichten müssen, um dieselbe Chance zu haben, aber das ist anachronistisches Wunschdenken. Sein Verzicht jedenfalls ist folgerichtig.

Die SPD gewänne allerdings nichts aus dieser Oppositionsrolle, wenn nicht einige strukturelle Faktoren ihr zu Hilfe kommen würden, für die weder Schulz noch sonst ein Stratege irgendetwas kann. Denn zum ersten Mal seit 1998 (!) steht die CDU alleine als Verteidiger der Regierungspolitik ohne Blitzableiter da. Griechenland? Das sind Schäubles und Merkels Krisen, nicht die der SPD. Deren Fingerabdrücke finden sich weder auf Austeritätsmaßnahmen noch Kreditpaketen. Es ist ein Leitmotiv dieses Artikels dass sie selbstverständlich beteiligt waren - aber sich plausibel im Wahlkampf davon absetzen können. Keine Notwendigkeit also, mir das in den Kommentaren zu erklären. Die Flüchtlingskrise? Das ist Merkel, und alleine Merkel. Die AfD? Die ist das Problem der Union, wie die LINKE das Problem der SPD war. Wo früher alle Unzufriedenheit mit dem Status Quo entweder auf SPD oder FDP landete, ist Merkels Strategie dieses Mal mangels Blitzableiter zum Scheitern verurteilt. Die CDU ist so offensichtlich Koch und alle anderen so offensichtlich Kellner, dass sie Erfolge wie Misserfolge erntet. 2017 schadet ihr, was ihr 2014 noch genutzt hat - Stichwort Mindestlohn.

Die CDU ist mit dieser Situation aktuell sichtlich überfordert. Ihr Wahlkampf jedenfalls lädt zum Kopfkratzen ein. So versuchte man auf den Steingart-Zug aufzuspringen und Schulz' mangelnde Formalbildung zu kritisieren, was in einem Umfeld, in dem Kritik am Establishment alles ist, mehr als merkwürdig ist und Schulz' Narrativ als Vertreter des Kleinen Mannes nur in die Hände spielt. Da wäre der Versuch, Schulz' frühere Alkoholabhängigkeit zu thematisieren. Der Mann ist seit, was, 1980 trocken? Der Trick hat nicht mal bei Willy Brandt funktioniert, und das ist 50 Jahre her und der Mann war wirklich Alkoholiker, also aktiv, und ist nach der Pressekonferenz mit Journalistinnen in die Kiste gehüpft! Wenn das in den 1970er Jahren nicht genug war, das moralingesäuerte konservative Blut in Wallung zu bringen, warum sollte das jetzt funktionieren? Dann versucht Jens Spahn uns zu erklären, dass das SPD-Wahlprogramm das Wort Sozialismus - SOZIALISMUS! - benutzt. Es ist 2017! Wähler, die sich noch an den real existierenden Sozialismus erinnern können sind mittlerweile schon durch ihre erste Midlife Crisis. Genauso albern ist der Versuch, Schulz mit "den Kommunisten in Athen" zu verknüpfen. Bisher war es kein Problem, dass Schäuble eng mit diesen, öhm, Kommunisten zusammenarbeitet. Und Schulz, der, erneut, nichts mit der deutschen Griechenlandpolitik am Hut hat, damit zu verknüpfen dürfte schwierig werden.

Die CDU ist in der blöden Situation, dass sie sich nicht selbst von Merkel distanzieren können, sondern ihre Politik als Gesamtpaket verteidigen müssen. Und da können sie noch so sehr auf vergangene Erfolge hinweisen und Statisitiken aufzeigen wie gut es Deutschland geht, gegen die gegenteilige Stimmung kommen sie nicht an. Das hat Clinton in den USA erlebt, das hat die SPD 2009 und 2013 erlebt. Was die CDU jetzt braucht ist eine Krise, in der "es auf den Kanzler ankommt", um einen ebenfalls leicht angestaubten Slogan zu verwenden. In dieser Situation vermeldet Schäubles Ministerium einen Rekordüberschuss. Die Debatte wird daher nur darum gehen, wie dieser Überschuss auszugeben ist. Und Ausgaben ist die Kernkompetenz der SPD.

