Dienstag, 27. November 2018

Der Haushalt geht in gefühlten Wirklichkeiten vor der finnischen Wintersonne unter - Vermischtes 27.11.2018

Die Serie "Vermischtes" stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Sie werden mit einem Zitat aus dem Text angeteasert, das ich für meine folgenden Bemerkungen dazu für repräsentativ halte. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten.

1) Denk ich an Deutschland in der Nacht
Merkel-Dämmerung, zweistellige Verluste der Regierungsparteien in Bundestagswahlen, der Einzug der AfD in sämtliche Länderparlamente Deutschlands. Das sind nur Oberflächenprobleme. Denn der Rechtsstaat in Deutschland verrottet tatsächlich. Das äussert sich auch darin, dass es in Deutschland, wie in anderen europäischen Ländern auch, Quartiere, Bezirke, Gegenden gibt, in denen der Staat als Ordnungsmacht abgedankt hat, nicht einmal mehr sein Gewaltmonopol durchsetzen kann. Stattdessen herrschen mafiöse Clans. Vielköpfige Familien kontrollieren den Drogenhandel, erpressen Schutzgelder, bestimmen die Regeln des Zusammenlebens. In Berlin, in Duisburg, Dortmund, Essen, andernorts gibt es Gegenden, in denen der Rechtsstaat nur noch von Fall zu Fall funktioniert. [...] Löst sich dieser Kitt auf, dann sieht sich der Bürger nicht mehr als Staatsbürger. Er sieht seine Anliegen nicht mehr von den Staatsvertretern wahrgenommen. Die Gesellschaft zerfällt in Parallelgesellschaften, die beispielsweise religiös oder sozial stigmatisiert sind, also eine Lebenswelt der Superreichen und des Prekariats, eine Lebenswelt des Islam, eine Lebenswelt archaischer Stammesstrukturen, und so weiter. Wenn auch noch das Gewaltmonopol des Staates infrage gestellt wird, bilden sich lokale Strukturen, wo das Faustrecht herrscht oder Bürgerwehren, die ihre Vorstellung von Recht und Ordnung durchsetzen wollen. Während die Begüterten in schwer bewachten Zonen leben, die sie kaum noch verlassen. Wenn sich der Staatszerfall fortsetzt, kommt es zu bürgerkriegsähnlichen Unruhen, dann der offene Bürgerkrieg, Deutschland würde wieder in ein Mosaik von Kleinstgebilden zerfallen, wie es schon zu Zeiten Heines existierte. Ein realitätsfernes Szenario? Keinesfalls. Wenn vorhandene Strukturen nicht Lösungen für die drängenden Probleme der Gesellschaft bieten, wenn sich die Politik mit der richtigen Auslegung des Begriffs «Hetzjagd» wochenlang lahmlegt, wenn keine der etablierten Parteien wenigstens einen Lösungsvorschlag für die Sicherung der Altersrente hat, und die AfD zwar mit Protest – «so nicht weiter, mit denen nicht weiter» – punktet, aber auch keine Alternativen anzubieten hat: dann ist das kein Albtraum in dunkler Nacht. (René Zeyer, Basler Zeitung)
Eines der merkwürdigsten psychologischen Phänomene die man dieser Zeit völlig unabhängig vom politischen Lager erkennen kann ist die Lust am Untergang. Sie ist etwas tief verwurzeltes. Ihr Urtyp findet sich in Oswald Spengler, der den Text über den sprichwörtlichen "Untergang des Abendlands". Für Spengler kam dieser Untergang 1918, aber seither wird er mit schöner Regelmäßigkeit angesagt. Ob die Einführung von Jazz und Blues, die "Verjudung" der Bevölkerung, das Auftauchen von Rock'n'Roll und die amerikanische Dominanz, die Herausforderung der reaktionären Gesellschaftsstruktur durch die 68er oder nun die Flüchtlingskrise, irgendwo geht das Abendland immer unter. Letztlich aber blieben die Untergangsvisionen noch jedes Mal Unfug. Mein zeitgenössisches Lieblingsbeispiel sind die "Sozialen Unruhen", die um 2007 so populär waren. Damals war die LINKE gerade erfolgreich und machte keine Anstalten, wieder in der Versenkung