Freitag, 18. Dezember 2015

Die Kandidaten 2016: Ted Cruz

Bevor Donald Trump im Juni 2015 die Bühne betrat, war für alle Beobachter vor allem eine Sache klar: der totale Außenseiter, der Scharfmacher, der Radikale, derjenige, der Dinge sagt, die sonst niemand sagen würde, das war Ted Cruz. Cruz, ein Senator aus Texas, hatte Anfang 2015 ungefähr so gute Chancen auf die Nominierung wie Chris Christie. Dass Cruz inzwischen einer der aussichtsreichsten Kandidaten ist und Christie tatsächlich eine wenngleich geringe Chance hat zeigt, wie chaotisch der bisherige Verlauf des Wahlkampfs war. Wer aber ist Ted Cruz?

2012 trat der damalige Senator von Ost-Texas, Kay Hutchinson, nicht mehr zur Wahl an. Der republikanische Kandidat für den Posten David Dewhurst, der Vize-Gouverneur des Bundesstaates. Cruz forderte ihn in den primaries heraus, obwohl Dewhurst die Unterstützung des Establishments und deutlich mehr Geld zur Verfügung hatte (etwa drei Dollar für jeden von Cruz). Cruz gewann die endorsements von Sarah Palin und Rick Santorum, beides Darlinge der evangelikalen Rechten zur damaligen Zeit, des "Club for Growth", einem rechten Think-Tank, von Erick Erickson, einem einflussreichen rechten Blogger, sowie diversen anderen Figuren der Tea-Party-Bewegung. Cruz gewann die primaries und die folgende Wahl gegen den Kandidaten der Democrats. Dabei gewann er 6 Prozentpunkte mehr Unterstützung unter den Hispanics als Mitt Romney, aber immer noch rund 20 Prozentpunkte weniger als der Kandidat der Democrats.


Im Senat fiel der junge Abgeordnete (Cruz ist erst 45) schnell durch seine aggressive Rhetorik auf. Diese richtete er nicht nur gegen Obama und die Democrats - obwohl er sich da wahrlich nicht zurückhielt und auf keine Hyperbel verzichtete, wenn sie sich ihm bot - sondern auch gegen seine Kollegen. Im Shutdown von 2013 (für eine Erklärung siehe hier) machte er zum ersten Mal nationale Schlagzeilen, denn er war eine treibende Kraft hinter dem Tea-Party-Block, der die Republicans in den ultimativ desaströsen Shutdown trieb. Damit machte er sich bei seinen Kollegen im Senat alles andere als beliebt, denn im Vergleich zum House of Representatives sind die Republicans dort deutlich pragmatischer; Cruz passte mit seinem konfrontativen Stil nicht wirklich hinein und tat auch in der Folgezeit alles dafür, sich deutlich von ihnen abzuheben und einen Ruf als Querschütze zu erwerben und damit trotz seiner Mitgliedschaft im Kongress nicht mit "Washington" assoziiert zu werden. So bezeichnete er etwa die Republicans, die mit Obama zusammenarbeiteten (eine deutliche Mehrheit) als surrender caucus, warf dem Sprecher des Senats Mitch McDonnel öffentlich Lügen vor und kritisierte seine Kollegen beständig dafür, nicht konservativ genug zu sein.

Diese revanchierten sich entsprechend, indem sie seine Gesetzesintiativen nicht unterstützten, ihm keine Redezeit jenseits dessen gönnten auf was er Anspruch hat und verwehrten ihm sogar einen so genannten roll call, eine rein prozedurale Abstimmung, die sich die Senatoren für gewöhnlich über Parteigrenzen hinweg als Höflichkeitsgeste gewähren. Senator McCain nannte Cruz einen wacko bird. Trotz dieser Feindschaft im Kongress - oder gerade deswegen - ist Cruz' Senatssitz sicher, denn seine Wähler lieben die klare Anti-Establishment-Haltung. Es ist jedoch einsichtig, warum Cruz' Kandidatur zur Präsidentschaft - die er als erster der großen Kandidaten im März verkündete - auf eine gewisse Skepsis stieß. Der Mann ist im Kongress fast unbeliebter als Obama.


Doch auch abgesehen von der schmutzigen Wäsche des Kongresses schleppt Ted Cruz eine ganze Menge an Ballast mit. Der Mann ist ein Rechtsaußen in einer Partei, die spätestens seit dem Sieg der Tea-Party-Bewegung selbst kaum mehr als Mitte bezeichnet werden kann. Er ist kategorisch gegen Abtreibungen, steht jeglicher Reform der Einwanderungsgesetze feindlich gegenüber (außer natürlich Verschärfungen), will das Budget krass zusammenstreichen, Waffengesetze liberalisieren und was sich noch so auf dem Wunschzettel der Fundamentalisten findet. Zudem ist er der Überzeugung, dass Muslime eigentlich keine guten Amerikaner sein können und dass die passende Antwort auf den ISIS-Terror ein Flächenbombardement syrischer Städte ist.


Wie also konnte es passieren, dass Cruz jetzt plötzlich als ernsthafte Alternative gilt? Dafür gibt es im Wesentlichen zwei Gründe. Einer davon ist tatsächlich Cruz zuzuschreiben, der andere liegt völlig jenseits seiner Kontrolle.


Beginnnen wir mit Letzterem, denn er lässt sich in zwei Worte zusammenfassen: Donald Trump. Trumps Einstieg ins Rennen im Juni 2015 verschob die ideologische Achse der Republicans sofort merklich. Seine extremistischen Äußerungen zur Einwanderung (“When Mexico sends its people, they’re not sending their best. They’re not sending you. They’re not sending you. They’re sending people that have lots of problems, and they’re bringing those problems with us. They’re bringing drugs. They’re bringing crime. They’re rapists. And some, I assume, are good people.”) lassen jede noch so radikale Ansicht eines Ted Cruz geradezu moderat erscheinen, denn trotz all seiner Reibereien mit dem Kongress ist Cruz schließlich Politiker: er kann sich so ausdrücken, dass es nicht sofort als klare Beleidigung erkennbar ist. Cruz erscheint dadurch deutlich wählbarer, als er tatsächlich ist. Seine Kandidatur dürfte in Clintons Hauptquartier das Best-Case-Szenario sein, und Umfragen zeigen deutlich, dass in diesem Fall ein erdrutschartiger Sieg Clintons wahrscheinlich ist.


Der andere Grund für Cruz' dominante Stellung in denar primaries beruht auf seinem eigenen Erfolg. Wie andere evangelikale Kandidaten vor ihm baut er auf einen Sieg in Iowa, dem ersten caucus-Staat (siehe Erklärung zum Vorwahlsystem), in dem evangelikale Wähler eine überproportionale Rolle spielen. Zu diesem Zweck baut er bereits seit über einem Jahr unter großem Einsatz eine gewaltige Operation im Buckeye-State aus, die an Dichte die aller anderen Kandidaten übertrifft - vor allem aber, und das könnte entscheidend sein, die des Establishment-Darlings Marco Rubio, dessen Maßnahmen in Iowa geraderzu verdächtig unzureichend sind. Diese detaillierte Vorbereitung und Organisationsdichte zahlt sich jetzt aus: Cruz sammelt die Wähler von Carsons implodierendem Wahlkampf ebenso ein wie einen Teil von ehemaligen Scott-Walker-Fans, und er ist von allen Kandidaten am besten aufgestellt, bei einer eventuellen Implosion Trumps Wählerreservoir einzufangen.


Um zu verstehen, warum das so ist, hilft ein Blick in die Vergangenheit. In den Vorwahlen 1972 hatten die Democrats ein ähnliches Problem wie die Republicans heute: ein radikaler, xenophober Kandidat fing die Proteststimmen ein. Dieser Mann war George Wallace, und fast alle anderen Kandidaten versuchten, sich von ihm zu distanzieren. Wie Trump heute baute Wallace vor allem auf schiere Provokation und hatte wenig echte Organisation. Als Wallace in Iowa gut abschnitt, war ein Konkurrent nicht bei den anderen dabei, ihn zu kritisieren: der Populist George McGovern, der (damals) deutlich linkere Positionen als der demokratische Mainstream vertrat. McGovern zeigte Verständnis für den Unmut der Wähler und bot sich als Alternative an - und konnte dank überlegener Organisation in den späteren Staaten des primary-Kalenders die Wähler der implodierenden Wallace-Kampagne einfangen und die Nominierung sichern. Dass er danach 48 der 50 Staaten an Nixon verlor, sollte Clinton im Falle Cruz deutlich Hoffnung geben.


Cruz scheint eine ähnliche Strategie zu fahren. Statt Trump direkt anzugreifen, umarmt er ihn, statt seine Wähler zu demobilisieren tut er alles, sich in ihren Augen nicht zu diskreditieren. Auch Trump scheint das erkannt zu haben, und nachdem er ihn vor zwei Wochen noch als maniac bezeichnet hatte, erklärte er in der fünften TV-Debatte überraschend, dass er Cruz eigentlich total toll findet und tätschelte ihm auf offener Bühne die Schulter.


Und das führt direkt in die aktuelle paradoxe Situation, dass der anti-Trump, der gerade am besten aufgestellt ist, die primaries gegen den Immobilienmogul zu gewinnen, die Hassfigur des Establishments schlechthin ist. Wenn Rubio seinen Wahlkampf nicht bald zum Laufen bringt, könnte genau dieses Albtraumszenario für die Republicans Wirklichkeit werden.

Mittwoch, 16. Dezember 2015

Was in Vegas passiert bleibt nicht in Vegas

Gestern Abend hatten die Republicans ihre letzte Debatte des Jahres 2015 in Las Vegas. Um gleich eventuellen Missverständnissen vorzubeugen: Substanzielles wurde dabei nicht gesagt, policy wonks dürften die Veranstaltung eher unbefriedigt verlassen haben. Aber das war vermutlich auch nie die Erwartungshaltung für diese Art von Veranstaltungen, denn in rund 100 Minuten bei 9 Kandidaten ernsthafte Diskussionen zu erwarten hieße doch, dem Optimismus etwas viel Raum einzuräumen. So, what's new? 

Wir sollten zuerst kurz innehalten und über die Rahmenbedingungen der Debatte nachdenken. Sheldon Adelson, ein Immobilienhai aus Las Vegas, stellte für die Debatte sein Hotel zur Verfügung (moderiert wurde sie von CNN) und bestimmte damit auch diverse andere Rahmenbedingungen - vor allem die Zusammensetzung eines Publikums, das, im Gegensatz zu den Debatten im Sommer und Herbst mit Obama, buhen darf. Adelson ist unter anderem der Überzeugung, dass die Palästinenser ein "erfundenes Volk" seien und unterstützt die Politik der israelischen Rechten bedingungslos; gleichzeitig ist er einer der größten Geldgeber der Republicans und unterstützte Mitt Romney massiv. Da der Schwerpunkt der Debatte auf der Außenpolitik lag, besteht hier bereits ein leichter Interessenkonflikt. Eine Selbstbeschränkung der Kandidaten dürfte an dieser Stelle kaum überraschen.

Dass dies kein großes Thema war dürfte wohl auch daran liegen, dass die Kandidaten wenig Ermunterung durch Milliardärsspender brauchen, um eine aggressive Außenpolitik im Nahen Osten zu vertreten. Und damit sind wir auch gleich bei der Crux der Debatte gestern, denn hauptsächlich drehte sich alles um die eine Frage, wer der größte Falke unter den Raubvögeln sei. Dabei zeigten sich hauptsächlich vier Konstellationen:

Erste Konstellation: Cruz vs. Rubio. Marco Rubio und Ted Cruz gingen konstant aufeinander los. Beide sind jedoch Profis darin, entschlossen in die Kamera zu blicken und harte, kernige Sätze aufzusagen. Auffällig war, dass Rubio trotz einiger erkennbarer Schwächen Cruz nicht in der Lage war, diesen vor Publikum zu exponieren. Trotz seiner martialischen Rhetorik betonte Cruz, dass er nicht für eine bedingungslose Überwachung durch die NSA war und den Krieg in Syrien auf Luftschläge begrenzen wollte. Dies führte zu der eher ungewöhnlichen Paarung mit Rand Paul, der ebenfalls schwer mit Rubio ins Gericht ging. Schädlich dürfte der Schlagabtausch dabei für keinen der Beteiligten gewesen sein; hilfreich allerdings auch nicht. Es wird spannend bleiben abzuwarten, ob Rubio oder Cruz den Puls des Wählers richtig abtasten: wollen diese eine erneute Invasion des Irak mit Bodentruppen, wofür Rubio steht, oder doch lieber darauf verzichten, was Cruz' (und Pauls, aber wer interessiert sich noch für Paul?) Position ist.