Dummerweise ist von allem, was die CDU anzubieten hat, Merkel das einzige Produkt, das die Leute tatsächlich kennen ("Sie kennen mich", wir erinnern uns). Was 2013 beinahe zur absoluten Mehrheit gereicht hätte, ist nun ein Klotz am Bein. Weder CDU, noch Grüne, noch SPD, noch FDP haben sich seit 2013 nenneswert bewegt. Aber um sie herum hat sich alles verschoben. Nicht dramatisch, aber genug. Und dieser Wandel hat die CDU geschwächt, und er hat die SPD gestärkt. Da ist keine große Magie dahinter.

Genausowenig übrigens wie in dem Einbruch der Umfragezahlen der SPD, der praktisch sicher in den nächsten Wochen kommen wird. Schulz ist neu, noch immer geben rund 20% in Umfragen an, keine Ahnung zu haben wer er ist, und er ist vor allem eins: nicht Merkel. Beide Effekte werden sich abreiben, wenn er erst einmal eine Weile im Rampenlicht steht. Wenn Wähler merken, dass er in vielen Fragen tatsächlich von Merkel abweicht, aber nicht so, wie sie das gerne hätten.

Mittwoch, 15. Februar 2017

Die helle Seite der frühkindlichen Betreuung

In seinem Artikel "Die dunkle Seite der frühkindlichen Betreuung" fährt Stefan Pietsch eine ganze Batterie rhetorischer Geschütze auf, um ein Bewusstsein für eine apokalyptische Zukunft zu schaffen, in der ein inkompetenter, anmaßender Staat eine ganze Generation in miesen Kindertagesstätten psychologisch zerstört. Er verweist auf die ungeheure Bedeutung der Eltern im Lebensabschnitt von 0-3 Jahren unter Rückgriff auf die Umfrage unter amerikanischen Vorschullehrerinnen, die eine leichte Zunahme von kognitiven und lingualen Leistungen sowie von auffälligen Verhaltensweisen für Kinder diagnostizieren. Garniert mit einem kräftigen Schuss Vorurteilen und konservativer Ideologie kommt er zu dem bestechenden Schluss, dass Babys und Kleinkinder bei Müttern am besten aufgehoben sind und Eltern im Sinne der Eigenverantwortung mehr aktiv werden sollten. Das lädt zu Widerspruch ein, den hier bereitstellen will.

Ich möchte dabei mit den Teilen von Pietschs Argumentation beginnen, denen ich zustimme. Seine Betonung der Selbstverantwortung von Eltern - etwa bei der Kontrolle des Fernsehkonsums und der Freizeitgestaltung generell - stimme ich zu. Der Staat und die Unterhaltungsindustrie (über FSK, USK etc.) stellen eine Menge Jugendschutzmechanismen parat. Diese adäquat in den Alltag zu integrieren ist Aufgabe der Eltern, und den Kindern mit Smartphone und Tablet freie Hand zu geben "weil man halt nichts davon versteht" ist eine Abdankung der Eigenverantwortung.

Pietschs Artikel ist in Teilen grob irreführend. So erweckt er konstant den Eindruck, der Staat stelle den Löwenanteil der Kitas und könne quasi als Monopolist auftreten und die Preise diktieren. Das ist völliger Humbug: 34% aller Kitas sind staatlich (für gewöhnlich unter kommunalen Trägern), 32% in konfessions-christlicher, 34% in sonstiger freier Trägerschaft (etwa private, gewinnorientierte Betreiber). Gezahlt wird überall eine vergleichbare Summe, wobei wie so häufig der Staat wie so häufig im Erziehungswesen die besten Entlohnungsbedingungen bietet (allerdings relativ; die Unterschiede sind nicht groß genug um einen Anpassungsdruck hervorzurufen). Von einer brutalen Übermacht des Staates kann also keine Rede sein, andernfalls wäre die NRW-Landesregierung auch kaum krachend damit gescheitert, die konfessionellen Kitas zu einer Aufnahme von Kindern unabhängig von deren Konfession zu zwingen. Dass über die Kirchensteuer und die Subventionierung dieser Einrichtungen eine Verschränkung existiert, tut der grundsätzlichen Trennung keinen Abbruch.