zu verschwinden, in der die PDS dank der 5%-Hürde so oft untergegangen war. Die "Reform"-Politik war mit der Einführung der Rente mit 67 und ähnlichen Maßnahmen auf einem Allzeithoch, und die Zustimmungsraten für die "etablierten" Parteien waren im Sinkflug. In den Zeitungen orakelten damals Leitartikler, Intellektuelle und Politiker von "sozialen Unruhen", die uns drohten, wenn man nicht schnellstmöglich das umsetze, was sie schon immer gut fanden. Und passiert ist...nichts. Die aktuelle Ausprägung dieser Untergangslust hat ihren Ursprung überwiegend im rechten Spektrum: statt sozialer Unruhen sind es eben Bürgerkriegsfantasien. Die gibt es in den USA auch massiv; besonders Trump-Parteigänger beschwören gerne den baldig anstehenden Bürgerkrieg zwischen Liberalen und Konservativen. Ausgelöst wird dieser Bürgerkrieg in evidentem Ignorieren der Logiklücke dann immer dadurch, dass die Waffen- und Freiheitshasser auf der Linken die Rechte entwaffnen. Keine Ahnung, wie sich die Basler Zeitung den Bürgerkrieg mangels verbreiteter Waffenkultur in Deutschland vorstellt, aber die Lust daran, die gewalttätigen Untergangsszenarien zu entwerfen, ist offensichtlich vorhanden.

2) Geld vom Staat kommt direkt bei den Kindern an
Finanzielle Direkthilfen vom Staat für arme Familien kommen laut einer Studie bei den Kindern an. Das Vorurteil, dass ein Plus dieser Hilfen von den Eltern für Alkohol, Tabak oder Unterhaltungselektronik ausgegeben werde, ist demnach in der Regel falsch, wie die Bertelsmann-Stiftung am Mittwoch mitteilte. Im Auftrag der Stiftung mit Sitz in Gütersloh hat das Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) untersucht, wie sich Kindergeld und das in einigen Bundesländern ausgezahlte Landeserziehungsgeld auf das Ausgabeverhalten von Familien auswirken. Dabei haben die Forscher den Zeitraum von 1984 bis 2016 untersucht. [...] „Direkte finanzielle Leistungen für Familien sind sinnvoller als aufwendig zu beantragende Sachleistungen. Das Geld kommt den Kindern zu Gute und wird nicht von den Eltern für ihre eigenen Interessen ausgegeben“, sagt Jörg Dräger, Vorstand der Bertelsmann-Stiftung. Bei zweckgebundenen Sach- und Geldleistungen wie beim Bildungs- und Teilhabepaket würden laut Stiftung rund 30 Prozent der Mittel für den Verwaltungsaufwand verbraucht. Dräger fordert daher eine Beweislastumkehr: „Eltern sollten nicht unter Generalverdacht gestellt werden. Der Staat sollte den Eltern vertrauen und Entmündigung sollte nicht zur Regel werden.“ (FAZ)
Nachdem beim Thema Arbeitszwang hier im Blog darauf hingewiesen wurde, dass die Ergebnisse nicht zwingend von den USA auf Deutschland übertragbar sind, sollte dieser Fall hier eindeutig dieselbe These stützen: der konservative Nanny-State, in dem mit gigantischem bürokratischen Aufwand auf die schwächsten der Gesellschaft eingeprügelt wird, um irgendwelche moralistischen Einstellungen zu bedienen, erzielt keine besonders guten Ergebnisse. Das ständige Gerede von Freiheit und Verantwortung findet halt immer da ein Ende, wo das eigene Moralisieren in den Weg kommt. Dabei zeigt Studie um Studie, dass die angebliche weit verbreitete Faulheit der ungewaschenen Masse, die von der gestrengen libertären Hand zur gesunden Arbeitsethik erzogen werden muss, ein reines, empirisch nicht haltbares Gerücht ist. Man könnte tatsächlich Geld und Bürokratie sparen UND bessere Ergebnisse erzielen, würde man den Leuten entsprechend Freiheit und Verantwortung geben und sich auf Hilfen bei denen beschränken, die es brauchen - man hat das im letzten Vermischten am Beispiel finnischer Obdachlosenpolitik ja schon gesehen.