Zweite Konstellation: Trump vs. Bush. Jeb Bush, der in den Umfragen schon seit Wochen nicht vom Fleck kommt, entschied sich dafür, den Abend durch seine Angriffe auf Donald Trump zu definieren. Außenpolitisch war er mit der Überlegteste aus dem Rudel, was weniger für ihn als gegen seine Mitbewerber spricht - schließlich beschränkt er sich auch hauptsächlich darauf, eine erneute Invasion des Irak zu fordern. Seine Entscheidung, sich durch Angriffe auf Trump zu profilieren, ist etwas merkwürdig, denn hier machte er bereits in der Vergangenheit keine gute Figur. Es gelang ihm auch dieses Mal nicht, entscheidende Treffer zu landen, aber immerhin konnte er Trump einige Male verunsichern und leistete sich keine offensichtlichen Schwächen wie die Forderung nach der Entschuldigung für seine Ehefrau (die Trump damals ablehnte) mehr. Unabhängig von Bush sorgte Trump für die einzige substanzielle Überraschung des Abends: er schloss kategorisch aus, als Independent bei den Wahlen anzutreten. Im Gegensatz zu von vor zwei Monaten hat diese Aussage dieses Mal Gewicht, weil Trump beginnen müsste, Vorbereitungen dafür zu treffen, wenn er sich die Option offenhalten würde - was er bislang nicht getan hat. Reince Priebus vom RNC dürfte an dieser Stelle ein Stein vom Herzen gefallen sein.

Dritte Konstellation: Trump, Fiorina und Carson. Trump selbst bewies erneut, dass er nicht die geringste Ahnung von Außenpolitik hat und versuchte, dies mit einer Reihe kerniger Aussagen zu kaschieren. Auf typische Art und Weise ergab das, was er sagte, insgesamt praktisch keinen Sinn (I think, for me, nuclear is just the power, the devastation is very important to me), aber wahrscheinlich wird dies für ihn wie immer keinen echten Nachteil darstellen. Schließlich wird er das, wenn er erst einmal Präsident ist, nach eigener Aussage so schnell lernen, dass unsere Köpfe sich drehen werden. Noch schlimmer war es bei Carson und Fiorina: beide hatten exakt null Sachkenntnis, aber Fiorina versuchte es mit hollywoodtauglichen One-Linern zu überspielen, während Carson schlichtweg ahnungslos und wie ein Betrunkener auf der Bühne wirkte. Angesichts dessen, dass die Evangelikalen mit Cruz einen neuen Standartenträger gefunden haben, dürfte Carsons als Kandidatur getarnte Buch-Tour nun hoffentlich bald ein Ende finden. Wer diese Performance gesehen hat, kann eigentlich nur mit Grauen auf die Vorstellung reagieren, dass dieser Mensch Entscheidungsgewalt über irgendetwas hat, aber das hat die Wähler der Republicans bisher auch nicht aufgehalten.

Vierte Konstellation: Christie, Kasich, Fiorina. Während Rubio und Cruz ihre Debatte mit zahllosen Details führten und damit ein ganz neues Level an Unverständlichkeit erreichten, versuchten Christie, Kasich und Fiorina hauptsächlich, sich gegenseitig in ihrer Bereitschaft, einen neuen Krieg anzufangen, zu übertreffen. Dabei ging es weniger um irgendwelche Details. Christie etwa verkündete - in so many words - dass er sich nicht sonderlich um den Kongress und all diese dummen Gesetze machte, die ein ordentliches Durchgreifen verhinderten. Wer braucht auch so was wie die Verfassung? In ein vergleichbares Horn stießen auch Kasich und Fiorina, aber im Gegensatz zu Christie sind deren Chancen auf die Nominierung absolut unterirdisch.

Was also bleibt von der Debatte? Faszinierend ist, wie ungeheuer jingoistisch die Kandidaten mit Ausnahme Rand Pauls sind. Rund die Hälfte von ihnen macht dazu den Eindruck, als würde sie die Länder, in die sie einmarschieren will, nicht einmal auf der Karte finden. Dass diese Positionen überhaupt ernsthaft diskutiert werden können ist der Beleg dafür, wie weit die republikanische Partei abgedriftet ist. Sie befindet sich im Griff von Radikalen - wer dafür noch immer Belege brauchte, konnte gestern Abend fündig werden.

Samstag, 5. Dezember 2015

Bücherliste 2014/2015

Bücher sind der Schlüssel zur Welt, und es gibt praktisch unendlich viele davon auf der Welt, und jedes Jahr kommen neue hinzu. Da das Leben kurz ist, möchte man nicht unbedingt mehrere Bücher anfangen und irgendwann feststellen, dass sie Mist sind und man bisher seine Zeit verschwendet hat. Andererseits ist es oft schwer, an gute Ideen für neue Bücher heranzukommen, wenn man sie nicht gerade durch Zufall findet. Ich stelle daher hier meine Bücherliste 2014/15 vor, die zwar nicht alle Bücher enthält, die ich in diesem Zeitraum gelesen habe, aber alle, die ich guten Gewissens weiterempfehlen kann. Vielleicht findet ja jemand etwas Interessantes darin. Die meisten Bücher habe ich auf Englisch gelesen; wo vorhanden, habe ich Links auf die deutschen Versionen beigefügt.  Alle Links führen direkt zu Amazon, und wer die Bücher über diese Links bestellt sorgt dafür, dass ein kleiner Teil des Preises von Amazon an mich geht. Kapitalismus!

Adam Tooze - The Deluge (bisher nur auf Englisch) In diesem Buch beschreibt der Historiker Adam Tooze, der durch sein Buch über die Kriegswirtschaft des Dritten Reiches "The Wages of Destruction" bekannt geworden ist (und das ich uneingeschränkt empfehlen kann), wie sich zwischen 1916 und 1931 eine neue Weltordnung herauskristallisierte, die die alte imperialistische Aufteilung der Welt durch die europäischen Staaten ablösen konnte. Hierbei untersucht er vor besonders, welche Rolle dabei den USA zukam und analysiert die Außenpolitik Woodrow Wilsons sehr detailliert. Der alteingesessenen Vorstellung, dass Wilson ein hoffnungsloser Idealist gewesen sei, kann er dabei wenig abgewinnen. Detailliert zeichnet er die zugrundeliegende Logik der neuen amerikanischen Politik, der 14 Punkte und der Haltung zu Versailles nach. Allein in diesem Abschnitt finden sich so viele herausfordernde und inspirierende Gedanken, dass das Buch jedem einschlägig Interessierten anempfohlen werden muss. Doch auch die Zeit zwischen 1919 und 1931 weiß Tooze unter dem Betrachtungswinkel dieser neuen Weltordnung zu analysieren und reißt gerade uns Deutsche aus unserem bequemen, deutsch-zentrischen Blick auf die Geschehnisse. Die Reparationskrise hatte eine internationale Dimension über das Ruhrgebiet hinaus. Gleichzeitig zeigt Tooze aber auch, wie sich Japan zur gleichen Zeit von einem liberal-demokratischen Musterschüler zu der Militärdiktatur entwickelt, die 1941 den USA in einem Anfall verzweifelter Hybris den Krieg erklären wird. Toozes Werk ist unabdingbar, will man diese Periode verstehen und sie globaler einordnen. (Einen Kurzabriss der wichtigsten Thesen habe ich auf dem Geschichtsblog zu einem Artikel verarbeitet)

Anselm-Doering Manteuffel - Die Entmündigung des Staates Für nur 2,49€ bekommt man gerade diesen Essay des Tübinger Historikers Doering-Manteuffel, in dem er sich mit der schleichenden Entmündigung des Staates seit den 1980er Jahren beschäftigt. Dabei wird natürlich ein starkes Gewicht auf die neoliberale Revolution gelegt, aber auch ein Schlaglicht auf die zunehmende Machtkonzentration der Judikative (Stichwort Bundesverfassungsgericht) und die Verflechtung von Politik und Wirtschaft sowie die immer weiter voranschreitende Desillusionierung der Bevölkerung mit der Politik geworfen. Diese Thesen sind Lesern dieses Blogs inhaltlich vermutlich inhaltlich bereits bekannt, aber die Einordnung durch einen distanzierten Historikerblick mag sich für den einen oder anderen trotzdem lohnen.

Carl Sagan - Pale Blue Dot (dt: Blauer Punkt im All)
Eine ganz andere Thematik bedient Carl Sagans Klassiker aus den 1990er Jahren. Der profilierte Astronom und NASA-Ingenieur nimmt den Leser auf eine Reise durch das Sonnensystem und diskutiert dabei auch philosophierend über den Platz der Menschen im Univerum und die Zukunft der Raumfahrt. Zwar bemerkt der einschlägig interessierte Leser das Alter des Buchs mittlerweile (so sind Sagans - korrekte - Spekulationen über die Atmsophäre des Saturn-Monds Titan mittlerweile bestätigt und Pluto ist kein Planet mehr), aber die ungeheuer ausdrucksstarke Prosa hat nichts von ihrer Sprachgewalt verloren. Wer sich davon einen Eindruck verschaffen möchte, kann dies hier auf Youtube in Sagans nicht minder eindrücklicher Stimme tun.

Kim Stanley Robinson - Red Mars (dt. Roter Mars)
Ein weiterer Klassiker, dieses mal aus der Science-Fiction-Bellitristik, ist Kim Stanley Robinsons "Red Mars". Der Roman ist der erste Band der Mars-Trilogie, die sich mit der Kolonisierung des Mars durch die Menschheit, ca. 2030, befasst. Robinsons Romane zeichnen sich dabei stets durch ungeheure Faktenkenntnis und Realismus aus, was sie zu recht schwergängiger Kost macht. Robinson beschreibt, beinahe schon Tolkien-esque, ausführlich die verschiedenen Marslandschaften und ihre Änderung unter dem Terraforming. Die Kolonisten, die als Charaktere nicht übermäßig interessant sind, sind eher Vehikel für verschiedene philisophische und politische Ideen, die im Verlauf des Romans ausführlich diskutiert werden. Lange Rede, kurzer Sinn: die Marstrilogie ist eher speziell. Ich habe im zweiten Band aufgegeben, aber der erste war es trotzdem wert.

Philipp Matyzak - Als Legionär in der römischen Armee: Ein Karriereführer
Wiederum ein völlig anderes Genre bedient Philipp Matyzak in seinem Karriereführer für die imperial-römische Armee. In locker-leichtem Ton führt er von der Anwerbung bis zur Entlassung (oder dem Tod) durch das Alltagsleben der römischen Legionäre, immer garniert mit hilfreichen Tipps (Tunika-Farbe: rot, Helmverstärkung: in Thrakien ja, in Nubien nein), was einen deutlich verständlicheren Zugang zu dem Alltagsleben des Legionärs gibt als jede andere Abhandlung, die ich bisher gelesen habe. Das Buch ist recht kurz, hat einen guten Zug in seiner Prosa und ist durchweg unterhaltsam. Es passiert selten, dass man oft laut auflacht, während man die Schwächen der römischen Kavallerie aufgelistet bekommt (jeder potenzielle Gegner hat bessere) oder erfährt, wie man um den Wachdienst im Lager herumkommt (einige Jobs befreien einen davon, aber dafür muss man den Optio bestechen). Absolut empfehlenswert.

Randall Munroe - What If? (bisher nur auf Englisch)
 Den meisten Internetbewohnern als Betreiber des Webcomics xkdc ein Begriff. Philophische, naturwissenschaftliche oder informatische Themen (und gelegentlich historische oder politische) werden hier unterhaltsam verpackt näher gebracht. Gleichzeitig unterhält Munroe eine große Rubrik namens "What If?", für die Leser hypothetische Fragen einsenden, die Munroe dann nachrecherchiert und wissenschaftlich fundiert beantwortet. So erfährt man unter anderem, eine wie große Population von Tyrannosaurus Rex von New York ernährt werden könnte, was mit einem U-Boot passiert, das in den Jupiter stürzt, welche Auswirkungen es hätte, wenn die Erde plötzlich aufhörte sich zu drehen, was geschehen würde, wenn man den Mond komplett durch die gleiche Masse Neutronen ersetzen würde und vieles mehr. Die meisten Szenarien enden auf unterhaltsame Weise mit dem Untergang der Welt und der Menschheit, aber nebenbei lernt man einige Grundregeln der Physik, was auch etwas wert ist.

