Donnerstag, 16. April 2015

Der Mythos von der Beliebigkeit der CDU

Auf Roland Tichys Homepage beklagt sich Hugo Müller-Vogt, eines der Sturmgeschütze der BILD, über die Beliebigkeit der CDU. Es sei gar nicht mehr auszumachen, in welche Richtung der Kompass zeige, und überhaupt richte Merkel sich fast nur nach Meinungsumfragen. Müller-Vogt hat natürlich immer noch die Phantomschmerzen von 2005, als die CDU das kaum zwei Jahre alte Leipziger Programm begrub, was ihn irgendwie zum Ottmar Schreiner von rechts macht. Aber die These, dass die CDU von Merkel völlig entkernt wäre und nach einem so genannten "Pragmatismus" von Meinungsumfragen getrieben regiere - das Paradox findet sich unbemerkt auch bei Müller-Vogt - ist Unsinn. Die CDU hat sich weit weniger verändert, als das von den Kommentatoren gerne kolportiert wird. Das macht natürlich eine weniger griffige Geschichte, kommt aber der Wahrheit näher. Trotz Atomausstieg und Rente mit 63.

Um sich klarzumachen, warum das so ist, müssen wir zuerst einmal begreifen, dass nicht die Abkehr von Leipzig, sondern Leipzig selbst der Sonderfall war. Der damalige mediale und parteipolitische Konsens, dass es dringend einer Agenda 2010, Agenda 2020 und am besten gleich Agenda2030 bedürfte, mit möglichst großen Streichungen, Senkungen und Kürzungen war letztlich ein Fieber. Es brannte heiß und intensiv, aber kurz. Die Welle begann langsam in den frühen 1990er Jahren und findet einen ersten Höhepunkt in Roman Herzogs berühmter "Ruck-Rede" und der nachfolgenden Debatte vom "Reformstau", der freilich bis zur Agenda 2010 nicht angegriffen wurde. Sowohl 1998 als auch 2002 gewann die SPD ihre Wahlen dezidiert mit einem Programm von Solidarität und Stabilität bei mäßiger Modernisierung. Kuschel-Reformen, sozusagen. Kohl 1998 unterschied sich mehr in Mentalität und Charme als Programm. Auch 2002 war der Gegenpart von Rot-Grün nicht sonderlich stark akzentuiert: CSU-Kandidat Stoiber präsentierte die bayrische Lösung, die immer schon auch einen starken Sozialaspekt enthielt, und die FDP setzte auf den Spaßwahlkampf und das Guidomobil.

Erst die Hartz-Kommission und die Agenda 2010 ließen das Thermomether, das vorher vor allem eine mediale und lobbyistisch geprägte Debatte war, auch politisch ansteigen. Die SPD wurde mit den bekannten Folgen von Schröder brachial auf den neuen Kurs gebracht, die CDU setzte sich in Leipzig mit Merz als Flaggschiff in Szene und die Versprechen von harten Reformen überschlugen sich. Das Fieber hielt zwei Jahre. 2005 riss Schröder, der es erst richtig in Gang gesetzt hatte, das Steuer mit dem Wahlkampf brutal herum und fuhr auf einem hart an 1998 erinnernden Kurs einen respektabel knappen zweiten Platz ein. Das völlige Debakel der CDU vernichtete die Plattform von Merz und Kirchhof. In der Großen Koalition war es dann eher die SPD, die den Abschluss der Agenda vorantrieb. Die CDU kehrte zurück zu ihrem in Dekaden bewährten Konzept, leise über die harten Dinge und laut über den Rest zu sprechen. Nach 2005 war die CDU wieder die Partei, was sie immer gewesen war. 2003 war der Versuch gewesen, eine riesige FDP zu werden. 2009-2013 zeigt, was die Konsequenz war.