3) The Finnish model
Indeed, as Granlund’s and Robin’s enlistments show, the FDF has managed a feat that other armed forces could learn from: it has made itself an attractive destination for conscripts and professional troops alike. This helps explain why the armed forces routinely have more applicants than openings for noncommissioned officer positions. According to a May Eurobarometer poll, 95 percent of Finns trust their army, a higher rate than anywhere else in the European Union. (In Germany, 66 percent trust the army; across the EU, the average is 75 percent.) [...] The appeal of Finland’s military extends beyond patriotism and depends partly on its willingness to listen to its soldiers. In 2002, the FDF introduced a system that tracks and evaluates soldiers’ and officers’ experiences. “It has changed how we treat our soldiers and how soldiers view the FDF,” said Brigadier General Jukka Sonninen, the FDF’s head of training. Under this system, which the FDF calls “Transformational Leadership,” Finland’s military regularly polls soldiers throughout their service on matters such as sleeping arrangements, superiors’ leadership, stress management, unit cohesion, and communications from central offices. The FDF carries out the survey at every level, too: group, company, battalion, and brigade. Sonninen’s unit tracks and evaluates the results, paying particular attention to changes in scores. “The point is not that we conduct surveys and score well and say, ‘That’s great; they love us,’” Sonninen told me. “The point is that we analyze the results and then look for the root reason: Has a certain event caused a particular score? A certain person? Certain processes such as health care? When people figure out that the process works, it dramatically changes their attitude.” (Elisabeth Braw, Foreign Policy)
Mich erinnern die hier angesprochenen Erkenntnisse an diesen Artikel über den Wert der Entschuldigung, den ich vor einem halben Jahr geschrieben habe. Gerade in Institutionen sind eine offene Fehlerkultur, offene Feedbackkanäle und eine offene Diskussionskultur ungeheuer wertvoll und bringen deutliche Gewinne an Effektivität und Zufriedenheit. Ganz wichtig in diesem Zusammenhang ist dabei die empirische Forschung. Es ist immer wieder erstaunlich, auf wie vielen Feldern zentraler gesellschaftlicher Tätigkeit nutzlose, nie empirisch überprüfte Traditionen vorherrschen, einfach nur, weil man es immer schon so gemacht hat. Das betrifft den lehrerzentrierten Unterricht in der Schule, das betrifft das Drangsalieren von Arbeitslosen, Obdachlosen und anderen sozial Schwachen, und das betrifft die klaren Top-Down-Hierarchien in der Armee. Offensichtlich geht es ja auch anders, und sogar besser. Man muss nur mal anfangen.

4) Donald Trump's statement on Saudi Arabia is a lot worse than just removing the mask
At the same time, public words matter. All nations operate their foreign policy with some level of hypocrisy because they have legitimate national interests that sometimes require them to be less than pure. But hypocrisy has its virtues. It allows greater freedom of action. It allows leaders to make private threats that can alter the actions of murderous states. And it keeps the reins on public support for bad actors. Trump has thrown that all away. His statement was so blunt and so approving that he’s completely lost his freedom of action. It’s now clear to everyone that he will support Saudi Arabia no matter what. Nor can he pretend that he might try to influence Saudi Arabia for the better. His leverage is gone. And by making such a clear statement, he’s brought Saudi Arabia to the attention of many rank-and-file voters who never cared one way or the other before. This level of overt politicization, with the cult of Trump behind it, almost certainly adds public support for Saudi Arabia to the already massive support for them among the foreign policy establishment.