Sascha Lobo/Christopher Lauer - Aufstieg und Niedergang der Piratenpartei
Die Autoren sind hier etwas unter PR-Gesichtspunkten aufgelistet: der Löwenanteil des Buches stammt von Christopher Lauer und besteht aus einem (stark editierten) Transkript mehrerer Gespräche mit Lobo. Lauer reflektiert dabei über seinen eigenen Weg in der Piratenpartei, über die Gründe des Erfolgs und ihres Niedergangs. Er begleicht dabei mehr als nur eine offene Rechnung mit seinen parteiinternen Gegnern, spart aber auch nicht mit Selbstkritik, was das Ganze erträglich hält. Zwischendrin offeriert Lobo seine eigenen, deutlich nüchterneren Analysen über die Gründe und kommentiert, bei weitem nicht immer zustimmend, Lauers Ausführungen. Wer sich (immer noch) für die Piraten interessiert, sollte nachsehen, ob er 3,99 Euro im Geldbeutel übrig hat. Im Interesse der Transparenz: die folgenden Bücher habe ich als ungekürzte Hörbücher angehört und nicht gelesen. Ich denke zwar nicht, dass das für die Bewertung ernsthafte Unterschiede macht, aber ich wollte es gesagt haben.

Dean Baker - The Conservative Nanny State (bisher nur auf Englisch)
Der Vorwurf, einen all-umfassenden und jedes Risiko wegbezahlenden Nanny-State zu wollen, wird gerne von Konservativen und Libertären an Progressive gerichtet. Dean Baker zeigt in seinem kleinen Büchlein, wie man den Spieß umdrehen kann. Er argumentiert für unapologetisch für eine freie Marktwirtschaft und dafür, den konservativen Nanny-State zusammenzukürzen. Was versteht er darunter? Baker weißt etwa darauf hin, dass zwar in den letzten 30 Jahren alle möglichen Hindernisse abgeschafft wurden, um Migranten die Arbeit in Produktion und prekärem Dienstleistungsgewerbe und den Unternehmen das Outsourcing zu ermöglichen, gleichzeitig aber den bisherigen Wohlstandsgewinnern zahlreiche Schutzvorschriften zugesprochen werden. Anwälte, Ärzte und Notare etwa brauchen eine aufwändige und teure Akkreditierung und können nur in den USA konsultiert werden. Warum kann ich meine Urkunde nicht über das Internet in Indien notariell beglaubigen lassen? Bakers Antwort ist klar: der konservative Nanny-State. Das Buch ist weniger wegen seiner konkreten Handlungsansweisungen empfehlenswert als vielmehr durch den Perspektivenwechsel, den es gerade Linken aufzwingt, da Baker für mehr Markt und Wettbewerb argumentiert, um eine Umverteilung in der Gesellschaft zu ermöglichen.

Ernst Jünger - In Stahlgewittern
Spätestens seit Dan Carlins großartiger Podcastserie "Blueprint for Armageddon" konnte ich die Lektüre dieses nicht gerade unumstrittenen Klassikers von Ernst Jünger nicht weiter aufschieben. Jüngers Werk ist keine leichte Kost, denn seine Perspektive auf den Krieg ist uns heutzutage ungeheuer fremd. Gleichzeitig ist sein Schreibstil aber einnehmend, und seine Perspektive und seine Erlebnisse sind so faszinierend, dass man innerhalb kürzester Zeit durch das Buch geht. Man hat zwar vom vielen Kopfschütteln irgendwann Nackenstarre, aber immerhin ist es danach etwas besser möglich, die Mentalität eines Menschen zu verstehen, der aus dem Ersten Weltkrieg nicht à la Erich Maria Remarque die Konsequenz zieht, dass es nie wieder Krieg geben darf, sondern der das Erlebnis als positiv empfand - auch nach drei Jahren Schützengraben.

Francis Fukuyama - The Origins of Political Order (bisher nur auf Englisch)
Francis Fukuyama ist uns vor allem durch seine viel-zitierte Aussage vom "Ende der Geschichte" her bekannt, ein weitgehend missverstandenes und viel verbreitetes Bonmot, das mich auch erst einmal davon abgehalten hat mich mit ihm zu beschäftigen. Nachdem ich die Hürde übersprungen hatte, öffnete sich mir in seinem Werk über den Ursprung politischer Ordnung aber eine ungeheuer vielfältige und vor allem global angelegte Betrachtung. Fukuyama durchbricht bewusst die Eurozentrik seiner Wissenschaft und vergleicht das chinesische Kaiserreich, die indischen Maharadschas, den Aufstieg und der arabischen Welt und natürlich auch Europa miteinander. Er entdeckt Gemeinsamkeiten und Unterschiede und versucht diese in einer neuen, allumfassenenden Theorie zu erklären. Seine gesamte Fragestellung steht unter dem Schlagwort: "How to get to Denmark?", womit er meint: warum schaffen es nur so wenige Staaten, eine stabile, liberale und wohlhabende Demokratie zu schaffen? Seine Antworten sind in jedem Falle denkwürdig, selbst wenn man ihnen am Ende nicht zustimmen sollte.

Francis Fukuyama - Political Order and Policial Decay (bisher nur auf Englisch)
 Im zweiten Band seiner Betrachtung politischer Ordnung wendet sich Fukuyama dann dem 19. und 20. Jahrhundert zu und versucht zu erklären, warum Staaten, die eine bestimmte Stabilität und Wohlstand erreicht haben, wieder zusammenbrechen oder doch wenigstens stagnieren. Er untersucht hier auch genauer den Aufstieg der USA und des deutschen Kaiserreichs und versucht dabei zu erklären, wie so unterschiedliche Staaten doch ungefähr gleichzeitig in die Moderne aufbrauchen. Dabei skizziert er auch die Gefahren, die heutigen Staatswesen drohen und entwickelt ein weiteres Theoriegebäude, das es ermöglicht, weltweit Analysen anzustellen. Weitere Themen befassen sich etwa mit den Problemen des Nationbuilding, worüber Fukuyama ja bereits ein eigenes Buch geschrieben hat. Unbedingt ebenfalls empfehlenswert.

Sasha Issenberg - The Victory Lab (bisher nur auf Englisch)
Dieses Buch bedient wiederum eine eher spezielle Zielgruppe. Sasha Issenberg beschreibt in seinem Werk ausführlich aktuelle Trends und Entwicklungen in Wahlkämpfen und unterfüttert diese Erkenntnisse mit allerlei Zahlenmaterial und politischen Theorien. Spannend, wenn man sich für dieses Thema interessiert, todlangweilig, wenn nicht

Richard J. Evans - The Coming of the Third Reich (dt: Das Dritte Reich - Aufstieg)
Richard J. Evans - The Third Reich in Power (dt: Das Dritte Reich - Diktatur)
Richard J. Evans - The Third Reich at War (dt: Das Dritte Reich - Krieg)
Die Historikerzunft leider wahrlich nicht an einem Mangel an Büchern aber das Dritte Reich, aber kurioserweise gibt es nicht besonders viele Überblickswerke. Richard J. Evans, Historiker aus England und Experte für deutsche Geschichte, legt in seiner Third-Reich-Trilogie ein solches vor. Interessant für den interessierten Leser ist es vor allem aus zwei Gründen. Zum einen sind die Bücher noch relativ neu und daher auf einem verhältnismäßig aktuellen Stand der Wissenschaft. Zum anderen ist Evans als Brite ein etwas distanzierterer Beobachter und kann einen anderen blick liefern, als man das von deutschen Autoren gewohnt ist. Er hat seine Bücher auch explizit für ein nicht-deutsches Publikum geschrieben, das bisher nur wenig über das Dritte Reich weiß (was ihn nicht davon abhält, ein knackiges Niveau zu bieten). So übersetzt er etwa kontextabhängig sämtliche Begriffe ("Volk" ist etwa je nach Kontext "nation" oder "people"), statt sie direkt zu übernehmen. Für den deutschen Leser seien daher die Übersetzungen empfohlen. Evans setzt seine Schwerpunkte dabei nach dem aktuellen Wissenschaftsdiskurs. Besonders auffällig ist dies im dritten Band, "Krieg", wo er nur sehr am Rande auf die militärischen Geschehnisse und etwa Taktik und Strategie eingeht, sich aber eingängig mit der Nazi-Vernichtungspolitik, der Besatzungspolitik und den sich wandelnden Herrschaftsmechanismen befasst. Dem Leser muss auch klar sein, dass der Titel wörtlich zu nehmen ist - die Darstellung beschränkt sich auf den Nazi-Staat und kümmert sich praktisch gar nicht um den Pazifik und streift die anderen Länder nur insoweit, wie sie für das Verständnis der deutschen Geschichte notwendig sind.

Steven Pinker - The Better Angels of Our Nature (dt: Gewalt: Eine neue Geschichte der Menschheit)
Dieses Buch möchte ich unbedingt und uneingeschränkt empfehlen. Der Psychologe Steven Pinker legt in einem ambitionierten Rundumschlag dar, warum Gewalt unter Menschen sich auch dem Rückzug befindet. Es ist nicht unbedingt intuitiv wenn Pinker behauptet, es gebe einen generellen Trend durch die Menschheitsgeschichte, dass Gewalt (vor allem tödliche Gewalt) konstant abnehmen, und dass dies auch für das 20. Jahrhundert gelte. Seine Betrachtung verschiedener Phasen der Menschheitsgeschichte vom neolithischen Zeitalter bis heute weiß aber durch analytische Brillanz zu überzeugen. Der Leser erfährt so etwa, warum wir Menschen die rechte Hand zur Begrüßung geben und welche Bedeutung Tischsitten für die Abnahme der Gewalt haben. Besonders beeindruckend ist die Lektüre aber dadurch, dass Pinkers These so widersprüchlich zu der von uns täglich wahrgenommenen Realität zu sein scheint. Herrschen nicht überall Krieg und Gewalt auf der Welt? Pinker fordert auf jeder Seite seine Leser heraus, bisherige Axiome auf den Prüfstand zu stellen, und wie bei Fukuyama auch kommt es gar nicht so sehr darauf an, ob man diese These am Ende teilt oder nicht - allein dass man auf einer so fundamentalen Ebene intellektuell herausgefordert wird ist genug, um das Buch unbedingt zu empfehlen. Zudem sticht es unter den politische Bereiche besprechenden Werken dadurch hervor, dass es einen positiven, fast schon optimistischen Grundton hat. Das ist manchmal auch ganz schön.

Tony Judt - Postwar (dt: Geschichte Europas 1945-1990)
 Ein weiteres Standardwerk, das ich aber erst kürzlich lesen konnte, ist Tony Judts "Postwar". Judt beschreibt darin die Geschichte Europas nach dem Zweiten Weltkrieg bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion aus dem Blickwinkel der 2000er Jahre. Er zeichnet darin Entwicklungslinien nach und nimmt eine konstant europäische Perspektive ein, immer wieder in die Innenpolitik der verschiedensten Staaten abtauchend und mit trügerischer Leichtigkeit alles zu einem stimmigen, multipolaren Gesamtbild verwebend. Es ist überraschend, dass es keine ernstzunehmenden Alternativen zu diesem Buch gibt, aber die meisten Abhandlungen über den Kalten Krieg befassen sich vor allem mit dem Konflikt von USA und Sowjetunion und betrachten Europa als einen Schauplatz dieses Krieges. Judt macht es genau umgekehrt: er betrachtet die europäische Geschichte jener Zeit, und dass Europa dabei territorial durch den Eisernen Vorhang getrennt und immer wieder Spielball der Supermächte ist, scheint mehr eine Laune der Geschichte. Es ist eine Perspektive, die altgewohnte Blickwinkel herausfordert und für das Verständnis unserer heutigen Epoche wahrscheinlich fruchtbarer ist als die klassische bipolare Sichtweise.

Freitag, 4. Dezember 2015

Rubikon

Seit Jahren beherrscht vor allem ein Thema die Republicans: Obamacare. Kein Kandidat kann heute mehr ernsthaft antreten ohne anzukündigen, für eine vollständige Abschaffung des Gesetzes zu stimmen (repeal). 67 Mal stimmten die Republicans im House of Representatives für die Abschaffung des Gesetzes, 67 mal scheiterten sie im Senat. Heute starteten sie den 68. Versuch - und zum ersten Mal passierte das Gesetz den Senat und wird nun, wenn die Republicans im House nicht doch noch einen Rückzieher machen, Obama zur Unterschrift vorgelegt - der das Gesetz garantiert vetoen wird. Und ja, vetoen ist ein Verb, bevor jemand fragt. Viel wichtiger dagegen scheinen allerdings zwei Fragen: warum versuchten sie es 67mal fruchtlos, und warum klappte es dieses Mal? Und, natürlich, drittens, wird dies irgendwelche Konsequenzen haben? Die letzte Frage lässt sich mit einem entschiedenen Jein beantworten und führt, natürlich, direkt in die Irrungen und Wirrungen des Wahlkampfs.