Und ja, es ist wahr dass Merkel im Angesicht krasser Umfragewerte den endgültigen Atomausstieg vollzog und dass sie nun wohl der Homoehe ihren Segen geben wird. Das haben andere CDU-Kanzler vor ihr nicht anders gehalten. Niemand regiert lange gegen den Trend. Die CDU hat in ihrer Geschichte immer wieder Dinge akzeptiert, die vorher nie vorstellbar waren, ob in Regierung oder Opposition. Die Pille und die Abtreibung blieben unter der CDU legal, die Ostpolitik wurde nicht aufgegeben, und dass Kohl kein Problem hatte, angesichts der vox populi die D-Mark im Kurs 1:1 gegen die Ostmark zu tauschen ist auch bekannt. Der Zeitgeist ist auf dem gesamten gesellschaftspolitischen Feld gegen die CDU, und sie passt sich an, um zu überleben. Die Krümel überlässt sie dabei der AfD. Aber sehen wir uns einmal an, wo Merkel nicht nur nicht einen Fußbreit Boden geopfert hat, sondern sogar die gesamte andere Parteienlandschaft auf ihren Kurs eingeschworen hat.

Das betrifft einerseits das Feld der Wirtschaftspolitik und andererseits das Feld der Innenpolitik. Ersteres mag auf den ersten Blick überraschen. Hat die CDU nicht mit den Mindestlohn umgesetzt und die Rente mit 63? Natürlich, aber beides widerspricht keinesfalls dem CDU-Markenkern. Eine Wirtschaft mit menschlichem Antlitz war schon immer ihr wichtigstes Unterscheidungsmerkmal gegenüber der FDP. Es war die CDU, die das korporatistische Modell in den 1950er Jahren etabliert hat. Die CDU ist und war schon immer die Partei der großen Konzerne, nicht der kleinen Unternehmen, und hat viel weniger Probleme mit Regulierungen als es die FDP hat, deren Klientel darin einen stärkeren Wettbewerbsnachteil gegenüber der CDU hat. Aber noch viel deutlicher sehen wir das in Deutschland in der Schuldendebatte: kaum etwas ist eine so klassisch konservative Idee wie die Schuldenbremse. Sie hat gigantische Schneeballeffekte auf Jahre und Jahrzehnte hinaus und wird den Handlungsspielraum jeder zukünftigen Regierung definieren. Und nicht nur das, die CDU hat auch dafür gesorgt, dass jede vorstellbare zukünftige Regierung die Schuldenbremse nicht nur akzeptiert, sondern aktiv bejaht. Das ist eine mindestens so große politische Leistung wie ihre Unterwerfung unter die gesellschaftspolitische Moderne, nur wird darüber kaum geredet.

Aber noch viel deutlicher wird der vollständige Sieg der CDU auf dem Feld der Europapolitik. Die gesamte Politik der EU ist zutiefst von konservativen Ideen geprägt, genauer, von deutschen konservativen Ideen. Die Schuldenbremse wurde nicht nur auf deutscher, sondern europäischer Ebene verankert. Die CDU - vor allem ihr diesbezüglicher Frontmann Schäuble - hat sozialistische und konservativen Regierungen auf diesen Kurs eingeschworen, so sehr dass 27 EU-Staaten eine vereinte Front gegen Griechenland bilden. Die Vorstellung, dass der Austeritätskurs gegenüber Griechenland und anderen verschuldeten Staaten ein Fehler ist, dass es mehr Inflation in Deutschland und ein Investitionsprogramm in Südeuropa braucht ist effektiv eine Exotenposition.

Auch innenpolitisch hat die CDU einen fast vollständigen Sieg errungen. Sie definiert hier völlig die Agenda. Bürgerrechte sind im deutschen Mainstream praktisch kein Thema, die Vorratsdatenspeicherung wird kommen und der Verfassungsschutz, der BND und das BKA ihre aufgeblähten Kompetenzen behalten. Auch hier besteht ein Allparteienkonsens möglicher Regierungskoalitionen, der praktisch nicht aufzubrechen ist. Auch im Strafrecht verhindert die CDU erfolgreich progressivere Strukturen, ob bei kontrollierter Drogenentwöhnung oder alternativen Gefängnismodellen. Auch die gesamte Integrationsdebatte wird mit den Prämissen der Konservativen geführt. Hier ist der Kampf zwar am offensten, aber insgesamt genießen die Konservativen zumindest aktuell noch einen leichten Vorteil.

Wer der Überzeugung ist, dass konservative Ideen in Deutschland keine Basis haben, der schaut schlicht nicht genau hin.

