Zu der Folklore um Bill Clintons Wahlkampf und schlussendlichen Sieg bei den Präsidentschaftswahlen 1992, in denen er das Konzept der "Triangulation" berühmt machte und damit vor Blair und Schröder die Ära des "Dritten Wegs" in den sozialdemokratischen Parteien einleitete, gehört die Geschichte von seinem Wahlkampfmanager Jim Carville, der den Spruch "[It's] the economy, stupid" prägte. Damit verbunden war die Idee, dass die wirtschaftliche Lage einerseits und wirtschaftliche Themen andererseits zentral für den Wahlsieg sein würden: die moderate Mitte, auf der Clinton aufbaute, sei nur so zu gewinnen. Zwei siegreiche Präsidentschaftskandidaturen ebenso wie die seine Lehren nachahmende Obama-Wahlkämpfe (Carvilles andere zwei Mottos waren "change vs. more of the same" und "don't forget healthcare"; man sieht leicht, wie das zu Obama passt), sprechen eine eindeutige Sprache. Aber inzwischen ist dieses Motto nicht mehr sonderlich tragfähig. Was einst eine eherne Regel des Wahlkämpfens schien, ist mittlerweile in der Bedeutung deutlich abgesunken. Woran liegt das? Und was ist nun "the [X], stupid?"
Natürlich möchte ich nicht behaupten, dass die wirtschaftliche Lage und Wirtschaftspolitik komplett irrelevant wären. Ein Dauerthema Trumps etwa sind die hohen Zölle, mit denen er ein neoprotektionistisches Handelsregime errichten will und von denen er sich ungeahnte Wachstumsimpulse für die US-Wirtschaft erhofft (eine irrsinnige Idee, die auch viel zu wenig ernsthaft als Szenario diskutiert wird). Kamala Harris ihrerseits konterte mit einer Forderung nach neuen Regelungen gegen Wucher, vor allem bei Lebensmitteln, und hatte wenig Probleme damit, dass das allgemein als eine Forderung für mehr Preiskontrollen missverstanden wurde.
Das allerdings ist nicht dasselbe wie die Wirtschaft und die entsprechende Lage ins Zentrum zu stellen. Einerseits sind die Forderungen wenig ernsthaft, sie sind von einer Aura des Fantastischen umgeben. Dazu gleich mehr. Vor allem aber spielt die eigentliche wirtschaftliche Lage keine Rolle mehr. Seit Ronald Reagan seinen Slam Dunk in der TV-Debatte mit Jimmy Carter verwandelte und das Publikum direkt frage: "Ask yourselves, are you better off today than you were four years ago?" ist diese Fragestellung mindestens genauso sehr zur Folklore geworden wie "It's the economy, stupid."
Die völlige Loslösung von der Realität sieht man sehr gut daran, dass Donald Trump und sein Wahlkampfteam diese Frage nicht nur stellen, sondern die Antwort auch gleich mitliefern (Rhetorische Fragen sind für die MAGA-Crowd wohl als Stilmittel zu subtil). Hört man Trump zu, befinden sich die USA in einer geradezu apokalyptischen Höllenwelt, in der massive Arbeitslosigkeit grassiert, die Löhne schrumpfen, Industrien abwandern und nichts mehr produziert wird. In der Erzählung von MAGA stellt die Biden-Präsidentschaft einen nie dagewesenen Tiefpunkt amerikanischer Wirtschaftsleistung dar.
Nichts davon entspricht der Realität. Kevin Drum hat dazu eine ganze Mini-Artikelserie geschrieben, in der er die aktuelle Lage statistisch nachzeichnet. Poverty is historically low. Selten waren so wenige Menschen in den USA von akuter Armut bedroht wie jetzt. Die Biden-Regierung hat hier wahre Wunder gewirkt. Consumption growth is historically high. Die Amerikaner*innen konsumieren, als ob es kein Morgen gäbe; ein massiver Treiber des aktuell hohen Wirtschaftswachstums. Speaking of which: GDP growth is historically high. Während die Republicans völlig surreale Versprechungen künftigen Wirtschaftswachstums machten (erinnert sich noch jemand an Jeb Bushs Versprechen von mindestens 4% jährlichem Wirtschaftswachstum?), lieferte die Biden-Regierung. Unemployment is historically low. Natürlich gelten hier alle üblichen Caveats, dass das nichts über die Qualität der Beschäftigung aussagt, aber angesichts der schlechten Absicherung in den USA und der Bedeutung der Arbeitslosenrate - und den gegenteiligen Behauptungen von MAGA - ist das sicherlich positiv. Raw data: Income inequality in the US. Selbst die riesigen Einkommensunterschiede haben sich unter Biden etwas nivelliert, vor allem, indem das untere Segment angehoben wurde, mithin also die beste Art der Nivellierung solcher Unterschiede. Oil production is historically high. Man kann angesichts der Klimakrise darüber streiten, wie positiv das ist, aber die Behauptungen des MAGA-Lagers von einer drohenden Energiekrise haben keinerlei Basis in der Realität.