Die Republicans befinden sich in einem Dilemma. Der repeal war noch eine ernsthafte Möglichkeit, bevor das Gesetz in Kraft trat und damit die Menschen direkt damit in Berührung brachte, und bevor Obamas Wiederwahl 2012 ein präsidiales Veto garantierte. Seit Obamacare 2013 offiziell in Kraft etreten ist, müssen die republikanischen Politiker zwar weiterhin ihre unversöhnliche Gegnerschaft zu dem Gesetz unter Beweis stellen, um die eigene Basis zu befriedigen, sich aber gleichzeitig auch mit der Masse der Betroffenen auseinandersetzen. Denn hier treffen zwei Effekte die Republicans, die sich jeweils negativ für sie auswirken.

Der erste Effekt ist, dass es wesentlich leichter ist, etwas abzuschaffen, dass noch nicht existiert als etwas, das Menschen greifbare Vorteile bringt. Seit Millionen von Menschen plötzlich über bezahlbare Versicherungspolicen verfügen, verschieben sich deren Prioritäten: anstatt der reinen Lehre der Partei zu folgen, sehen sie deutlich, dass ihre Situation deutlich schlechter wird, wenn die Republicans ihren Willen bekommen. Daher verkünden die Spitzenpolitiker der Partei auch stets, dass sie natürlich eine eigene, viel bessere Version schaffen würden (repeal and replace) - ohne irgendwelche Details bekanntzugeben, wie das funktionieren soll. Trotzdem ist dies eine problematische Version. Die Republicans haben dasselbe Problem mit Medicare, einer staatlichen Krankenversicherung für alle Amerikaner über 65 Jahre, die deutlich günstiger und effizienter ist als die meisten Konkurrenzprodukte auf dem Markt. Gerne würden sie es abschaffen, weil es jeglicher republikanischer Ideologie zuwiederläuft. Gleichzeitig aber will kein Rentner, aus deren Reihen sich viele republikanische Stammwähler rekrutieren, seine Krankenversicherung verlieren, weswegen sich jeder Republican stets bemüht, bei allen Kürzungsplänen herauszustellen, dass Medicare nicht angetastet wird.


Damit verknüpft ist ein zweites Problem: viele Amerikaner erklären sich in der Theorie für die republikanischen Positionen, sind aber in der Praxis dagegen. Diese kognitive Dissonanz lässt sich relativ leicht erklären: im Grundsatz ist jeder für weniger Steuern und einen schlanken Staat, aber geht man in die Details stellt man schnell fest, dass die Leute die meisten Regierungsprogramme gerne haben. Das Bonmot des wütenden Republican wählenden und gegen Sozialleistungen wetternden Rentners, der fordert, dass der Staat die Finger von seinem Medicare lassen solle, ohne zu realisieren, dass Medicare eine staatliche Unterstützungsleistung ist, ist inzwischen legendär. Die Republicans konnten diese kognitive Dissonanz am praktischen Beispiel in Kansas erfahren. Anstatt im Wahlkampf utopische Kürzungen zu versprechen und diese danach stillschweigend zu vergessen, machte Governeur Sam Brownback ernst und kürzte die staatlichen Budgets radikal. Die Folge war nicht der versprochene Aufschwung, sondern eine tiefe Rezession und explodierende Staatsschulden, die dazu führten, dass teilweise monatelang die Schulen geschlossen werden mussten, weil das Geld für ihren Unterhalt fehlte. Inzwischen hat der Gouverneur in einem Staat, der schon fast klischeehaft republikanisch ist, eine Zustimmungsrate (approval rating) von 18% - satte zehn Prozent weniger als der nicht gerade gern gelittene Obama.


Die Aussicht, einen erfolgreichen repeal zu verabschieden, war für die republikanischen Strategen daher immer schon ein zweischneidiges Schwert. Bisher war es aber auch keine Perspektive - die Democrats im Senat verhinderten mit der filibuster-Drohung stets, dass das Gesetz Obama zur Unterschrift vorgelegt wird - was Obama den offenen Konflikt und Republicans eben dieses Dilemma ersparte. Nun jedoch verabschiedete der Senat das Gesetz durch einige prozedurale Tricks ohne die filibuster-Mehrheit - und Obama muss den Veto-Stift bemühen.

Warum also nutzen die Republicans diese Tricks jetzt und nicht schon vor einem Jahr, oder im Februar, als sie den letzten Versuch eines repeal unternahmen? So sehr das Thema natürlich die eigene, hartgesottene Basis begeistert, mit dieser Basis alleine lassen sich keine Wahlen gewinnen, und die obigen Mechanismen könnten dafür sorgen, dass einige eher mittig orientierte Wähler, um ihre Policen fürchtend, den republikanischen Kandidaten nicht unterstützen. Gleichzeitig schafft der repeal natürlich ein Wahlkampfthema für die Democrats, die sich damit klar positionieren können, denn so unpopulär Obamacare bei der republikanischen Basis ist, so populär ist er bei der demokratischen. Die Kalkulation der Republicans ist, dass in dem Mittelfeld der Wähler mehr Leute Obamacare ablehnen als befürworten (oder dem indifferent gegenüberstehen). Ob diese Rechnung aufgeht, ist fraglich, aber nicht ausgeschlossen. Es spricht allerdings Bände über die Einschätzung der Republicans über ihre Wahlchancen, dass sie glauben, ihre eigene Basis so radikal mobilisieren zu müssen. Das ist, als ob die Democrats eine Zerschlagung der Großbanken der Wallstreet fordern würden. Mit diesem Zug haben die Republicans den Rubikon überschritten, die Würfel geworden und was mehr sich an geeigneten Metaphern finden lässt. Die nächsten Monate werden zeigen, ob die Rechnung aufgeht.


Donnerstag, 26. November 2015

Im Spiegel der Flüchtlingskrise

Große Ereignisse und Krisen haben häufig die Eigenschaft, dass sie einer Gesellschaft den Spiegel vorhalten. Das zwingt sie dazu, Fragen offen zu diskutieren, die man bislang im Interesse allgemeiner Ruhe und Wohlverhalten unter den Teppich gekehrt hatte. Denn tatsächlich wird Deutschland, wie Stefan Pietsch das in seinem Artikel formuliert hat, ja ein Wandel aufgezwungen. Es ist eine Debatte, die das letzte Mal zu einer Zeit geführt wurde, als Joschka Fischer noch Außenminister war und der Untergang des Abendlandes durch eine allzu freizügige Visa-Vergabe gekommen schien. Über die Ausmaße dieses Skandals kann man heute nur noch lachen.

Die aktuelle Flüchtlingskrise hat in Deutschland ein weit verbreitetes Unbehagen ausgelöst. Es ist ein Unbehagen an dem von Stefan Pietsch angesprochenen Wandel, den über eine Million syrischer Flüchtlinge praktisch zwangsläufig mit sich bringen werden. Es ist Unbehagen über den Staat, der nicht mehr in der Lage scheint, der Lage Herr zu werden. Es ist ein Unbehagen über die Meinungseliten, deren Ansichten sich oft so sehr von der der "normalen" Leute zu unterscheiden scheinen. Und es ist ein Unbehagen über die Demokratie, die nicht mehr in der Lage scheint, die Politik ausreichend zu legitimieren. Eine ganze Menge Schein, eine ganze Menge Konjunktive. Sie brechen die Selbstverständlichkeiten und Normen auf, die unseren Alltag für gewöhnlich strukturieren, und zwingen uns, uns den Fragen einer Extremsituation zu stellen.

Ist es etwa absurd, "jedem Menschen, so fremd er auch sein mag, offen und herzlich begegnen zu wollen"? Steht uns hier die Biologie wirklich im Wege, wie Stefan Pietsch postuliert? Ich bin kein Anhänger eines biologischen Determinismus. Wir sind kopfgesteuert genug dass es uns möglich ist, unsere Instinkte gegen das Fremde zu unterdrücken und eine Willkommenskultur bewusst und aus eigenem Willen zu gestalten. Wir haben im September genau das am Bahnhof in München und anderswo sehen können. Hierfür braucht es Gruppendynamik, Vorbilder und Signale. Die euphorische Berichterstattung in vielen Medien und die Äußerungen von Kanzlerin und einzelnen Ministern lieferte genau dieses.

Die vorsichtige Formulierung zeigt bereits, dass dies keine allgemeine Erscheinung war. Besonders die FAZ tat und tut sich als kritisch-pessimistisches Bollwerk gegen die Willkommenskultur hervor, und die CSU, Thomas de Mazière und die AfD bieten in den Reihen der Politik innerhalb wie außerhalb von Koalition und Parlament Kritik am Vorgehen (und das übrigens, ohne dass irgendeiner der Beteiligten deswegen gleich Rassist ist). Die Behauptung, dass gegen den (tatsächlich flüchtlingsfreundlichen) Mainstream kein Kraut gewachsen sei und kein Raum bestehe ist schlicht unwahr. Die Stilisierung zu Opfern einer Meinungsdiktatur steht diesen Pessimisten schlecht, denn sie ist offensichtlich unwahr. Es lohnt sich an dieser Stelle einmal mehr darauf hinzuweisen, dass Meinungsfreiheit nicht Freiheit vor Kritik bedeutet und genausowenig eine Garantie, dass jemand diese Meinung hören will. Es ist die Freiheit, sie auszusprechen, und die wird in Deutschland niemand genommen. Auch ist es jederzeit möglich, die Parteien abzuwählen, die sich diese Politik auf die Fahnen geschrieben haben. Bislang sind die Umfrageverluste der CDU moderat, SPD und Grüne bleiben konstant und die AfD gewinnt etwas. Die Landtagswahlen 2016 werden im Spiegel der Krise zeigen, wie viele Menschen ernsthaft erregt genug sind, um ihren Forderungen elektoralen Nachdruck zu verleihen.

Gleichzeitig sollen die Herausforderungen, vor denen Deutschland steht, nicht klein geredet werden. Der Zuwachs einer Million neuer schwer in Arbeitsmarkt und Gesellschaft integrierbarer Menschen, die zu weiten Teilen weder Deutsch noch Englisch sprechen, ist keine leichte Aufgabe. Dass die Bürokratie an dieser Aufgabe scheitert, ist nachvollziehbar, denn sie ist für diese Zahlen schlicht nicht ausgelegt. Das Unternehmen, das einen fünf- bis sechsfachen Anstieg der Aufträge einfach so bedienen kann existiert schließlich auch nicht. Die Flüchtlingskrise ist eine genuine Krise, nicht, weil sie für Deutschland so gefährlich ist, sondern weil sie eine "schwierige Situation, den Höhe- und Wendepunkt einer Situation darstellt" (Duden). Es spricht eher für uns, dass wir keine leerstehenden Wohnungen für eine Million Leute haben, denn das ist Ausdruck für die relative Gesundheit Deutschlands, die sich im Spiegel der Krise offenbart. Auch gibt es, wenig überraschend, nicht genügend Lehrer für Deutsch als Fremdsprache. Das liegt daran, dass bislang nur ein bescheidener Bedarf dafür bestand. Auch die Verwaltungsstrukturen für riesige Flüchtlingscamps und ihre entsprechende Verteilung fehlten bislang, weil der Bedarf fehlte. Dies muss nun innerhalb kurzer Zeit gestemmt werden. Und um mit Angela Merkel zu sprechen: wir können das auch schaffen.

An dieser Stelle muss man auch als Vertreter der Willkommenskultur ehrlich genug sein, um zu sagen: Ja, wir schaffen das. Aber es wird weder einfach noch billig. Aber für so etwas hat man einen Staat. Für solche Krisen hat man Haushaltsüberschüsse erwirtschaftet. Und auch wenn ich fast - fast - Mitleid mit Wolfgang Schäuble und seiner dahinschwindenden schwarzen Null habe, so werden wir doch nur auf ein Niveau zurückrutschen, das wir bereits gut kennen. Und ja, am ehrlichsten wäre natürlich eine Steuererhöhung, vielleicht in Form einer einmaligen Solidaritätsabgabe (selbst eine einmalige Abgabe von 1% des Bruttogehalts, die niemand spürt, würde 171 Millionen bringen, mit denen man etwas finanzieren kann). Das ist im aktuellen politischen Klima aber kaum vorstellbar. Der deutsche Staatshaushalt wird so eben das Äquivalent einer leichten Rezession an zusätzlichen Sozialausgaben verkraften müssen, aber glücklicherweise ohne den einhergehenden gleichzeitigen Verlust von Steuereinnahmen durch wegfallende Arbeitsplätze und Produktion. Das wird nicht ohne Reibungen abgehen und nicht billig sein, aber wer behauptet, es sei unmöglich, muss sich einen Alarmisten schelten lassen. Deutschland kann das schaffen.

