Dienstag, 29. Oktober 2024

Rezension - Failure to launch: A tour of ill-fated futures

 

Failure to launch: A tour of ill-fated futures

Prognosen sind bekanntlich schwierig, vor allem, wenn sie die Zukunft betreffen. Wenn irgendjemand eine Prognose macht, die besonders zutreffend ist, wird diese Person gerne gefeiert und als visionäres Genie dargestellt; wenn jemand eine Prognose macht, die besonders augenfällig nicht eintrifft (man denke an diverse Lobeshymnen auf Nokias unangreifbare Stellung 2007), kann diese Person mit ewigem Spott rechnen. Dabei ist die nicht eingetroffene Zukunft eigentlich ein faszinierendes Feld, das uns viel über uns als Menschen und als Gesellschaft verrät. Gerade die Geschichte des Kapitalismus ist voll von gescheiterten Projekten, und auch auf dem politischen Feld hat sich manche Vision in sehr schmerzhafter Weise in Rauch aufgelöst. Das Team um Kel McDonald hat sich der gescheiterten Zukünfte angenommen und eine ganze Reihe von Comic-Autor*innen rekrutiert, die in einigen Seiten im Stil einer Comic-Kurzgeschichte jeweils eine nicht zupass gekommene Zukunft in ihrem jeweils eigenen Stil und ihrer eigenen Sicht vorstellen.

Disclaimer: Ich habe das Projekt über das Crowdfunding unterstützt und bin deswegen vielleicht ein wenig positiver eingenommen.

Manche Zukünfte stammen aus der Vergangenheit.

So ist "The Paradise in Reach of All Men" die fixe Idee John Etzlers, 1846 eine Kolonie in Venezuela zu gründen, wo sein mechanisches Landwirtschaftsgerät dafür sorge, dass man quasi nicht arbeiten müsse. Man kann sich vorstellen, wie diese Geschichte ausging. Etzler war ein großartiger Verkäufer, aber nicht einmal seine Prototypen funktionierten. Sein Partner John Roebling, mit dem er sich zerstritt, konstruierte dagegen die Brooklyn Bridge. Keine Zukunftsvision, aber solide Ingenieursarbeit.

Eine Heilserwartung der anderen Art erleben wir in "To Be Believed to Be Seen", wo eine skandinavische Gemeinde vergeblich auf die Ankunft der Arche wartet, die sie alle ins Paradies bringt. Die Schilderung des Bruchs in einer Familie über deren Briefe, in der der Fanatismus einer Anhängerin sie von ihrer Familie entzweit, ist herzzereißend.

Der Versuch, ein "Indestructible Bicycle" zu bauen, war zwar erfolgreich, aber - wenig überraschend - nicht markttauglich. Wie soll die Wirtschaft schließlich laufen, wenn man nur ein Fahrrad braucht? Und wie sollen Kund*innen damit zufrieden sein, eine Version des immer gleichen Rads zu fahren?

Bereits in den 1930er Jahren gab es Experimente mit Windkraft, die seinerzeit noch als dezentralisierte Windräder Marke Eigenbau die Farmen mit Strom versorgten. "The Unfinished Wind Power Revolution" wurde durch den Anschluss der ländlichen Gebiete an riesige Kraftwerke unnötig, aber heute geht es langsam wieder in diese Richtung zurück.

Eine andere Heilserwartung wird in "Zigurats" geschildert, in der der brasilianische "Psychic" Urandir die Vision einer magischen Stadt aufwarf, in die man sich einkaufen konnte, um dann dort als Teil seines Kults der menschlichen Vollendung entgegenzusehen. Bis heute fallen Menschen auf dieses Angebot herein.

In "Magic City, All on Fire" beobachten wir den Aufstieg und Fall der Vision William H. Reynolds', einen riesigen vollelektrischen Vergnügungspark zu bauen. Durch die Augen von Maxim Gorky und den betrogenen (schwarzen!) Erfinder Granville T. Woods erleben wir, was um die Jahrhundertwende visionär war - und wie es in Flammen aufging.

"Dead-Eyed" dagegen verfolgt die makabre "Wissenschaft" der Optografie, die Idee, dass auf den Augen von Toten wie bei einem Foto das letzte gespeichert sei, was sie sahen.

Eine Überwachung der anderen Art schildert "The Panopticon", das berühmte Konzept eines Gefängnisses, das auch auf anderen Gebieten Anwendung fand und für eine Weile sehr populär war - ehe wir es heute, so der Autor, quasi digitale im Alltag rekonstruieren.