Auch sonst kommt Pietschs ideologische Abwehr allen Staatlichen seiner Argumentation in die Quere. So geht es dem Staat nicht "nur" um Quantität. Diese war mit Verabschiedung der Kita-Platz-Garantie sicherlich eine treibende Sorge, und Episoden wie die Umwidmung ehemaliger Schlecker-Jobs und Mitarbeiter in Kitas und Erzieher sind sicherlich keine Glanzstunden der Bildungspolitik. Auf der anderen Seite steht aber ein konstanter Verbesserungsdruck. Fortbildungen für Seiteneinsteiger stehen durchaus hohen Anforderungen für Berufsanfänger gegenüber. Die ordentliche Ausbildung (die übrigens vor allem im staatlichen Bereich verlangt und durchgesetzt wird und gerade im privaten Bereich deutlich laxer betrachtet wird) erfordert die Mittlere Reife und dauert drei Jahre, mitsamt massenhaft theoretischer Unterfütterung und Abschlussarbeit in Ergänzung zur praktischen Ausbildung. Einfach mal eben die arbeitslose Mittfünzigerin von Nebenan einzustellen geht eben gerade nicht, wenigstens nicht in den kommunalen Einrichtungen.

Es lohnt sich, an dieser Stelle länger zu verweilen, weil das allgemein hohe Qualifikationsniveau der Mitarbeiter eine Reihe von positiven Auswirkungen hat, die Pietsch dem System entweder abspricht oder aber schlicht verschweigt. Was in der konservativen Sozialromantik von der natürlichen Mutterbindung und der elterlichen Bande vollkommen untergeht ist, dass die Befruchtung einer Eizelle nicht automatisch den aktuellen Stand frühkindlicher Forschung im Gehirn der Eltern verankert. Man lehnt sich wohl nicht zuweit aus dem Fenster wenn man unterstellt, dass die wenigsten Eltern sich einen einer ordentlich ausgebildeten Fachkraft entsprechenden Informationsstand zum Thema anlesen werden (dem dann ohnehin die professionelle Einordnung fehlen würde). Die Idee jedenfalls, dass die Mütter natürlicherweise immer wissen, was für das Kind das Beste ist, ist Unfug. Eltern, die nicht an Hybris leiden, wissen, wie oft sie falsche Entscheidungen treffen - ob aus Unwissenheit, Bequemlichkeit oder Überforderung ist dafür einerlei.

Diese Illusion, deren alleiniger Anhänger und Prophet Pietsch sicherlich nicht ist, drängt sich in Artikeln wie seinem oder aus der FAZ aus zweierlei Gründen immer als objektive Wahrheit auf: einerseits entbindet sie das männliche Geschlecht von jeder Verantwortung (ist es doch die Mutter, zu der eine ach so natürliche Bindung besteht), und zum anderen profitiert die Illusion von der manichäischen Gegenüberstellung zu "dem Staat", den wir uns immer als gesichtslos-kalten und inkompetenten Bürokraten vorstellen. Wir schicken unsere Kinder aber zu Profis, die nach dem aktuellen Stand der Forschung für den Job ausgebildet sind. Das sind wir Eltern nicht. Und die ideologische Überhöhung der elterlichen Liebe, man muss dies noch einmal explizit betonen, schafft kein Fachwissen der frühkindlichen Bildung. Dies ist kein Plädoyer für eine Dauerbetreuung der Kinder an sieben Tagen der Woche und 14 Stunden am Tag, auch das ist eine falsche Dichothomie.