² Trump has destroyed even the faint hope of moving the dial on either US or Saudi foreign policy. The fact that his statement sounds like it was written by a middle schooler only makes things worse. It’s worth condemning on all these grounds, no matter how critical you are of US foreign policy over the past 40 years. ¹Though, as usual, I find his contempt for Barack Obama hard to understand. Obama, like all US presidents, was heavily constrained by our foreign policy establishment, but in the end he did provide Saudi Arabia with less support than any previous president—and the Saudis made no secret of their intense dislike of Obama over this. I think Greenwald underrates just how hard this is in real life, and how much credit Obama deserves for taking even baby steps against the virtually unanimous opposition of the entire US government. ²Though I suppose it works in the opposite direction too. There may be plenty of Trump haters who also didn’t care one way or the other about Saudi Arabia, but now consider them public enemy #1. (Kevin Drum, Mother Jones)
Außenpolitik ist und bleibt ein problematisches Feld. Ich finde Kevin Drums Punkt vom Wert der Heuchelei für besonders bemerkenswert. Dieselbe Mechanik gilt ja auch für die Innenpolitik: Wasser predigen und Wein saufen schafft Handlungsspielräume, die ideologisch rein bleibenden Politikern nicht zur Verfügung stehen. Deswegen sind diese Leute ja üblicherweise auch elektoral nicht erfolgreich, und auf der anderen Seite verschaffen sich dann Leute wie Bernie Sanders durch gezielte Heuchelei (man denke an seine Positionen zum Waffenrecht in den USA!) die Handlungsspielräume, mit denen sie sich ideologische Reinheit an anderer Front erkaufen. Diejenigen Politiker, die wie Angela Merkel keiner Ideologie anhängen, haben entsprechend größere Handlungsspielräume. Das ist die Kehrseite dieser oft als Mangel empfundenen Festlegung. In der Außenpolitik kommt die große Problematik hinzu, dass auf der einen Seite mit Leuten agiert werden muss, die absolut ekelhaft sind - die MBS, Saddats, Putins dieser Welt - und auf der anderen Seite die eigentlichen Spielräume für Handeln empfindlich klein. Der Einfluss auf die Politik anderer Länder ist im Allgemeinen sehr, sehr klein - was die Öffentlichkeit wie auch viele Politiker und Experten in den USA immer wieder auf kaltem Fuß erwischt - und wird durch einen Verzicht auf taktische Heuchelei noch kleiner. So kann man darüber debattieren, ob Obamas Iran-Politik viel oder überhaupt Einfluss auf das Land ausüben konnte. Trumps direkter Konfrontationskurs hat den amerikanischen Einfluss jedenfalls sicher auf null reduziert, und dasselbe gilt auch für Saudi-Arabien und viele andere Länder.

5) AfD gewinnt nach Asyldebatte dazu - Union verliert leicht
Nachdem Friedrich Merz Ende eine neue Asyldebatte anstieß, ist das Thema wieder für deutlich mehr Menschen wichtig. Die AfD legt in einer Umfrage zu. In der Kanzlerfrage liegt Angela Merkel klar vorn. Zu Beginn der Woche war Migration noch für acht Prozent der Befragten ein wichtiges Thema - inzwischen sind es mit 26 Prozent mehr als dreimal so viele. Dass Friedrich Merz, der Angela Merkel an der CDU-Spitze nachfolgen will, das Thema wieder groß auf die Agenda setzte, scheint vor allem der AfD zu helfen: Im RTL/n-tv-Trendbarometer legt die Partei um zwei Prozentpunkte zu und liegt jetzt bei 14 Prozent. Der frühere Unionsfraktionschef Merz hatte sich bei einer CDU-Regionalkonferenz in Halle am Donnerstag klar zum Grundrecht auf Asyl bekannt, nachdem er am Vortag mit einer Äußerung heftige Kritik ausgelöst hatte. Dabei hatte er in Zweifel gezogen, dass das im Grundgesetz festgeschriebene Individualrecht auf Asyl „in dieser Form fortbestehen“ könne. CDU/CSU und Linke müssen in der aktuellen Forsa-Erhebung für RTL und n-tv jeweils einen Punkt abgeben: Die Unionsparteien kommen auf 27, die Linkspartei auf acht Prozent. Alle anderen Parteien halten ihre Werte aus der Vorwoche. Die SPD stagniert bei 14 Prozent, die Grünen schwimmen mit 23 Prozent weiter auf der seit Wochen anhaltenden Erfolgswelle und die FDP käme aktuell auf neun Prozent. (Welt)