In "How It Will Look" folgen wir der Geschichte der Weltaustellungen, die aber vor allem dazu dienen aufzuzeigen, wie die Zukunftspläne von großen Unternehmen gekapert wurden und wie Nationalismus und Rassismus ihr Haupt erhoben und zusammen mit dem Großkapital die Zukunft gestalteten, indem sie Entscheidungen trafen, an deren Pfadabhängigkeiten - etwa beim Bau der Freeways - wir bis heute knabbern.

Der Unterschied von Sein und Schein spielt auch in "The Digesting Duck" eine entscheidende Rolle, in der die Idee einer mechanischen Ente, die 1738 echtes Futter fressen und ausscheiden kann, eine kleine Sensation darstellte. Wie beim mechanischen Schachspieler war das natürlich nur Lug und Trug, stimulierte aber manche Vorstellungskraft.

Ob "The Rain-Making Machine" des argentinischen Erfinders Juan Baigorri Velar tatsächlich jemals funktionierte, lässt die gleichnamige Geschichte offen. Der Verstand sagt natürlich "Nein", aber die Umstände der Erfindung und Velars Leben sind so kurios, dass die Möglichkeit spannend offen bleibt.

Wesentlich eindeutiger ging der in "Milking It" geschilderte Versuch im 19. Jahrhundert aus, mit Tierblut oder Milch(!)transfusionen Menschenleben zu retten. Wie viele Versuche diese selbsternannten Mediziner durchführten und dabei Patient*innen umbrachten, geht auf keine Hutschnur. Natürlich sahen sie bis zum Schluss nicht ein, dass ihre Ideen falsch waren; es musste die Wirklichkeit sein, die sich verweigerte.

Faszinierend dagegen ist die Geschichte der "Pneumatic Tube", die Arbeiter 1912 fanden, als sie die U-Bahn New Yorks aushoben. Sie fanden eine im 19. Jahrhundert gebaute U-Bahn nach dem Prinzip einer Röhrenpost, die vor allem an der Finanzierung scheiterte und vergessen wurde - bis dann dieselbe Idee ein paar Jahrzehnte später wieder aufgegriffen wurde.

Anders als Marconi sich das vorgestellt hatte, sorgte die Erfindung der Telegrafie und damit sofortiger Kommunikation nicht für Weltfrieden. In "Rats! Rats! Rats!" bekommen wir immerhin einen unterhaltsamen Erfinderstreit mit klarem Sieger geschildert, in dem der Kriminelle der Verlierer ist.

Eine kuriose ausgebliebene Revolution ist der Versuch, "One Man's Beast, Another Man's Bacon" zu transformieren: die Idee aus den 1930er Jahren, Nilpferde in Florida heimisch zu machen und als Fleischlieferanten zu kultivieren, wäre schon daran gescheitert, dass Nilpferde unglaublich gefährlich sind und zerstörerisch für die Flora und Fauna gewirkt hätten. Nicht, dass das jemals jemanden aufgehalten hätte.

Nicht minder kurios ist die in "The Pasilalainic Sympathetic Compass" geschilderte Idee, mit Schnecken Nachrichten rund um die Welt zu verschicken. Gleiches gilt für die Idee, Geburten mit einer Zentrifuge und einem Fangnetz zu erleichtern ("Birth by Blonsky"), die sich wenig überraschend auch nicht durchsetzte.

Als letzte alte Idee ist "The First Union" anzusehen. Zwar haben sich Gewerkschaften durchgesetzt, die Ludditen aber - deren Geschichte hier gegenüber der populären Version deutlich anders dargestellt und geradezu revisionistisch als Heldenerzählung aufgebaut wird - verloren ihren Kampf bekanntlich, und Ned Ludd konnte sich als Symbol trotz seiner Popularität auch nicht halten und ersetzte Robin Hood nicht.

Andere Träume könnten immer noch Wirklichkeit werden.

Zwar ist die ISS nicht annähernd so großartig wie die seit dem früheren 20. Jahrhundert ersonnene Idee der "Bagels in Space", also kreisförmiger, ihre eigene Schwerkraft erzeugender Raumstationen, in denen Menschen permanent leben, aber möglich wäre es wenigstens theoretisch, wenn wir die Ressourcen dafür herausblasen wöllten.

Star Trek mag noch weiter in der Zukunft liegen, aber die Frage "When do We Get Our Star Trek Future?" beschäftigt die Menschen, seit die Serie in den 1960er Jahren lief. Die Utopie einer klassenlosen Gesellschaft ohne materielle Sorgen ist attraktiv, aber die Moral dieser Geschichte ist: wir müssen unsere Zukunft selbst gestalten.