Pietsch geht über das Argument, dass die Kinder dort mit Gleichaltrigen umzugehen lernen, nonchalant mit dem Hinweis hinweg, dass dafür die Geschwister völlig ausreichen. Sofern nicht mehrere Mehrlingsgeburten im Jahresabstand stattfanden ist das unwahrscheinlich. In der Kita lernen die Kinder den Umgang mit Gruppen von Gleichaltrigen - eine ungeheuer wertvolle Fähigkeit, die sie zuhause überhaupt nicht lernen KÖNNEN, weil es aus biologischen Gründen keine Gruppen gleichaltriger Kinder geben kann. Das Lösen von Konflikten innerhalb solcher Gruppen (statt der Behauptung gegen ältere oder das Tolerieren von jüngeren Geschwistern) können die Kinder überhaupt nur in der Kita lernen. Dort haben sie auch Betreuungspersonal an der Hand, das im Umgang mit Gruppen solcher Kinder geschult ist. Denn selbst bei perfekten Eltern, die mit der Muttermilch auch gleich die entsprechenden Fähigkeiten im Umgang mit dem Kind herausgebildet haben, gibt es spätestens hier keine Kenntnisse mehr. Diese Fähigkeiten aber sind elementar.

Auch ansonsten leisten Kitas etwas, das Eltern ohne die entsprechende Ausbildung gar nicht können: den Kindern strukturiert etwas beibringen, nicht nur nebenbei. Der Staat gibt genauso wie für die Schulen den Kindergärten Bildungspläne vor, also Ziele, die die Kinder erreichen sollten. Das Erreichen dieser Ziele wird mehrfach evaluiert (etwa durch Besuche auswärtiger Kinderpsychologen vom Jugendamt). Zielgerichtetes Kompetenztraining von Kleinkindern kann ich als Elternteil aber gar nicht leisten, weil ich, erneut, dafür nicht ausgebildet bin. Dafür braucht es Profis.

Nun kann man dem natürlich entgegnen, dass man das alles gar nicht braucht. Früher hat es schließlich auch gereicht, die Kids erst mit 3 Jahren oder noch später in den Kindergarten zu bringen, wo sie dann ein bisschen spielen durften und zum Mittagessen von Mami abgeholt wurden (natürlich Mami, Papa muss ja Leitartikel über die Gefahren der frühkindlichen Betreuung schreiben). Die so gewonnene Zeit stecken die selbstsüchtigen Mütter dann in die Selbstverwirklichung in der Hausarbeit, aber das ist halt die moderne Verwahrlosung.

Man verzeihe mir den etwas ätzenden Tonfall hier, aber dieses konservative Romantik-Blimblim von der Mutter, die sich mit einem Lächeln im Gesicht den ganzen Tag um ihre Kinder kümmert kann nur von denen entworfen werden, die nie dabei sind. Kinder sind stressig, Hausarbeit macht sich nicht von allein und liegt in dem Szenario immer auch bei Mama, und viel anderes Zeug fällt nebenbei ja auch an. Und nur, weil die Kinder den ganzen Tag daheim sind, sind sie deswegen nicht rundum liebevoll dauerbetreut. Woher sonst würden die Schreckensszenarien unserer Leitartikler kommen, die die verwahrlosten Kinder der Hartz-IV-Alleinerzieherinnen vor dem Fernseher degenerieren sehen? Die Zahl der Alleinerziehenden, Stefan Pietsch hat darauf hingewiesen, hat sich mehr als verdoppelt. Er sieht darin einen Moralverfall, weil die Leute sich nicht mehr zusammenreißen. Vielleicht liegt es auch daran, dass weniger Männer ihre ökonomische und gesellschaftliche Machtstellung verwenden können, um Frauen in unglücklichen Beziehungen zu halten?