Donnerstag, 2. April 2015

Die Tragik des Yanis Varoufakis

Je mehr man sich mit den Positionen von Yanis Varoufakis beschäftigt, desto mehr scheint es sich um eine Tragödie zu handeln, die sich vielleicht nicht in einer klassischen 5-Akt-Struktur vollzieht, aber von Zwängen und mangelnden Handlungsspielräumen geprägt ist wie die Klassiker. Varoufakis - und in extensia die gesamte griechische Regierung - ist eingeklemment zwischen ökonomischen und politischen Zwängen, die er beide ablehnt, und ist chancenlos, seine Vision für die Lösung der Krise auch nur auf das Tablett zu bringen. Sofern nicht ein Wunder passiert, dürfte er das Rücktrittsschreiben, das er nach eigener Aussage ständig in der Brusttasche trägt, bald brauchen. Varoufakis will kein Politiker sein, hat aber ein politisches Spitzenamt inne, und er will die griechische Schuldenwirtschaft nicht weiterführen, wird aber durch Verträge auf der einen und ökonomische Notwendigkeiten auf der anderen Seite dazu gezwungen. Die Erkenntnis dieses Dilemmas dürfte schmerzen, und sie wird nicht durch einen Chor unterstützt.

Varoufakis' politische Theorie ist vergleichsweise simpel. Er ist der Experte an der Spitze des Ministeriums und will versuchen, die Welt durch die Kraft seiner Argumente zu überzeugen. Aus Gründen persönlicher Integrität will er keinesfalls "ein Politiker werden", sprich, polarisieren und den Dialog zugunsten eines verdeckten Monologs einstellen, wie das in jeder deutschen Talkshow wöchentlich zu beobachten ist. Das ist auch sicher ehrenwert, aber völlig naiv. Es funktioniert innerhalb Griechenlands, weil Varoufakis seine Legitimation aus dem Wahlsieg Syrizas, quasi durch Akklamation des Volkes, sieht und Alexis Tsipras ihm den Rücken freihält, unter anderem durch die schmutzige Allianz mit den Rechtspopulisten. Auf EU-Ebene gibt es aber niemand, der ihm den Rücken freihält. Gegen die eingespielten Kontrahenten in der EU, die den politischen Prozess mit seinen ungeschriebenen und geschriebenen Regeln und Formen leben lief er wie gegen eine Wand. Man sehe sich nur Wolfgang Schäuble an: die "Verhandlungen" Varoufakis' mit seinem deutschen Gegenpart waren das Äquivalent eines vollen Laufs gegen eine Wand.

Varoufakis hat zudem entweder völlig unterschätzt, welche innenpolitischen Prozesse bei den anderen EU-Staaten ablaufen, oder sich nie darum gekümmert. Anders ist kaum zu erklären, dass er auf Schützenhilfe aus Italien, Spanien, Portugal und Irland hoffte. Die dortigen Regierungen haben keinerlei Interesse daran, ihren innenpolitischen Gegnern links wie rechts in die Hände zu spielen, indem sie ihre Positionen über das griechische Proxy legitimieren, egal wie hoch auch der Gehalt seiner Argumente ist. Syriza ist die einzige Linkspartei in Europa in der Regierungsverantwortung. Hat niemand in der Partei die Europawahlen beobachtet? Der Kontinent wird von einer großen Koalition aus Konservativen und Sozialdemokraten regiert, während die Sozialisten eine Sammlung von oppositionellen Splitterparteien sind.

Was aber sind seine ökonomischen Ideen? Hier liegt die wahre Tragik, denn Varoufakis spricht sich explizit gegen Hilfskredite für Griechenland aus. Seine Position, unterstützt vom mittlerweile legendären Stinkefinger, ist die, dass Griechenland 2010 den faktischen Bankrott hätte erklären müssen - eine Position, die durchaus kompatibel mit den deutschen Stammtischen ist. Er sagt klar, dass eine Erhohlung der griechischen Wirtschaft und die Rückzahlung all dieser Kredite illusorisch ist. Hier zeigt sich einmal mehr sein mangelnder politischer Instinkt, denn es gelingt ihm nicht, die Sprengkraft hinter diesen Positionen zu erkennen und entsprechend die Adressaten und Form der Botschaft zu wählen. Beispielhaft dafür ist seine völlig unprofessionelle Reaktion auf den Stinkefinger bei Jauch. Da inzwischen 2015 und nicht mehr 2010 ist, hat diese Fragestellung aber ohnehin nur theoretischen Charakter. Varoufakis sieht in den Krediten die Wurzel allen Übels, weil sie Griechenland am Tropf hielten, von dem es entwöhnt werden muss - was ja offiziell auch die Position der EU und besonders Deutschlands ist.