Werden wir dann, wie manche Optimisten verkünden, binnen kurzer Zeit eine Million motivierter Fachkräfte haben, die nach kurzem Zusatzstudium an die Werkbänke der Republik strömen? Das dürfte eher unwahrscheinlich sein. Stattdessen werden wir wohl Kurse anbieten müssen, werden desillusionierte Flüchtlingen haben, die in Apathie versinken oder in die Kriminalität abrutschen. Das ist nur zu erwarten und kann angesichts der Monumentalität der Unternehmung und der mangelnden Einrichtungen auch kaum anders sein. Aber es wird auch Erfolgsgeschichten geben, Flüchtlinge, die Deutsch lernen, die Ausbildungen machen und, ja, die Ingenieure werden und die Autos der nächsten Generation bei Daimler und VW mitentwerfen, oder vielleicht zumindest einen sauberen Motor. Und es wird eine große Menge geben, die in schlecht bezahlten Dienstleistungsjobs ein karges Auskommen fristet, und das auch nur, wenn die Integrationsmaßnahmen vorher Erfolg hatten. All das ist absehbar, all das ist ist kaum vermeidlich, aber wir haben Einfluss auf die Relationen. Werden wir viele Gewinner haben, oder viele Verlierer? Es hängt von der Qualität der Lösungen ab, die die Bürokratie findet, und an der Bereitschaft der Politik, diese Maßnahmen zu finanzieren.

Stellt sich natürlich die Frage, warum man das Geld überhaupt investieren soll. Was gehen uns schließlich die Flüchtlinge an? Auch hier hält uns die Flüchtlingskrise einen Spiegel vor. Es ist zwar Mode geworden, auf "Gutmenschen" zu schimpfen und verächtlich über die "moralisierende Weltmacht" BRD zu reden, aber tatsächlich handelt es sich vor allem um eine moralische Frage. Warum sollten wir die Flüchtlinge aufnehmen? Weil wir es können. Im Gegensatz zum Libanon und zu Jordanien können wir es wirklich und müssen es nicht. Wir haben keine rechtliche Verpflichtung, alle diese Flüchtlinge aufnehmen. Wir könnten uns wie in Griechenland hinter einem Wall aus Paragraphen verschanzen, die Grenze mit Zäunen, Mauern und Wachen verschließen und auf die Einhaltung von Dublin-II pochen, während wir uns gleichzeitig von Verfassungsjuristen erklären lassen, dass der Asyl-Paragraph im Grundgesetz für solche Menschenmengen ja nie wirklich ausgelegt war. Die Bilder von im Winterregen frierenden Flüchtlingen könnten wir genausogut ignorieren wie die Nachrichten von im Mittelmeer ertrinkenden Flüchtlingen in den letzten Jahren auch. Aber genau das tun wir nicht. Die Mehrheit in Deutschland - und es ist eine Mehrheit, egal was FAZ und Pegida auch sagen mögen - hat sich für die Moral entschieden, für die Aufnahme. Vielleicht nicht völlig selbstlos, denn natürlich gefallen wir uns im Spiegel als "gute Deutsche" posierend, aber wir haben es getan.

"Never let a good crisis go to waste" heißt es, nur halb scherzend, in dem bekannten Sprichwort. Deutschland steht tatsächlich gerade an einem Entscheidungspunkt. Die alte Frage, ob wir ein Einwanderungsland sind, und was das eigentlich konkret bedeutet, schwemmt wieder an die Oberfläche. Der Spiegel der Flüchtlingskrise gibt jedem, der in ihn hineinblickt - und wer kann das bei der Polarisierung gerade vermeiden? - einen mindestens ebenso tiefen Einblick in seine eigenen Ansichten, Vorstellungen und Wünsche wie in die der Flüchtlinge. Wenn ich hineinsehe, sehe ich weder den Berufsoptimismus mancher noch den Berufpessimismus manch anderer. Nach zehn Jahren Merkel-Kanzlerschaft falte ich zum ersten Mal die Hände zur Raute und stimme ihr zu. Wir können das schaffen. Nicht: Wir werden das schaffen. Nicht: Es wird blühende Landschaften geben. Es ist eine prototypische Merkel-Aussage, allem sie umgebenden Grandeur zum Trotz. Wir können. Es gibt keinen Automatismus, keine Garantie. Aber wir können.

Dienstag, 17. November 2015

Kurdistan unterm Bus

Jeder, der nicht gerade für die Präsidentschaftskandidatur der Republicans kandidiert, wird der Aussage zustimmen, dass der Mittlere Osten ein hochkomplexes Beziehungsgefüge ist, in dem einfache Lösungen kaum zu finden sind. Vor einem Jahr beschrieb ich, dass es sich bei ISIS effektiv um einen Hype handelt und dass die Terrormiliz sich nur ziemlich gut darauf versteht, politische Vakuums zu erkennen und in diese vorzustoßen. Ernsthafter Widerstand, wie er ihnen etwa von der Armee Assads oder den YPG-Einheiten der kurdischen Peshmerga entgegengebracht wird, wird von ihnen kaum überwunden. Die Kurden sind sogar, unterstützt von Luftschlägen der US Air Force, in die Offensive gegangen und haben die syrische Grenzstadt Tal Abyad sowie die irakische Region Sinjar erobert, was die syrische ISIS logistisch von ihrem irakischen Ableger trennt und den schmerzhaft in den lukrativen Ölschmuggel einschneidet. Gleichzeitig debattieren die NATO-Länder ständig um den sprichwörtlichen elephant in the room herum, dass niemand Bodentruppen in die Region entsenden will. Warum also verbündet man sich nicht stärker mit den Kurden?

Auf den ersten Blick macht das eine ganze Menge Sinn. Die Kurden kommen dem, was man im Mittleren Osten als good guys bezeichnen könnte, noch am nähesten, auch wenn sich jedem türkischen Innenminister bei dem Gedanken sofort die Zehennägel kräuseln - hielt die kurdische Terrororganisation PKK das Land doch zwischen 1978 und 2012 unter permanenter Anspannung. Die Kurden, die mehrheitlich dem sunnitischen Islam anhängen, haben sich gleichwohl von ihren Glaubensbrüdern in der Region deutlich distanziert und pflegen genau den moderaten Islam, der hierzulande immer als Integrationsvoraussetzung formuliert wird. Angesichts des Vormarsches radikaler Terrorgruppen haben sie in den kurdischen Autonomiegebieten die rechtliche Gleichstellung der Frau weiter vorangetrieben als fast jedes andere muslimische Land, und sie sind in ihrer gesamten Wertehaltung und ihrem Lebensstil westlich geprägt und neigen diesem auch politisch zu. Warum also unterstützt man nicht die Kurden?

Der Schlüssel liegt in dem vorher gebrauchten Begriff von den "Autonomiegebieten". Die Kurden besitzen nämlich keinen eigenen Staat. Stattdessen ist die zwischen 20 und 30 Millionen Köpfe zählende Volksgruppe über die Türkei, Syrien, den Irak, Armenien und den Iran verteilt. Und keines dieser Länder hat ein Interesse daran, Land und Bevölkerung an einen neuen Rivalen zu verlieren, und ein Rivale wäre dieses Kurdistan zweifellos. Während der Irak und Syrien sich inzwischen der normativen Kraft des Faktischen kaum mehr entziehen können, weil die Kurden hier praktisch bereits autonom sind und es keine Zentralregierung mehr gibt, die stark genug wäre, ihnen diesen Status zu entreißen, sieht die Lage in der Türkei ganz anders aus. Aber selbst wenn man die Türkei erst einmal für einen Absatz aus der Rechnung entfernt, ist die Lage für die Kurden nicht sonderlich rosig.

Zwar arbeiten sie gerade mit den Amerikanern zusammen. Aber die USA dürften kein großes Interesse daran haben, die Kurden aus dem Irak herauszulösen. Irak hat ohnehin eine mehrheitlich schiitische Bevölkerung (rund 60%), und wenn die Kurden (rund 18%) den Staat verließen, wäre der Irak nur noch ein hilfloser Teil der Schia-Achse, die sich von Libanon über Syrien und Irak nach Iran erstreckt und politisch auf Teheran ausgerichtet ist. Ein Irak, der kaum mehr als ein Satellitenstaat Teherans wäre, ein Syrien, das wechselseitig Teheran und Moskau verpflichtet ist und der Libanon, dessen mächtige Hisbollah-Miliz immer noch aus Iran finanziert wird - ein geopolitischer Albtraum für Washington. Und Syrien hat gerade Unterstützung aus Russland erhalten, das es zum Ziel erklärt hat, Assad als Herrscher des ganzen Syrien zu restituieren. Alle kurzfristigen Erfolge der Peshmerga können nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie im Zweifel wenig gegen die vereinte Stärke von Assad und Putin ausrichten kann.

Aber dann ist da noch die Türkei. Die ist nicht nur kein Gegner der USA (wie Syrien) oder ein effektives Protektorat (wie Irak), sondern eine souveräne Nation und, entscheidend, NATO-Mitglied. Und während ein westlich orientiertes Kurdistan alle möglichen strategischen Vorteile brächte, so wiegen keine davon den Verlust der Türkei auf. Und Präsident Erdogan hat bisher wenig Zweifel daran gelassen, was er von der Idee eines unabhängigen Kurdistan hält: Nichts. Mehr noch, er hat - trotz Terroranschläge innerhalb der Türkei - auffallend wenig unternommen, um in den Bürgerkrieg jenseits seiner Grenzen einzugreifen oder gegen den IS vorzugehen. Stattdessen versucht er aktiv, einen ethnischen Sperrgürtel zwischen die in der Türkei lebenden Kurden und die Kurden des Iraks und Syriens zu ziehen. Gleichzeitig bombardiert die türkische Luftwaffe kaum verhohlen unter dem Deckmantel der Terrorbekämpfung kurdische Stellungen und finden Öl und Waffen für den IS auffallend einfach ihren Weg über die türkische Grenze.

Obwohl die Peshmerga gegen den IS 2015 so große Erfolge feiern konnte wie kein anderer Kriegsteilnehmer, stellt das Jahr für sie gleichzeitig auch einen großen strategischen Rückschlag dar. Denn die Flüchtlingskrise, die Europa gerade in Atem hält, ist eine Katastrophe für die Kurden. Europa ist normalerweise nicht so sehr wie die USA in das great game der Geopolitik eingebunden und würde vielleicht den strategischen Wert der Türkei etwas niedriger hängen. Aber die Flüchtlingskrise macht Erdogan zu einem gefragten Gesprächspartner, denn er ist der einzige, der den ständigen Zustrom stoppen kann - indem er seine Grenzen sichert, was er bislang kaum tut, solange die Flüchtlinge nur weiter ziehen. Entsprechend stehen die Europäer gerade als Bittsteller vor der Tür, und Erdogan wird sich seine Kooperation teuer bezahlen lassen - in harten Euros sicherlich, aber vermutlich auch auf anderem Gebiet.

Die militärische Hilfe der Türkei ist genug für die USA, die polizeiliche Hilfe gegen Flüchtlinge ist genug für Europa. In keinem dieser Abkommen ist Platz für ein freies Kurdistan. Es sollte daher niemanden überraschen, wenn die Kurden letztlich vom Westen unter den Bus geworfen werden - ein Opfer für größere Ziele, das man leicht zu bringen bereit ist. Wer weiß schon etwas über die Kurden oder kümmert sich um ihr Schicksal?

Mittwoch, 4. November 2015

Die Debatten-Debatte

Vergangene Woche fand beim Spartensender CNBC die dritte Debatte der Republicans statt. Praktisch alle Beobachter von links bis rechts waren sich einig, dass die Debatte ein Desaster war. Nur in dem Grund dafür fallen die Meinungen auseinander. Kritisiert wurde, dass die Moderatoren sehr unvorbereitet schienen und häufiger ihre Daten und Fakten nicht parat zu haben schienen. Zudem gelang es ihnen kaum, die Kandidaten in Griff zu bekommen, die häufig auf alle möglichen Fragen antworteten, nur nicht auf die, die ihnen gerade gestellt worden war. Während das in einem gewissen Rahmen bei jeder Debatte der Fall ist, nahm es bei CNBC ziemlich überhand.
Ein gutes Beispiel ist die - zugegebenermaßen nicht gerade originelle - Eröffnungsfrage: da sich die Kandidaten ja quasi beim amerikanischen Volk bewerben würden, stelle man ihnen die typische Bewerbungsgesprächfrage: Was ist Ihre größte Schwäche? Nur Trump gab darauf eine echte Antwort ("Ich vertraue zu schnell"), alle anderen wichen mehr oder weniger elegant aus. Ben Carson ist auch hierfür typisch: "Meine größte Schwäche ist, dass ich mich nicht schon vorher als Präsident gesehen habe." Was für eine Schwäche das sein soll? Keine Ahnung. Warum immer wieder behauptet wird, Carson sei bescheiden? Es bleibt unerklärlich. Doch schnell wurde es für die Kandidaten ungemütlich, denn CNBC stellte die bislang substanziellsten Fragen an sie.