Es. Funktioniert. Nie. Wie viele Ansätze braucht die CDU denn, um zu verstehen, dass diese Rechts-außen-Rhetorik nur ihren Gegnern nützt? Es zeigt auch wieder einmal schön die Überschätzung von Merz, dem strategischen Supergenie. Der schmerzhaft offensichtliche Plan, mit dem "man wird doch mal fragen dürfen"-Ansatz erst das Grundrecht auf Asyl in Frage zu stellen und dann zurückzurudern ("War nie so gemeint"), ist genau die Vorgehensweise der AfD und anderer Populisten. Nur, Alexander Gauland ist ein Meister in dieser Disziplin und ist in einer Partei, deren ganzer Daseinszweck ist, die Grenzen des Erlaubten nach rechts zu verschieben. Die CDU ist genau das nicht. Dass so viele Leute das einfach nicht verstehen wollen, gerade solche Leute, die diese Partei zu führen oder wenigstens sachgemäß beraten zu können glauben, ist faszinierend. Auch ein Blick in die jüngere Geschichte bestätigt diesen Trend. Man denke nur an die Asyldebatte, die die CDU in den 1980er Jahren vom Zaun brach und in den frühen 1990er Jahren deutlich verschärfte. Das Ergebnis war eine massive Rechtsverschiebung des gesamten Diskurses zu dem Thema, der dann zur effektiven Abschaffung des Grundrechts auf Asyl führte (das Merz nun erneut in Frage stellt, weil täglich das Murmeltier grüßt). Die CDU gewann nicht die absolute Mehrheit; stattdessen zogen die Republikaner und die NPD in diverse Landtage ein. Die Erfahrungen in Hessen, wo die CDU eine solche Kampagne 1999 mit Erfolg fuhr, sind eher die Ausnahme denn die Regel für solche Kampagnen. Ich würde annehmen dass sie auch deswegen erfolgreicher war, weil mit Rot-Grün damals tatsächlich das ideologische Gegenstück eine entgegengesetzte Politik fuhr und der Kampf nicht gegen Strohmänner geführt wurde, aber das ist nur eine Theorie. Wäre einmal spannend zu sehen warum die CDU 1999 profitierte, wo sie es in 1991-1993 nicht tat. Da lassen sich sicherlich auch Rückschlüsse für SPD und LINKE daraus ziehen.

6) Was it fair for Hillary Clinton to critizice the European refugee response?
Yesterday I posted a quickie survey that asked how many refugees the United States should be willing to accept each year. The response was sort of interesting. Nearly 60 percent of you thought the cap should be 500,000 or less. Among those who provided a numerical answer, the average answer was 300,000. However, a quarter of you thought there should be no cap at all and we should accept anyone who wants to come. [...] In 2015 Germany accepted 1.1 million refugees. This is about the equivalent of the United States accepting 4.4 million refugees. I don’t want anyone to take my survey too seriously. It’s obviously just a casual thing. However, I think it’s fair to say that the responses are almost entirely from a left-leaning readership, and even at that a solid majority thought the US shouldn’t take in more than half a million refugees in a single year. Adjusted for population, Germany took in nearly ten times that many. I don’t want to comment at length on this. I just want to put these numbers out there, since they aren’t obvious and most people don’t know them—but they are the numbers that motivated Clinton’s response. The point of this is fairly mundane: if Germany accepted nearly ten times as many refugees as even a liberal audience in the US would be comfortable with—and about 50 times as many as the US actually takes in—it’s hardly unreasonable for even a liberal politician to suggest that this produced a widespread and formidable backlash. In other words, this isn’t Hillary Clinton suggesting that we need to adopt a demagogic Trumpian approach to refugees in order to beat the Trumpists. It’s Hillary Clinton suggesting that there are limits, even for liberals who believe in a far more compassionate refugee policy. Based on your responses to my question, I’d say that most lefties agree with her. But there’s no way to know that unless you also know the actual numbers at issue. (Kevin Drum, Mother Jones)