Denn bei allem Gerede von Moral und Eigenverantwortung, durch das Betonen der "Natürlichkeit" der Mutter-Kind-Beziehung bleibt diese Verantwortung ja doch bei der Mutter hängen. Damned if you do, damned if you don't: geht die Mutter arbeiten, ist sie eine Rabenmama, die den Nachwuchs in die Kita abschiebt, geht sie nicht arbeiten, ist sie ein Sozialschmarotzer und liegt nur der Gemeinschaft der produktiven Steuerzahler auf der Tasche. Natürlich wäre es schön, wenn wir als Gesellschaft die Verantwortung gleicher verteilen, aber mit einem reinen Appell an die Eigenverantwortung derer, die sich aus dem Geschäft herausziehen, geht das nicht. Da ist es auch geradezu naiv, wenn Pietsch in seinem Artikel betont, dass bei Krankheit der Kinder den Eltern ja gesetzliche Ausfalltage zustehen. Ohja, das tun sie. Und Arbeitgeber und Kollegen sind auch immer total verständnisvoll, wenn sich dieses Problem auftut. Das war ironisch, falls das nicht klar wurde.

Natürlich gibt es immer eine Rückfallposition: Kinder zu bekommen ist eine persönliche Entscheidung, und wer sie getroffen hat, soll gefälligst auch damit leben. Ok, das ist fair. Gleichzeitig haben die gleichen Leute aber auch selten ein Problem damit, die geringen Geburtenzahlen in Deutschland zu beklagen und Frauen, die bis 30 nicht schon 2,4-mal geworfen haben, egoistischen Karrierismus vorzuwerfen. Schließlich ist es ja schon verachtenswert zu warten, "bis die biologische Uhr fast abgelaufen ist". Wie so oft wollen die Konservativen den Kuchen gleichzeitig essen und behalten. Bekommen Frauen keine Kinder, sondern arbeiten stattdessen, sind sie böse. Bekommen sie Kinder und arbeiten nicht, sind sie böse, weil sie auf das Ehegattensplitting angewiesen sind und bei Scheidung Alleinerziehende werden und Ansprüche stellen. Machen sie beides, sind sie Rabenmütter. Damned if you, damned if you don't.

"Aber was ist mit dem Kindeswohl?" mögen nun manche fragen. Schließlich haben wir Artikel aus der FAZ und Zeit, die mit zahllosen Anekdoten den Mangel an einer empirischen Basis auszugleichen versuchen. Und dann gibt es da noch die von Pietsch verlinkte Studie, deren erste zwei Zeilen (!) darauf hinweisen dass sie von 2006 ist sie "nur noch historisch interessant" und mittlerweile völlig veraltet ist. Ich habe zwei große Kritikpunkte an der Argumentation, denen ich jedoch eine Zustimmung vorschieben möchte.

Denn selbstverständlich ist es schlecht, wenn Kinder total gestresst bei mangelhaft qualifizierten Betreuern abgegeben werden, die in einem nicht hinreichenden Betreuungsschlüssel arbeiten und keine adäquate Unterstützung erfahren. Und wenn die Kommunen eine Kita in einem alten Schlecker-Verkaufsraum einrichten, ein paar Bücher und gespendete Spielzeuge hineinwerfen und die Schaufenster mit Milchglasfolie leidlich blickdicht machen und dann Erzieherinnen hineinschicken, die einen Sechs-Wochen-Crashkurs hatten, dann ist das natürlich nicht im Sinne des Erfinders.

Aber, Newsflash, wenn man etwas ohne richtige Ausbildung und mit unzureichenden Mitteln macht kommt selten etwas Vernünftiges heraus, ob im öffentlichen oder privaten Bereich. Und die Verbesserungen der letzten zehn Jahre sind gewaltig, und sie werden weiterhin erzielt. Die Garantie machte eine schnelle Expansion nötig, bei der viel beschissen wurde und sicher auch viel Mist passiert ist. Aber seither steigt die Qualität kontinuierlich. Natürlich nicht in dem Tempo wie das wünschenswert wäre, aber das ist nun wahrlich nichts, was sich nicht durch Geld lösen ließe, auch wenn der Konservative nun mit Gänsehaut erschaudert.