Das überrascht nicht, denn der Sender ist gewissermaßen der Haussender der Wallstreet und spezialisiert sich auf Wirtschafts- und Finanznachrichten. Als solcher steht er auch den Republicans recht nahe. Umso überraschender ist, wie unvorbereitet die Kandidaten auf die Fragen waren - und wie unvorbereitet die Moderatoren auf die Strategie eben dieser Kandidaten dem auszuweichen. Denn in der CNBC-Debatte zeigte sich die neue Strategie der Republicans von ihrer offensichtlichsten Seite: das direkte Lügen in die Kamera. So wurde etwa Donald Trump gefragt, warum er Marco Rubio als "persönlichen Senator von Mark Zuckerberg" beschimpfte (Rubio hatte sich für besondere Visa für High-Tech-Arbeiter ausgesprochen, genauso wie Facebook-Chef Zuckerberg). Trumps Antwort war, dass er das nie gesagt habe. Moderatorin Becky Quick war davon sichtlich verwirrt: "Wo habe ich das gelesen...?" dachte sie laut nach, worauf Trump nur nachlegte: "Vielleicht...ich meine, ihr Leute schreibt dieses Zeug." Quick nutzte eine Werbepause um nachzurecherchieren. Das Statement fand sich an prominenter Stelle auf Trumps eigener Homepage.


Nun ist es natürlich möglich, dass Trump einfach nur vergessen hat, dass er dieses Statement getroffen hat. Es zeigt sich aber gleichzeitig auch, wie gut diese Strategie im Allgemeinen funktioniert, denn selten können die Moderatoren kurz eine Aussage nachprüfen. Und was die Fact-Checker am nächsten Tag verkünden bekommt kaum jemand mit. Ben Carson nutzte dieselbe Strategie: auf seine Verwicklungen mit dem umstrittenen Konzern Manatech angesprochen, erklärte er rundheraus, nie mit dem Konzern zusammengearbeitet zu haben. Auf Nachfrage erklärte er, einige bezahlte Reden gehalten zu haben, aber das tue er für viele und das könne ja kaum als Zusammenarbeit gelten. Als die Moderatoren erklärten, dass er prominent auf der Mannatech-Homepage abgebildet sei, mitsamt deren Logo, erklärte Carson, nichts davon zu wissen und dass Manatech das wohl ohne seine Zustimmung getan habe. Die Plausibilität dieses Arguments ist, höflich gesagt, etwas dünn. Die Moderatoren zeigten sich angesichts dieser blanken Verleugnung jedoch völlig überfordert und wurden durch ein buhendes Publikum, das Carson als Bestätigung seiner Antwort hernahm, zum Schweigen verdonnert.


Die Applauszeile des Abends aber gebührte Ted Cruz. Da wenige Tage vor der Debatte ein neuer Haushaltsplan im Kongress verabschiedet worden war, machte es nur Sinn, ihn, der vorherige Abmachungen dieser Art durch einen Filibuster verhindern wollte, danach zu fragen. Moderator Carl Quintilla fragte:“Congressional Republicans, Democrats and the White House are about to strike a compromise that would raise the debt limit, prevent a government shutdown and calm financial markets that fear another Washington-created crisis is on the way. Does your opposition to it show that you’re not the kind of problem solver American voters want?” Cruz verweigerte die Antwort völlig und griff stattdessen die Moderatoren direkt an: "The questions that have been asked so far in this debate illustrate why the American people don’t trust the media. This is not a cage match. And you look at the questions: ‘Donald Trump, are you a comic book villain?,’ ‘Ben Carson, can you do math?,’ ‘John Kasich, will you insult two people over here?,’ ‘Marco Rubio, why don’t you resign?,’ ‘Jeb Bush, why have your numbers fallen? How about talking about the substantive issues people care about?”


Damit eröffnete Cruz das, was in den amerikanischen Medien gerne als Debatten-Debatte bezeichnet wird: Ist das derzeitige Debattenformat schlecht, und sind die Fragen unfair? Ezra Klein hat sich die Mühe gemacht, die ersten sechs Fragen in allen bisherigen vier Debatten (inklusive der CNN-Debatte der Democrats) zu vergleichen und kommt zu dem Schluss, dass die Fragen von CNBC tatsächlich die substanziellsten (und damit anspruchsvollsten) waren, jedoch nicht aggressiver als etwa die von FOX News. Er arbeitete jedoch heraus, dass sowohl FOX als auch in etwas geringerem Umfang CNN ihre aggressiven Fragen ("Gotcha-Fragen") aus dem Sichtpunkt der republikanischen Partei stellten, während CNBC einen deutlich kritischeren Standpunkt einnahm. Nun ist das natürlich eigentlich zu erwarten. Der Sinn der Debatten ist es ja gerade, Schwachpunkte bei den Kandidaten herauszufinden und nicht, sie vor großem Publikum ihre Wahlkampfreden halten zu lassen.


Genau das aber gaben die Kandidaten als neues Ziel aus. Vertreter aller Kandidaten trafen sich nach der Debatte, um einen Forderungskatalog auszuarbeiten, der den TV-Sendern für die anderen Debatten vorgelegt werden sollte. Gleichzeitig sagte der RNC eine im Frühjahr geplante Debatte beim Sender NBC ab. CNBC ist ein Tochtersender von NBC, und der RNC unter seinem unglücklich agierenden Chef Reince Priebus versuchte so, Stärke zu demonstrieren. Interessanter als diese Absage (die übrigens nicht ohne Präzedenzfall ist, die Democrats sagten 2007 eine Debatte bei FOX unter ähnlichen Umständen ab) ist jedoch das Verhalten der Kandidaten. Nachdem sie sich auf der Bühne alle hinter dem Cruz'schen Ductus der ehrlichen Empörung versammelt hatten, so unfair von den Medien behandelt zu werden, bröckelte ihre Einheit über das Wochenende bereits wieder.


Denn während zwar alle Kandidaten versuchen, sich mit übersteigerter Kritik an den Medien zu profilieren (eine Diskussion, die viele Ähnlichkeiten zur deutschen "Lügenpresse"-Kritik aufweist), sind sie immer noch in einem harten Wahlkampf gegeneinander, in dem sich ihre Interessen nicht gerade überlappen. Unter der Führung von Ben Carson hatten sich einige andere Kandidaten (vor allem vom Kid's Table, etwa Bobby Jindal und Lindsay Graham) aufgemacht und einen offenen Brief an die TV-Sender mit einer Reihe von Forderungen verfasst. Ein großer Teil davon befasste sich mit organistorischen Dingen (die Temperatur in der Halle, die Verfügbarkeit von Toiletten, etc.), aber einige Forderungen waren deutlich substanziellerer Natur. So verbitten sich die Kandidaten fortan Fragen, auf die sie die Hand heben sollten (diese sind häufig peinlich für alle Beteiligten, wie als sie 2012 alle per Handsignal erklärten, selbst dann nicht die Steuern um einen Dollar erhöhen zu wollen, wenn dem 10 Dollar in Kürzungen gegenüberstünden) oder Fragen, auf diese nur mit "Ja" oder "Nein" antworten dürfen.


Carson und seine Verbündeten gingen aber wesentlich weiter, weswegen die meisten anderen Kandidaten - allen voran Trump, aber auch Rubio, Bush, Cruz und Kasich - inzwischen erklärt haben, den Brief nicht zu unterzeichnen. Carson wollte nämlich nicht nur, dass künftig nur radikalkonservative Moderatoren die Debatten leiten dürfen (etwa Rush Limbaugh) sondern auch, dass die Eröffnungs- und Schlussstatements der Kandidaten bis zu fünf Minuten dauern sollen, ununterbrochen - das macht bei zehn Kandidaten 100 Minuten. Da die Debatte selbst nur 120 Minuten dauern soll, inklusive Werbeunterbrechung, würde Carsons Forderung darauf hinauslaufen, die Debatte vollkommen abzuschaffen. Damit legt die Debatten-Debatte auch die inneren Widersprüche von Carsons Kandidatur offen. Kritische Nachfragen wie die nach der Funktionsfähigkeit seines Steuerplans, der an Komplexität und Plausibilität kaum Herman Cains 9-9-9-Plan übertrifft, wie bei CNBS erneut deutlich wurde, oder Mannatech sind für Carson gefährlich. Seine ungebrochen hohe Zustimmung basiert vor allem darauf, dass man wenig über ihn weiß. Sein persönliches Charisma und seine Lebensgeschichte sind die ganze Basis einer Kandidatur, die mehr und mehr nach einem reinen Business-Unternehmen aussieht.


Trump, Cruz und Rubio dagegen leben davon, starke Momente in der Debatte selbst zu haben. Dazu kommt, dass eine von Limbaugh moderierte Debatte die Kandidaten allesamt so weit nach rechts drücken würde, dass die general election ein Albtraum würde. Es ist daher unwahrscheinlich, dass Carson mit seinen Forderungen durchdringen wird. Die Frage ist nur, ob seine Konkurrenten es den ostentativ verhassten Medien überlassen, den Darling der Evangelikalen zu demontieren oder ob sie nachhelfen. Trump hat bisher erstaunliche Zurückhaltung im Falle Carson bewiesen und konzentriert seine Energie vor allem auf Rubio. Meine Vermutung wäre, dass es die anderen Kandidaten ähnlich halten werden, denn Kasichs Versuch vor und während der CNBC-Debatte, den programmatischen Irrsinn Carsons direkt zu attackieren, ging eher nach hinten los.


Die Debatten-Debatte offenbart aber auch noch etwas anderes über den gesamten Wahlkampf. Konnte man bisher annehmen dass es normal sei, dass die Kandidaten auf ihre Schwächen hin abgeklopft werden und dass ein zentrales Evalutionsinstrument ihr Umgang damit wäre - eine Ansicht, die sich in der CNBC-Eröffnungsfrage nach ihren Schwächen direkt ausdrückt - so versuchen die Republicans, die ganze Debatte als reine Wahlkampfplattform zu nutzen und nur ihre Stärken zur Schau zu stellen. Dies ist natürlich kurzfristig von Vorteil, kann aber auch mittelfristig und langfristig schwere Nachteile mit sich bringen. So ist Obamas Reaktion auf die Debatte mehr als zutreffend, selbst wenn er natürlich die Gelegenheit nutzt, einige Punkte zu kassieren: "Every one of these candidates says, 'Obama's weak, Putin's kicking sand in his face. When I talk to Putin, he's going to straighten out. And then it turns out, they can't handle a bunch of CNBC moderators. If you can't handle those guys, I don't think the Chinese and the Russians are going to be too worried about you."


Je offensichtlicher es wird, dass die Republicans unangenehmen Fragen ausweichen wollen, desto schwächer erscheinen sie gegenüber Hillary Clinton, die gerade erst einen 11-Stunden-Marathon einer mehr als parteiischen und unfairen Befragung im Kongress ohne Fehler hinter sich gebracht hat. Für die general election verheißt das nichts Gutes - und erst Recht nicht, sollte einer der republikanischen Kandidaten tatsächlich der nächste Präsident werden. Weder Clinton und ihr Wahlkampfteam noch die Verhandlungspartner Amerikas werden dieselben Samthandschuhe anziehen, die die Republicans gerade für sich verlangen. Als Bewerbungsschreiben um das Amt der mächtigsten Person der Welt ist das nicht gerade ein positives Zeichen.

Donnerstag, 29. Oktober 2015

Die Kandidaten 2016: Jeb Bush

Als wir die Serie begonnen haben, hätte ich nicht damit gerechnet, dass ich irgendwann einmal Zeitdruck damit verspüren würde, Jeb Bush als Kandidaten zu analysieren. Ich habe selbst ziemlich selbstsicher die Prognose gewagt, dass er - sofern nicht eine größere Katastrophe dazwischen kommt - der republikanische Kandidat wird. Mit dieser Einschätzung stand ich nicht gerade allein. Im Frühsommer hatte Bush bereits über 100 Millionen Dollar an Wahlkampfspenden für seinen PAC "Right to Rise" eingesammelt und schien das republikanische Establishment in der Tasche zu haben. Nun, am Tag nach der dritten republikanischen TV-Debatte, sieht es eher so aus, als würde er bald denselben Weg gehen wie Scott Walker und seine Kandidatur noch lange vor dem offiziellen Beginn der primaries im Februar zurückziehen müssen. Gab es eine Katastrophe? Oder war Bush nur viel schwächer, als es immer den Anschein hatte?


Der Vergleich Bushs mit Walker drängt sich aus mehreren Gründen auf. Zusammen mit Rubio waren die beiden von vornherein die "ernsthaften" Kandidaten, die man sich tatsächlich - anders als die derzeit in Umfragen vorne liegenden Trump, Carson und Fiorina - im Wettstreit mit Hillary Clinton und im Weißen Haus vorstellen konnte. Und wenn es eine Formulierung gab, die in den Medien nach Scott Walkers Rückzieher in aller Munde war, dann die, dass er "auf dem Papier" stark gewesen war. Dasselbe gilt auch für Bush. Eigentlich sollte er stark sein. Er ist es nur nicht. Die Frage ist nur, warum.