Wer diese Kritik gestellt hat ist irrelevant, ich würde deswegen keine Diskussion über Hillary Clinton anfangen wollen. Relevant scheinen mir zwei andere Punkte zu sein. Erstens ist es ziemlich offensichtlich, dass niemand Lust hat, jährlich solche Massen von Leuten aufzunehmen. Aber das ist ja auch eine relevante Kategorie. Niemand hat 2015 dafür argumentiert, diese Zahl jedes Jahr hereinzulassen. Nur ist es ja nicht so, als ob Deutschland - etwa im Rahmen einer europäischen Lösung der Flüchtlingskrise, die ja bereits seit Jahren vor 2015 aktuell war und da nur endlich auch nach Deutschland - regelmäßig eine verkraftbare Zahl von Flüchtlingen aufgenommen und integriert hätte. Das wäre sinnvoll gewesen. Stattdessen bestand man darauf, dass die ökonomisch ohnehin unter Druck stehenden Peripheriestaaten wie Italien, Griechenland und Spanien die Last alleine stemmen. Eine liberale Flüchtlingespolitik wäre sinnvoll gewesen. Wäre. Hätte man eine gemacht. Und das führt zum zweiten Punkt. Welche Alternative gab es denn? Das konnte von den Merkel-Kritikern nie befriedigend benannt werden. Die Alternativen wären vor 2015 gewesen. Als die Leute da waren, war es eine Krise. Und auf Krisen muss mit spontanten, improvisierten Maßnahmen reagiert werden. Das hat Merkel getan, unabhängig vom Ergebnis. Natürlich war sie vorher einer der Haupt-Blocker einer solchen Lösung, aber sie hat diese ja auch deswegen blockiert, weil niemand ein Interesse an einer vernünftigen Lösung hatte und jeder lieber den Kopf in den Sand steckte und so tat, als wäre es kein Problem, gleichzeitig Griechenland ökonomisch zu ruinieren und mit der kompletten Verantwortung für die EU-Flüchtlingspolitik zu belasten. Echt merkwürdig, dass das nicht funktioniert hat, wenn man es so aufschreibt...

7) Democrats might be too afraid of power to investigate Trump aggressively
But the biggest flaw in McConnell’s argument is this: The GOP’s “harassment” of the Clinton White House did turn out to be a “winner” — just a couple years later than the party had expected. While Democrats came through the 1998 elections unscathed, by 2000, the Lewinsky scandal had done immense damage to Clinton’s public image. So much, that Al Gore and Karl Rove would both (reportedly) come to believe that Clinton’s scandals cost his vice-president the 2000 election. [...] But one doesn’t need to look decades in the past to see the political efficacy of unabashedly partisan congressional investigations: Despite the fact that their years-long probe into the attack on the U.S. embassy in Benghazi produced no evidence that the secretary of state had committed any wrongdoing, the mere existence of the investigation was sufficient to persuade a large segment of the public that Hillary Clinton was personally responsible for the deaths of American soldiers overseas. In May 2016, a poll from Fairleigh Dickinson University found that a majority of independent voters — and a sizable minority of Democrats — believed that it was either “definitely” or “possibly” true that “Hillary Clinton knew the U.S. Embassy in Benghazi was going to be attacked and did nothing to protect it.” [...] If House investigations of baseless conspiracy theories can be this politically effective, probes of already-proven scandals — like, say, the president’s history of dodging hundreds of millions in taxes through illicit means — would presumably be even more damaging. All of which is to say: There is simply no basis for thinking that Democrats will pay a political price for prioritizing investigations of Trump over helping the president score bipartisan policy victories. Any Democrat who says otherwise — or implores his colleagues not to squander their “opportunity for more access to credit and housing reforms” — is less concerned with safeguarding the party’s electoral interests than using divided government as an excuse to advance Wall Street’s. (Jonathan Chait, New York Magazine)