Der zweite Kritikpunkt ist die immer noch dünne empirische Lage. Ja, es gibt Studien, die Belege für die These bringen, dass Kinder, die in jungen Jahren in großem Umfang betreut wurden, eine leicht erhöhte Affinität zu Verhaltensstörungen haben. Gleichzeitig weisen dieselben Studien auch höhere kognitive und linguale Kenntnisse nach. Wie viel davon ein statistisches Artefakt ist, das - angesichts des Alter der Studien - durch die sprunghafte Steigerung der Kindesbetreuung entstanden ist, bleibt unklar. Selbst wenn wir annehmen, dass dieser Effekt sich konsistent nachweisen lässt (bereits eine höchst fragwürdige Prämisse), so scheinen mir die Ergebnisse doch eher im Rahmen dessen zu liegen, was Studien zu den Rechtschreibkenntnissen von Grundschülern herausgefunden haben: leichte Verschiebungen durch Vorteile im einen und Nachteile im anderen Bereich. Das wirkt fast so, als ob es keine perfekte Lösung gäbe, die nur Vorteile hätte. Es sei noch einmal auf die Ironie des vorangegangenen Satzes hingewiesen.

Dazu kommt, dass die dramatischsten Beispiele ohnehin selten sind: Kinder unter einem Jahr befinden sich nur in 1,6% (Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz) bis 7,6% der Fälle (Sachsen-Anhalt) in Betreuung (Zahlen für alle Formen, nicht nur Ganztag); der bundesdeutsche Durchschnitt liegt bei 2,5%. Der Untergang des Abendlands muss also wohl ausfallen; die große Mehrzahl der Kinder geht weiterhin erst mit mindestens einem Jahr in Betreuung. Hier schnellen die Zahlen dann auf zwei Drittel (1-2 Jahre) beziehungsweise vier Fünftel (2-3 Jahre) an. Aber wie bereits oben beschrieben hat das durchaus positive Effekte.

Was also ist das Fazit? Für mich läuft es letztlich auf eine Reihe banaler Erkenntnisse heraus. Wenn der Staat seine Aufgaben nicht richtig erfüllt, weil er seine Angestellten nicht richtig ausbildet und seine Institutionen nicht richtig finanziert, kommt nichts Vernünftiges dabei raus. Wenn er das tut, sind die Ergebnisse ordentlich. Wenn Eltern ihre Aufgaben erfüllen und ihre Verantwortung wahrnehmen, dann können Kinder auch werktags zehn Stunden betreut werden und erfahren trotzdem Elternbindung und Elternliebe. Wenn Eltern ihre Aufgaben nicht erfüllen, macht es für das Kind wenig Unterschied ob es zuhause oder in der Kita verwahrlost.

Die ganze Diskussion läuft auf einem grundsätzlichen Level um Moral und Konsequenzen, die sie nicht verdient. Unsere Lebensmodelle haben sich gewandelt. Der Doppelverdiener-Haushalt ist Standard. Das ist politisch seit drei Jahrzehnten gewollt und wurde auch von den Konservativen massiv befeuert. In diesen dreißig Jahren hat man sich ewig hinter der Idee versteckt, dass Großeltern einspringen oder die Frau die Doppelbelastung stemmen könnte. Als diese Lebenslüge platzte, weil in den letzten zehn Jahren eben dieser gesellschaftliche Wandel massiv eintrat, musste schnell gehandelt werden. Was wir aktuell erleben ist die Pubertät eines neuen Systems, mit all den Haklern, Problemen und Wachstumsschmerzen. In zehn Jahren wird das alles normal sein, und man wird mit dem gleichen Befremden auf diese Diskussion blicken, mit der man heute auf die Kulturkämpfe lang vergangener Dekaden zurückblickt.

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Einige Statistiken: http://www.kindergartenpaedagogik.de/1650.html