Dieser fehlende Realitätsbezug ist ein Merkmal der Trump-Ära. Begonnen hat die Verabschiedung der Republicans in Fantasiewelten bereits früher, aber mittlerweile ist ein komplettes Nachrichten-Ökosystem ebenfalls von den realen Bedingungen entkoppelt. FOX News, die größte Blasengenerator, hat mit offenen Lügen überhaupt kein Problem, aber selbst ein Blatt wie das Wall Street Journal (quasi die Hauspostille der GOP) hat beeindruckende Fähigkeiten darin, die wirtschaftliche Lage anders zu zeichnen, als sie in Wirklichkeit ist.
Das führt zu einer schiefen Wahrnehmung. Diese ist übrigens auch kein rein amerikanisches Problem; in Deutschland haben wir dieselben Dynamiken (Jonas Schaible hat das jüngst schön herausgestellt). Viele Menschen sind der Überzeugung, dass es ihnen selbst zwar gut gehe, anderen Menschen aber nicht. Die Wahrnehmung der eigenen wirtschaftlichen Situation, zu Clintons Zeiten noch ein Wahlindikator par excellence, und die Wahrnehmung der gesamtwirtschaftlichen Situation fallen massiv auseinander. Dadurch entsteht auch ein permanentes Bedrohungsgefühl: obwohl die wirtschaftliche Lage gut ist, scheint man selbst ständig bedroht zu sein, als ob eine tiefe Rezession herrschte.
Dieses Auseinanderfallen von Eigenwahrnehmung und Fremdwahrnehmung ist eine zentrale Ursache für die Polarisierung und sorgt auch dafür, dass es immer weniger Wechselwählende gibt. Wenn es der anderen Seite völlig unmöglich ist, ihre eigenen Erfolge begreiflich zu machen, kann es auch keinen Grund geben, der eigenen jemals die Gefolgschaft zu verwehren. Die Asymmetrie bezüglich dieser Dynamik ist übrigens ebenfalls offenkundig: Die Meinung von Republicans, ob es "der Wirtschaft" gut gehe oder nicht, lässt sich direkt an den Wahlergebnissen ablesen. Rund 40% wechseln mit dem Antritt einer anderen Regierung ihre Meinung, von einem Tag auf den anderen. Das ist schon auf faktischer Lage absurd; die wirtschaftliche Lage kann sich niemals innerhalb von einem Tag zum Besseren wenden. Dieses Phänomen findet sich auf Seiten der Democrats so gut wie gar nicht; hier sind diese Wechselraten im einstelligen Bereich (wenngleich der Trend in eine ungute Richtung geht). Auch in Deutschland stellt sich ein ähnliches Bild dar; die beschriebe Dynamik gilt vor allem für AfD- oder BSW-Wählende, während das Realitätsbild von Wähler*innen der demokratischen Parteien wesentlich objektiver ist.
Entsprechend kann die Wirtschaft auch nicht mehr das beherrschende Wahlkampfthema sein. Wo Realitäten beharrlich ausgeblendet werden, ist es unmöglich, Überzeugungsarbeit zu leisten. Damit stellt sich die Frage, welches Motto Jim Carville heute wohl auf ein Schild schreiben würde. Welcher Begriff kommt in die Klammern?
It's the culture war, stupid.
Letzten Endes konzentriert sich der Wahlkampf wenigstens der Republicans praktisch ausschließlich auf Kulturkampfthemen. Das passt auch zu dem apokalyptischen Ton. Ob die amerikanischen Haustiere gerade durch die Essgewohnheiten haitanischer Einwander*innen in Leib und Leben gefährdet sind, sich angeblich riesige Karawanen fremdgesteuerter Flüchtlingstrecks aus Mittelamerika in Richtung Grenze in Bewegung setzen, ob die Democrats geheime Pornoringe unterhalten oder ob sie einfach nur Amerika hassen und es in den Abgrund stürzen wollen, indem sie die Kinder schwul machen und die Bevölkerung durch Menschen mit anderer Hautfarbe ersetzen wollen - das ständige Karussell der Verschwörungstheorien, Lügen und Hetze befeuert den Kreislauf stets aufs Neue.