Walker etwa schien die Unterstützung der konservativ-evangelikalen sicher in der Hand zu haben. Als Gouverneur hatte er immer eine konfrontative, an der reinen Lehre ausgerichtete Politik betrieben. Ebenso Bush - zu Anfang des Wahlkampfs verwies er gerne auf seine Zeit als Gouverneur von Florida, in der der großzügigen Gebrauch vom Veto machte, das Budget zusammenstrich und die Steuern kürzte. In einem normalen Wahlkampf unter Politikern würde es ihren Gegnern auch schwerfallen, sie auf dieser Seite zu flankieren. Nur kämpfen sie nicht nur gegen andere Politiker, wie etwa Ted Cruz, Chris Christie und John Kasich. Sie kämpfen gegen Außenseiter wie Trump und Carson. Und niemand, der auch nur annähernd versucht, an seine spätere Wirkung im Duell gegen Clinton zu denken, kann stärkere Aussagen machen als sie.

Denn Trump und Carson sind vor allem eins: Showdarsteller. Sie müssen sich nicht darum kümmern, ob ihre Aussagen von fact checkern gegengeprüft werden. Als Bush verkündete, dass seine Wirtschaftspolitik, wenn er Präsident werden würde, für 4% Wachstum pro Jahr sorgen würde gab es in den Medien Kritik daran, wurde ihm vorgeworfen, Fantasiezahlen zu verkünden. Bei Trump und Carson macht sich kaum jemand überhaupt die Mühe, ihre Aussagen zu überprüfen - sie sind so offensichtlich Blödsinn, dass man sie erst gar nicht ernst nimmt. Aber sie ziehen die entsprechende Aufmerksamkeit völlig auf sich und bedienen das Element des "Washington Outsider", des Nicht-Politischen. Genau das ist es, was die Wähler der Republicans gerade wollen. Einen radikalen Bruch, eine Entmachtung des Establishments. Und niemand verkörpert das Establishment so sehr wie Bush, der Darling der großen Spender und Parteieliten, der zwar zig Millionen von der Wallstreet bekommt, bei den Kleinspenden noch von Bobby Jindal überholt wird.

Dadurch hatte Bush von Anfang an deutlich weniger Wind in den Segeln. Es würde allerdings nur das Narrativ der Bush-Familie bestätigen, wenn man es bei dieser einfachen Beschreibung beließe. Ja, die Basis der Republicans ist gerade meilenweit davon entfernt, auch nur annähernd realistische Vorstellungen von ihren politischen Möglichkeiten zu haben. Aber es ist nicht so, dass diese Entwicklung wie aus heiterem Himmel über die Bushs kam. Die letzten beiden Präsidenten mit dem republikanischen Parteibuch hießen beide Bush. Es war von Anfang an offensichtlich, dass es zumindest ein wenig Widerstand von der Basis gegenüber der Idee geben würde, ausgerechnet den Bruder der beiden Präsidenten mit den niedrigsten Zustimmungswerten im letzten halben Jahrhundert zu nominieren. Nur war es vernünftig gewesen davon auszugehen, dass Bush eine Strategie für dieses Problem hätte.

Genau diese Annahme aber war offensichtlich falsch. Und ich muss zugeben dass mich das verblüfft. Wie kann jemand, der auf einen solchen kollektiven Erfahrungsschatz und so erfahrene Berater zurückblicken kann so unflexibel sein? Vor dem Eintritt Trumps in den Wahlkampf war Bushs Strategie eindeutig gewesen - und auch von ihm entsprechend formuliert: shock and awe hießt das Prinzip, in Anklang an die im Irakkrieg gewählte Strategie der US Army. Die gewaltige Überlegenheit Bushs in Wahlkampfspenden, in politischer Infrastruktur und in Insiderunterstützung sollte seine Konkurrenten noch vor der ersten Debatte in die Knie zwingen. Damals machte das Sinn: programmatisch passte und passt zwischen Rubio und Bush kaum ein Blatt Papier, und Bush hatte sämtliche Netzwerke und großen Spender und einen Haufen Erfahrung, die er gegen Rubio ausspielen konnte. Gegen Walker dagegen konnte er sich als moderate, vernünftige Alternative und bessere Wahl für die general election präsentieren. Alles sah gut aus, bis Trump, Carson und Fiorina als trio terribile die Rechnung durcheinander brachten. Plötzlich kämpften alle Kandidaten darum, in den Worten Mitt Romneys severely conservative zu sein. Das erklärt aber immer noch nicht, warum Rubio plötzlich als neuer GOP-Kronprinz im Rampenlicht steht.

An dieser Stelle kommen zwei Faktoren ins Spiel: Bushs kaum zu glaubende Schwäche bezüglich seines Familiennamens und seine Ähnlichkeit mit Hillary Clinton. Aber der Reihe nach.

Tatsächlich hatte sich Bush auf Angriffe vorbereitet, die ihn lediglich als Wurmfortsatz der Präsidentschaft seines Bruders George W. Bush betrachten. Seine Verteidigungslinie "I'm my own man" hätte sicher auch halten können. Nur ging er von falschen Voraussetzungen aus. Er dachte, der größte Nachteil der Präsidentschaft seines Bruders würde der Vorwurf von Familiendynstien und Vetternwirtschaft sein, wie ihn auch Clinton aushalten musste - die sich relativ gut von ihrem Mann absetzen konnte, was in Jeb Bushs Strategie ja auch vorgesehen war: auf Differenzen mit seinem Bruder angesprochen erklärte er immer, dass er wirklich (ganz bestimmt!) sparen werde und nicht wie Dabbelju mit neuen Sozialleistungen und teuren Kriegen das Defizit aufblasen würde. Gleichzeitig gab er die Schuld dafür dem eh unbeliebten Kongress, was ihn vom Vorwurf der Disloyalität befreite. So weit, so gut.

Nur hielten sich seine Gegner nicht ans Drehbuch. Offensichtlich hatte Jebs Wahlkampfplanung damit gerechnet, dass der Angriff von den Democrats kommen würde, aber die waren sich immer noch nicht sicher, ob sie Bush sein Versagen in Irak und Afghanistan wirklich vorwerfen konnten, vom offensichtlichen Problem des größten Terroranschlags aller Zeiten einmal ganz abgesehen. Bush spekulierte wohl darauf, dass es die Democrats wie seither nicht wagen würden, Dabbelju dieses Versagen vorzuwerfen, um sich nicht dem Vorwurf der Pietätslosigkeit auszusetzen. Eine vernünftige Rechnung, und die Democrats halten sich hier auch weiterhin zurück. Wozu sollten sie auch in eine Schlammschlacht einsteigen? Den Job hat ihnen Donald Trump abgenommen, dem man übermäßige Pietät noch nie vorwerfen konnte. Er wies darauf hin, dass Jebs Bruder nicht erst nach 9/11 Präsident wurde - Bushs Mantra "my brother kept us safe" wurde plötzlich von innen attackiert. Wäre es ein Democrat gewesen, Bush hätte nichts besseres passieren können, denn die Republicans hätten sich notgedrungen hinter ihm zur Verteidigung seines Bruders scharen müssen. Stattdessen traten sie taktvoll zur Seite, während Trump mit dem Instinkt des Bullies die Schwäche Bushs gnadenlos ausnutzte.

Und hier kommt Bushs Ähnlichkeit mit Hillary zum Tragen. Beide sind relativ alt. Beide stammen aus Politikerdynastien. Beide sind nicht gerade für übersprühenden Esprit bekannt. Beide sind Geschöpfe ihres Parteiestablishments. Nur, Hillary konnte (soweit) all diese Schwächen neutralisieren. Bush verstärkte sie alle. Seine Versuche, Trump Grenzen aufzuzeigen scheiterten jämmerlich in der Debatte, als sich Trump einfach rundheraus weigerte, sich zu entschuldigen. Jede kernige Aussage Bushs, jede persönliche Anekdote, jeder Scherz wirken peinlichst einstudiert und künstlich, noch schlimmer als bei Clinton. An dieser Stelle macht sich die Pause, die Bush seit seinem Ausscheiden aus dem Gouverneursamt 2007 machte, deutlich bemerkbar. Clinton hat wesentlich mehr Übung darin, diese Schwächen auszubügeln. Jeder öffentliche Auftritt Bushs verschärfte damit seine Probleme - und gleichzeitig gelang es Rubio zu glänzen. Er tat in Debatten und Interviews genau das, was man von Bush erwartet hätte.

Entsprechend sind Bushs Spenden nach unten gerauscht. Obwohl er im dritten Quartal 2015 immer noch rund 15 Millionen Dollar einfahren konnte, musste er sein Budget deutlich kürzen, Mitarbeiter entlassen, von Privatjets auf Linienflüge umsteigen und billigere Hotels buchen. Das muss für ihn nicht das Ende bedeuten - auch John McCain musste 2008 solche Kürzungen vornehmen und sackte in den Umfragen ab, ehe er sich erhohlte - aber Bush ist ein schwächerer Kandidat als es McCain war und hat stärkere Konkurrenz. Es ist zu früh, um ihn vollständig abzuschreiben. Aber wie es scheint ist der Kandidat selbst nicht mehr mit vollem Herzen bei der Sache, hat er sich doch in Interviews erst jüngst darüber ausgelassen, "eine Menge coole Dinge" tun zu können, und dass man ja Trump wählen könne, wenn man mit ihm nicht einverstanden sei. Wenn er nicht bald einen neuen Ansatz für seine Kampagne findet, könnte es genauso kommen.

Samstag, 17. Oktober 2015

Die Kandidaten 2016: Ben Carson

Neben Donald Trump führt gerade ein weiterer Außenseiter die Umfragen für die republikanischen primaries an: Ben Carson. Gegenüber dem schillernden Immobilienmogul könnte Carson kaum unterschiedlicher sein. Aus ärmsten Verhältnissen stammend, arbeitete sich der Afroamerikaner im Selbststudium bis nach Harvard vor, wurde Neurochirurg und einer der profiliertesten Experten auf seinem Gebiet. Seine Lebensgeschichte "Gifted Hands" ist ein Bestseller und eine Inspirationsquelle für seine Fans. Carson selbst hat eine sehr ruhige, fast einschläfernde Art. Er kann nicht gerade große Reden schwingen. Verglichen mit Trumps lauter Angeberei sieht er beinahe bescheiden aus, und entsprechend geprägt ist auch das Narrativ der Berichterstattung. Carson gilt als intellektueller Außenseiter, der leise und sanft spricht und sich selbst sehr zurücknimmt. Dieses Bild dürfte nicht wenig zu seinen Umfrageerfolgen beigetragen haben, ist jedoch alles andere als zutreffend.

Carson betrat die politische Bühne relativ spät. Zum ersten Mal geriet er 2013 in das Scheinwerferlicht einer bundesweiten Aufmerksamkeit, als er beim National Prayer Breakfast in Anwesenheit Obamas eine harsche Kritik der "political correctness" abgab und sich mit stark sozialkonservativen Positionen in die Herzen der republikanischen Partei sprach. Seine starke Religiosität (er ist Mitglied der Seventh-Day-Adventists, einer religiösen Splittergruppe, die eine sehr wörtliche Auslegung der Bibel praktiziert), seine erzkonservativen Ansichten (etwa die Feindschaft zur Homoehe) und seine konservativen innenpolitischen Positionen (etwa die Ablehnung von Obamacare oder der Legalisierung von Cannabis) haben ihn zu einem glaubwürdigen Vertreter von republikanischen value voters gemacht (mehr dazu siehe hier). Entsprechend wurden nach seiner Rede auch schon Stimmen laut, die seine Kandidatur für die Präsidentschaft forderten. Sein Rücktritt von allen medizinischen Funktionen erlaubte es ihm, sich künftig auf seine politische Karriere zu konzentrieren, die er mit seinen Büchern "One Nation" und "A More Perfect Union" unterfütterte.

Während seine Positionen auf dem Gebiet der sozialkonservativen Positionen relativ klar sind, sind sie besonders auf dem ökonomisch-fiskalischen Feld sowie in der Außenpolitik deutlich nebulöser. Carson sprach sich etwa für eine Flat-Tax und gegen ein progressives Steuersystem aus, während er auf außenpolitischem Gebiet hauptsächlich die übliche Unterstützung von Israel und Gegnerschaft zum Iran ausgibt, ohne allzu konkret zu werden. Unklar war lange Zeit auch seine Position zum Waffenbesitz: während er vor seiner Kandidatur noch Aussagen machte, die sich als Befürwortung von Waffenregulierung deuten ließen, hat er seither erklärt, sich nur unklar ausgedrückt zu haben: Während die vielen Opfer von Schusswaffen schrecklich seinen, sei es nicht so schrecklich wie die Bevölkerung wehrlos gegenüber möglichen Tyrannen zu lassen. Damit befindet sich Carson auch auf diesem Gebiet inzwischen klar im republikanischen Mainstream.