Nur kommt Varoufakis von dem Tropf nicht weg. Seine gesamte Aufmerksamkeit muss auf die Sicherung weiterer Tranchen aufgebracht werden, weil der griechische Staat stets nur Wochen von der Zahlungsunfähigkeit entfernt ist. Und im Gegensatz zu 2010 gibt es die ganzen Kredite jetzt über die Institutionen statt über die Banken, und die sind ewig. Der Bankrott ist damit keine Option mehr, der einzige Ausweg ist der Schuldenschnitt. Und genau hier ist Varoufakis völlig eingekästelt. Griechenland hat keinerlei Druckmittel, denn der Grexit ist keine Option und wurde von Varoufakis wiederholt und deutlich abgelehnt. Innerhalb der EU hat Syriza keine Freunde und keine Lobby, und das Gewicht Griechenlands ist gering (man vergleiche dies nur mit dem Einfluss, den Luxemburgs konservativer Premier Juncker hatte und hat und der in keinem Verhältnis zur Machtstellung seines Landes steht). Gleichzeitig ist die Regierung neu und war nie an der Macht, was alle Arten von Fehlern produziert und aufwändige Neuorientierung nötig macht. Was Varoufakis braucht sind Zeit und Druckmittel. Beides hat er nicht. Statt nach seinem eigenen Drehbuch wurde er innerhalb von kaum drei Wochen völlig auf das Drehbuch der Institutionen gezwungen.

Es ist auch nicht klar, wie dieses Dilemma aufgelöst werden sollte. Syriza ist völlig deklassiert in ihrem Kampf gegen die europäischen Institutionen. Jede neue Hilfe, jeder hart errungene Überbrückungskredit bleibt eine zeitlich eng befristete Lösung, die eine neue Auseinandersetzung mit dem Thema innerhalb kürzester Zeit nötig macht. Syriza erhält keine Chance, durchzuatmen und Kassensturz zu machen, Verbündete zu suchen und eine vernünftige Strategie zu überlegen. Das ist clevere Politik. Aber wundert das jemand? Schäuble macht das seit 40 Jahren. Varoufakis macht das seit zwei Monaten, und er hasst es und will eigentlich nicht. Syriza wird dabei immer verzweifelter. Die aktuellen Hilfegesuche an Russland und China und das halbe Ausscheren aus der gemeinsamen europäischen Außenpolitik beweisen es.

Welche Lösungen sollen denn aus Russland und China kommen? Griechenland kann natürlich etwas verbrannte Erde in der EU-Außenpolitik mit Russland hinterlassen, aber glaubt jemand ernsthaft, dass sich 27 Staaten, die jeder einzelne mehr politische Fähigkeiten, Kenntnisse und Fähigkeiten haben als Syriza, ernsthaft vom Einstimmigkeitsprinzip abhalten lassen würden? Niemals wird Griechenland die Außenpolitik der restlichen EU torpedieren. Und selbst wenn Hilfe aus Russland oder China kommt - strategisch wäre dies besonders für Russland ein gigantischer Gewinn und eine herbe Niederlage für die EU-Diplomatie -, Griechenland ist immer noch im Euro. Es ist auf die Institutionen angewiesen, ob es will oder nicht. Es kettete sich nur an noch mehr mächtige Kreditgeber, nur dieses Mal an solche, die keine Probleme haben, Hellas im Zweifel völlig fallen zu lassen.

Nein, Griechenlands einzige Zukunft ist in der EU und im Euro, und sofern Syriza nicht bald etwas einfällt, womit sie den gordischen Knoten lösen können, werden sie mangels eines Schwerts an dem Druck zerbrechen. Da dies für alle anderen griechischen Regierungen auch gilt, kann die EU auch dem Fall Tsipras' gelassen entgegen sehen. Sie kann es sich leisten, Griechenland für das Gesamtprojekt zu opfern. Griechenland kann das nicht. Die Macht, über sein eigenes Schicksal zu entscheiden, ist seit 2011 nicht mehr gegeben. Vermutlich wird auch Syriza das bald einsehen müssen. Varoufakis kann dann Gebrauch von seiner Brusttasche machen.