Das bedeutet nicht, dass der Kulturkampf völlig einseitig geführt wird. Es ist beeindruckend, wie sehr Biden sich aus den Themen herausgehalten und die Message auf ökonomischen und außenpolitischen Bereichen hielt. Nur besteht die Partei nicht allein aus ihm, und gerade die aktivistische Basis der Democrats verkämpft sich gerne in radikalen Abtreibungsregeln, endlosen Rassismusdebatten oder in jüngster Zeit einem abstoßenden Palästina-Diskurs. Der Unterschied liegt einerseits in der Schärfe der Auseinandersetzung - der apokalyptisch-kompromisslose Ton und die Vernichtungsabsicht fehlen weitgehend, andererseits aber in den Akteuren selbst: die Funktionäre der demokratischen Partei, ihre medialen Surrogate und die Abgeordneten stehen weitgehend abseits vom Spektakel. Sie sind wesentlich mehr in der Realität verankert als ihre Kontrahenten.
Was also bedeutet das? Der Kulturkampf als dominierende Dynamik sollte nicht unterschätzt werden. Gleichwohl hat er sein Mobilisierungspotenzial erreicht. Die gute Nachricht ist, dass es auf beiden Seiten deutlich unter den 50% liegt. Die linken Kulturkampfthemen genießen sogar signifikant weniger Zustimmung als die rechten, was den Aktivist*innen leider selten zur Mahnung gereicht. Der Rest des Wählendenpotenzials allerdings muss anderswoher kommen. Und an der Stelle steht das große Fragezeichen. Jim Carvilles dritte Regel ("Don't forget healthcare") ist zumindest für die Republicans eher ins Gegenteil verkehrt: je weniger darüber gesprochen wird, desto besser, sind doch alle Positionen, die die Partei hier hat, unpopulärer als die Anliegen der Trans-Aktivist*innen bei den Democrats (und das will etwas heißen). Das bedeutet allerdings umgekehrt nicht, dass die Democrats damit punkten könnten, irgendwie Gesundheitspolitik zu erwähnen. Das Feld ist eines, auf dem politische Punkte kaum zu holen sind, vergleichbar wohl nur mit Sicherheits- und Bildungspolitik in Deutschland: vieles liegt im Argen, aber die heiße Kartoffel anzufassen heißt immer, sich zu verbrennen.
Bleibt Nummer 1 aus Carvilles Botschaften an Clinton, eine Message, die stets aktuell bleiben wird: "change vs. more of the same". Nur hat Harris das Problem, dass sie "more of the same" ist; wer Disruption wünscht, wird in Trump die bessere Wahl haben. Umgekehrt hat Joe Bidens Wahlkampf, als er noch Kandidat war, bewiesen, dass das Warnen vor den Gefahren einer Trump-Präsidentschaft auch so seine Schwächen hat. Harris muss daher in ihrem Wahlkampf den schmalen Grat wandern, den Leuten in Erinnerung zu rufen, dass sie Trump und seine Amtszeit schon ganz schön ätzend fanden und dabei irgendwie so wirken, als wäre sie die Neuigkeit. Immerhin hat sie den Vorteil, dass sie kaum als Vizepräsidentin wahrgenommen wird; die Umstände von Bidens Abtritt und ihrer Aufstellung haben dafür gesorgt, dass sie den Ruch eines Außenseiters hat. Ob das reichen wird, steht in den Sternen.
So oder so bleibt die zentrale Dynamik des Wahlkampfs die eines permanenten Kulturkampfs, in dem keine Triangulation betrieben wird. Trump kann nicht darauf hoffen, irgendwelche Menschen zu überzeugen; er kann nur darauf hoffen, sein Potenzial auszumobilisieren und das von Harris von der Wahlurne fernzuhalten. Auch Harris wird kaum moderate Wechselwählende in großer Zahl auf ihre Seite ziehen, schon allein, weil es diese nicht gibt. Der Dauerkulturkampf hat dafür gesorgt, dass ein Großteil der amerikanischen Wählenden eine Meinung zu den beiden Parteien und Kandidierenden hat. Relevant ist, wer mehr von diesen Leuten an die Urnen bringen kann.
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