In "Little Islands" folgen wir einer Firma, in der die Angestellten große Ideen wie Raumstationen an den Lagrangepunkten zum Aufräumen der Erde verfolgen - und kritisieren. Das Wechselspiel von Utopie und Kritik ist ein gedanklich attraktives.

Mit ebenso realen wie banalen nicht eingetretenen Zukünften beschäftigt sich eine Reihe von Geschichten.

Der nicht eingetroffene Ernstfall des Y2K-Bugs beschäftigt gleich zwei Geschichten, "What Happens at Midnight" und "The World Turns". Letztere befasst sich dabei vor allem mit der Metaebene von Untergangsnarrativen; ein Kind wird durch die Vorhersagen seiner Eltern zu Y2K so geprägt, dass es praktisch jede Untergangstheorie glaubt und ein zutiefst neurotischer Erwachsener wird.

Dasselbe Thema wird in "Ninit'i, or The End" von einem religiösen Blickwinkel her aufgegriffen, in dem wie bereits "To Be Believed to be Seen" der katastrophale Fanatismus religiöser Eiferer und die Auswirkungen auf ihre Familien anhand einer Community gezeigt wird, die (natürlich vergeblich) auf den Tag des Jüngsten Gerichts und ihre Erlösung wartet und dabei Leben zerstört.

Anhand der "Second Extinction of the Pyrenean Ibex" erleben wir das Scheitern des Versuchs, ein ausgestorbenes Tier wiederzubeleben. Für eine kurze Zeit schien es, als könnte man damit erfolgreich sein, aber der Aufstand gegen die Natur scheiterte letztendlich daran, dass nicht nur das Tier tot, sondern auch der Kontext seiner Existenz unwiederbringlich verändert worden waren.

Der "Death of the Repair Shop" wird anhand eines Computerladens in den 1990er Jahren erzählt, in dem unsere Protagonistin lernt, Computer zu bauen und zu reparieren. Das Geschäft ihres Vaters endet in den frühen 2010er Jahren durch die Unmöglichkeit, die teuren Laptops, Handys und Co überhaupt zu öffnen, geschweige denn zu reparieren. Die geplante Obsoleszenz wird heftig kritisiert.

Sehr prosaisch ist das Scheitern von Sonys künstlichen Hunden, den "Lost Dogs" des Titels, die zwar eine Art von Kultstatus unter ihren Besitzenden haben, aber wegen der Einstellung des Produkts durch Sony nicht mehr repariert werden können - was angesichts der Schwächen des Produkts leider oft notwendig ist.

Ähnlich sieht es mit dem japanischen Versuch Ende der 1990er Jahre aus, einen KI-Superstar zu schaffen. Die Produktion des "CGIdol" war so teuer, das Ergebnis so schlecht, dass es bis auf Weiteres billiger bleiben wird, einfach Menschen zu engagieren.

Warum wir jemals Blei in Benzin mischten - mit katastrophalen gesundheitlichen und bis heute kaum erforschten sozialen Folgen - wird in "Lead Balloon" erläutert. Wenig überraschend ist es vor allem Gier und kriminelles Missmanagement, gepaart mit aktiver Desinformation, das jahrzehntelang dafür verantwortlich war - und die Verantwortlichen sind völlig straffrei davongekommen.

Manchmal sind Leute ihrer Zeit auch einfach nur voraus. So etwa Craig, der in "Poma" die Idee eines Wearables vorschlägt, das ungemein klobig und mit immerhin 50 Minuten Batterie ausgestattet wenig Zukunft hatte. Bis es eben irgendwann marktreif sein wird.

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Ich habe bereits im Disclaimer gesagt, dass ich nicht 100% neutral bin, was den Sammelband angeht, weil ich die Idee cool genug fand, die Produktion zu unterstützen. Deswegen wird es kaum überraschen, dass ich ihn insgesamt empfehlen kann. Bei der Breite an Themen und Geschichten wie auch Stilen und Ansätzen kann es natürlich nicht ausbleiben, dass manche mich mehr abholen als andere. So fand ich beispielsweise die Kapitalismuskritik, die in einigen Geschichten durchscheint, arg platt (mit der lobenswerten Ausnahme von "First Union"). Auch ist der Eindruck der Geschichten bei weitem nicht gleich; manche habe ich beim erneuten Durchsehen des Bandes für diese Rezension quasi zum zweiten Mal gelesen, weil sie keinen großen Eindruck hinterlassen hatten. Aber die absolute Mehrheit der Stoffe rechtfertigt so oder so die Anschaffung, die ich allen Interessierten wärmstens ans Herz legen möchte.

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