Bevor ich mich einer tiefergehenden Analyse von Carsons Positionen, Stil und Erfolg zuwende, möchte ich einen Disclaimer voranstellen. Ich empfinde Ben Carson als den mit Abstand moralisch abstoßendsten Kandidaten der republikanischen primaries, noch vor Trump. Ich hoffe die Gründe hierfür im Folgenden deutlich zu machen, möchte aber nicht versuchen die Illusion aufzubauen, ihn mit demselben Abstand betrachten zu können wie etwa Marco Rubio.

Eine erste Auffälligkeit bei Carson, die noch weit über Trumps offensives Ignorieren politischer Gegebenheiten hinausgeht, ist seine völlige Realitätsferne und offensichtliche Unwissenheit auf vielen Gebieten. Für einen Präsidentschaftskandidaten sind Carsons Wissenslücken wahrlich alarmierend. So ist ihm offensichtlich nicht klar, wie der Mechanismus des debt ceiling funktioniert, was jedem halbwegs informierten Zeitungsleser spätestens seit, nun, 2013 bekannt sein müsste. Gefragt, wie seine Haushaltspolitik aussehen würde, war als einzige konkrete Aussage zu entlocken, dass er alle Budgets unterschiedlos um 3% bis 4% kürzen würde. Warum das völlig irrsinnig ist, hat Jordan Weissman hier erklärt. Auch die Funktionsweise der Geldpolitik oder die grundlegende Problematik von wirtschaftlicher Ungleichheit entgehen ihm völlig. Der Steuersatz seiner Flat-Tax (10%) beruht nicht auf irgendwelchen ökonomischen Überlegungen oder Berechnungen, sondern stammt aus der Bibel. Das ist kaum weiter als Herman Cain 2012, dessen 9-9-9-Steuertarif 2012 wohl direkt aus dem Computerspiel SimCity übernommen wurde.

Natürlich stellen auch andere Kandidaten unmögliche Pläne auf, ob man Jeb Bushs 4%-Wachstums-Plan oder Rubios unbezahlbare Steuerkürzungen hernimmt. Aber bei diesen Kandidaten (und ja, auch bei Trump) hat man wenigstens das Gefühl, dass sie aus politischer Berechnung handeln und wissen, dass es in der Realität des Weißen Hauses anders aussehen wird. Carson weiß aber eindeutig nicht, wovon er spricht. Das macht ihn unter den Kandidaten einzigartig.

Die Probleme mit Carson enden aber nicht hier. Denn seine leise und teils schlicht undeutliche Art zu sprechen, ohne besondere Höhen und Tiefen, erweckt den Eindruck eines fast schon gleichmütig-heiteren Kandidaten, der ähnlich Bernie Sanders auf Seiten der Democrats für einen positiven Wahlkampf ohne den tiefen Griff in die Schmutzkiste auskommt. Nichts könnte ferner von der Wahrheit sein, auch wenn es eine schöne Geschichte ist. Carsons Wortwahl steht der von Trump in nichts nach und ist vielleicht sogar noch schlimmer. So bezeichnete er Obamacare als "die schlimmste Katastrophe für die Amerikaner seit der Sklaverei", erklärte das System der progressiven Besteuerung zum "Sozialismus", benutzt völlig inflationär Hitler- und Nazivergleiche (unter anderem für political correctness, die er mit der SA-Hetze von 1933 gleichsetzt), warnt vor der Erklärung des Ausnahmezustands durch Obama wenn die Republicans die Wahl 2016 verlieren, geht davon aus dass die biblische Apokalypse bald bevorsteht und vieles mehr. Auch seine angebliche Bescheidenheit ist schlichtweg eine Erfindung der Spin-Doktoren. Betrachtet man etwa dieses Interview mit Fox-News oder seine vielzitierten Kommentare zum Massaker in Oregon erkennt man schnell, wie ungeheuer eingebildet Carson ist und wie wenig Gespür er dafür hat, wie seine Worte außerhalb der Filterblase ankommen.

Und genau das ist das Problem. Bisher findet Ben Carson ausschließlich innerhalb der Filterblase statt, quasi in einer Echokammer der republikanischen Radikalen (etwas, das mit Abstrichen auch für Bernie Sanders auf der Linken gilt). Würden seine Äußerungen mit derselben Rigorosität analysiert, geprüft und bewertet werden wie dies bei ernsthaften Kandidaten - Hillary Clinton, Jeb Bush, Marco Rubio et al - der Fall ist, seine Kandidatur wäre dead in the water. Stattdessen aber profitiert Carson davon, eine gute Projektionsfläche abzugeben. Einerseits kontrastiert er schön mit den anderen Kandidaten und kann sich das Mäntelchen des Outsiders umhängen, der, frei von der Korrumpierung des politischen Prozesses, ohne Rücksicht auf political correctness sprechen kann. Dafür besteht offensichtlich großer Bedarf. Gleichzeitig macht es eine Wahl Carsons aber unvorstellbar. Selbst in den primaries dürfte sein Appeal beschränkt sein, denn hinter der ruhigen Fassade steht effektiv ein Extremist mit toxischen und teils menschenverachtenden Positionen.

Ben Carson ist ein Wolf im Schafspelz, oder besser eine Natter. Weil er für so viele seiner giftigen Ideen so lange einen Freischein in den Medien bekommen hat, sind diese Ideen tief in die republikanischen primaries eingesunken. Die Nation debattiert nun ernsthaft, ob die Überlebenschancen im Falle eines Massakers besser sind, wenn man à la Carson den Schützen direkt angreift, und ob dies als Sicherheitspolitik ausreicht. In sämtlichen Medien wurden Argumente vorgebracht, ob der Holocaust erst dadurch möglich gemacht wurde, dass die Juden keine Feuerwaffen hatten. Nicht nur wird damit verhindert, dass über ernsthafte Lösungen gesprochen wird. Irgendetwas von dem Irrsinn bleibt immer auch hängen. Der unvermeidliche Niedergang Carsons in den Umfragen kann daher gar nicht schnell genug kommen. Noch mehr als Trump verkörpert er alles, was faul ist im demokratischen Prozess der USA, was an giftigen und ekligen ideologischen Unterströmungen durch die Gesellschaft läuft.

Montag, 12. Oktober 2015

Gottvertrauen in die Verwaltung

Helmut Kohls Kanzlerschaft 1989 war alles andere als eine Erfolgsgeschichte. Verspottet von der Hauptstadtpresse, durch diverse Pannen und Peinlichkeiten gerutscht, waren die Umfragewerte der CDU damals furchtbar, der Machtverlust im Bundesrat drohte. Zudem war die Partei von einem inneren Machtkampf um die Nominierung des Generalsekretärs gespalten. In dieser Situation hatte Lothar Späth, Ministerpräsident von Baden-Württemberg, Kohl zu ersetzen versucht und war gescheitert. Nicht gerade eine Situation, in der man noch Großes von Kohl erwartete. Acht Wochen später fiel die Mauer, und Kohl, den man immer als Provinzpolitiker verspottet hatte, erwies sich als großer Stratege. Es ist wohl nicht übertrieben, die deutsche Einheit in ihrer Form ihm zuzuschreiben und seine Entschlossenheit zu bewundern. Der Mantel der Geschichte wehte, und Kohl warf ihn sich mit einer Entschlossenheit um, die viele seiner Zeitgenossen völlig verblüfft zurückließ. Es ist nicht bekannt, ob Merkel sich ähnlich fühlte, als sie die deutschen Grenzen effektiv öffnete und das Mantra "Wir schaffen das" in die deutsche Politlandschaft warf. Vergleichbar sind beide Ereignisse aber nicht nur wegen ihrer potenziell epochalen Wirkung.

Kohls aggressive Schritte zur Einheit, besonders die schnelle Wirtschafts- und Währungsunion (Sommer 1990) mit dem Umtauschkurs 1:1 für D-Mark und Ostmark, der nicht nur nach Ansicht von Oskar Lafontaine wirtschaftlich völlig unhaltbar war, riefen damals große Befürchtungen hervor. War man gerade dabei Verpflichtungen zu übernehmen, die nicht nur Ostdeutschland, sondern auch Westdeutschland in einen Strudel der Rezession reißen würde? Jedem halbwegs vernünftigen Beobachter war klar, dass dieser Prozess lange dauern würde, egal, ob Kohl "blühende Landschaften" innerhalb von drei Jahren und ohne Kosten für die Westdeutschen versprach. Die Parallelen zu den Flüchtlingen, von denen wir eine große "Demographierendite" ernten werden, die deren Integrationskosten über steigendes Wirtschaftswachstum quasi selbst bezahlt, sind offenkundig. In beiden Fällen entschloss sich ein CDU-Kanzler zur radikalen Alternative, verkündete dass alles gut werde und dass man sich sowieso keine Sorgen zu machen brauche: alles wird gut, wir schaffen das, kein Problem.

In beiden Fällen wäre nicht bekannt, dass sich jener Kanzler allzuviel mit dem Micromanagment herumgeschlagen hätte, das diese Entscheidung begleitet. Unter Kohls wehendem Geschichtsmantel befand sich eine heillos überraschte und überforderte Administration, die nicht einmal ernsthaft versuchen konnte, den Ausverkauf der DDR in halbwegs geordnete Bahnen zu lenken oder eine Bestandsaufnahme durchzuführen, auf deren Basis informierte Politik möglich wäre. Stattdessen wurde getan, was man konnte, um die offensichtlichsten Probleme unter Kontrolle zu bekommen - und das war damals vor allem die Verhinderung einer massiven Wirtschaftsflucht nach Westdeutschland, was - das muss man auch sagen - immerhin gelungen ist. Die Wirtschaftsflucht hat sich stattdessen über 25 Jahre gestreckt, was heute immerhin viele leerstehende Immobilien in Ostdeutschland für Flüchtlinge mit sich bringt.

Auch Merkels "Wir schaffen das" war nicht unbedingt in dem Sinne zu verstehen, als dass sie sich zu dem "wir" zählen würde. Die eigentliche Verwaltung der Flüchtlinge übernehmen die Bundesländer und die Kommunen, und die sind heillos überfordert. Wie bereits bei der Einheit verwaltet die Bundespolitik hauptsächlich den Ausnahmezustand - hier indem sie die D-Mark schnellstmöglich in den Osten bringt, dort, indem die Gesetze soweit gestreckt werden dass Erstaufnahmelager sechs statt drei Monate Flüchtlinge in Turnhallen lagern lassen dürfen. Die schmutzige Umsetzung im Räderwerk des Staatsgetriebes bleibt den nachgeordneten Verwaltungsapparaten überlassen.

Man kann dies positiv als eine Art Gottvertrauen der Kanzler in die deutsche Bürokratie interpretieren. Schon in Preußen konnte man sich schließlich darauf verlassen, dass Stempel und Formulare letztlich alles regeln werden. Wahrscheinlicher allerdings ist es, dass es sich nur um solide politische Instinkte handelt. Der Kanzler der Einheit und die Kanzlerin der Flüchtlinge (mangels eines besseren Wortes) schwebten gleichsam über dem Chaos, das ihre Entscheidungen wie Dominoeffekte in die unteren Verwaltungsebenen gebracht hatten.

Das soll auch gar nicht übermäßig schnippisch oder negativ klingen. Niemand hätte diese Herausforderungen einfach leisten können, und ob die Alternativen, die aus der Rückschau dann immer viel besser, vernünftiger und sowieso vorhersehbarer aussahen wirklich gangbar gewesen wären weiß letztlich niemand. Zuversichtlich kann man lediglich konstatieren, dass sowohl Merkel als auch Kohl weniger aus Motiven der policy denn aus Begriffen der politics handelten: nicht konkrete Maßnahmen und zu erwartende Vor- und Nachteile bestimmten ihre Überlegungen, sondern politische Kalkulationen. Für Kohl stand die Frage im Vordergrund, wie groß das Zeitfenster war, innerhalb dessen er die Einheit verwirklichen konnte und wie lange die DDR-Bürger "drüben" bleiben würden, wenn die Grenze erst einmal offen war. Für Merkel muss die Frage deutlich gewesen sein, wie sie die deutsche Grenze überhaupt gegen den Zusammenbruch des Dublin-II-Systems hätte schützen wollen, und ob es noch eine realistische Möglichkeit gab, die Masseneinwanderung zu verhindern. Beide haben ihre Entscheidungen getroffen. Danach konnten sie sich nur noch auf die Verwaltungen verlassen. In beiden Fällen steht eine Evaluation noch aus.