Ich stimme Chait in seiner Einschätzung zu. Was Democrats mehr aufhält als die reine Frage nach dem elektoralen Effekt ist der Schlammschlacht-Aspekt des Ganzen. Ich würde das unter "soziale Widerstände" verbuchen. Den politischen Gegner mit frivolen Untersuchungen zu überziehen, um seinen Ruf zu zerstören, stört zwar nicht die Wähler, und ich würde sicherlich nicht so weit gehen, der Partei die Herzensgüte zu unterstellen, dass sie einfach aus moralischen Gründen davon absehen. Aber: Die Democrats, anders als die GOP, haben Verbindungen - vor allem in Spenderkreisen - die völlig anders konstruiert sind. Die Wähler mögen sich da nicht groß unterscheiden, aber die Eliten, in deren Zirkeln sich die Repräsentanten bewegen, schon. Das sind Leute, denen Anstand (oder zumindest die öffentliche Performance davon), Überparteilichkeit und generell moderate Zurückhaltung wichtig sind. Es wird in der Debatte um das politische System der USA ja immer viel vom "liberal bias" der Presse gemacht. Die meisten Journalisten sind aber furchtbare Zentristen und Bothsideristen. Während sich Republicans ihre Ablehnung als Auszeichnung ans Revers heften, streben die Democrats nach ihrem Wohlwollen. Gleiches gilt für diverse Großspender. Auch hier gelten völlig andere Normen als in den entsprechenden Zirkeln der GOP. Ich glaube dass dieser Unterschied eine der treibenden Kräfte hinter der Radikalisierung der Republicans (und der anhaltenden Moderierung der Democrats) sein dürfte: Die GOP hat sich von Gruppen wie den Evangelikalen und den "gun nuts" auf der einen und einigen wenigen extremistischen Großspendern auf der anderen Seite abhängig gemacht, die auf diese Art der aggressiv-spaltendenden Politik stehen. Es wäre spannend, das einmal größer angelegt zu untersuchen.

8) Wer Angst hat, hat recht
Es reiche nicht, dass die Zahl der gemeldeten Straftaten abnimmt und die Aufklärungsquote hoch ist, hat Münch gesagt. Aber was reicht dann? "Es reicht nicht" heißt, kombiniert mit "Gefühle sind Fakten": Wenn die Leute aufgrund anderer Faktoren den gänzlich falschen Eindruck haben, dass das Leben hierzulande immer gefährlicher wird, dann ist das auch so. Oder, noch kürzer: Wer Angst hat, hat automatisch recht. Egal, wie die Realität aussieht. [...] Für einen Angsttherapeuten mag das ein Ansatzpunkt für eine Intervention sein. Für den Chef der obersten deutschen Polizeibehörde ist die Vorstellung, dass Sicherheit nicht messbar, sondern sozial konstruiert ist, ein miserabler Ratgeber. Münchs Aufgabe besteht darin, reale Kriminalität zu bekämpfen und nicht gefühlte Bedrohungen. Wer gefühlte Bedrohungen bekämpft, betreibt Sicherheitstheater, schränkt dazu im Zweifel Bürgerrechte ein und verschwendet Steuergelder. [...] Tatsächlich sind gefühlte Wahrheiten einer der Gründe für das katastrophale Versagen deutscher Sicherheitsbehörden in diversen Fällen. Münchs Vorgänger als BKA-Chef, Jörg Zierke, hat 2014 zum Beispiel Folgendes über den sogenannten Nationalsozialistischen Untergrund gesagt: "Wir haben es nicht für möglich gehalten, dass eine Gruppe aus einer so inhumanen und absonderlichen Motivation heraus Menschen erschießen könnte." Die deutschen Sicherheitsbehörden hatten einfach das Gefühl, dass es in Deutschland keinen Nazi-Terror geben kann. Mit den bekannten, schrecklichen Folgen. Im Augenblick kann man wieder den Eindruck gewinnen, dass deutsche Sicherheitsbehörden sich dem Gefühl hingeben, das mit den Nazis in Deutschland sei nicht so schlimm. Und dann marschieren auf einmal organisierte Gruppen durch deutsche Städte, nennen sich stolz "Adolf-Hitler-Hooligans" oder verschaffen sich Kriegswaffen. Wo kommen die denn plötzlich her? Obwohl man doch die ganze Zeit das Gefühl hatte, die Sache im Griff zu haben! Schöne Grüße auch an Hans-Georg Maaßen, einen weiteren Meister der gefühlten Wahrheit. Uns allen ist zu wünschen, dass der Präsident des Bundeskriminalamts zumindest bei der Ausübung seines Amts zu einer klaren Unterscheidung zwischen Gefühlen und Fakten zurückfindet. Wenn nicht, ist er der falsche Mann für den Job. (Christian Stöcker, SpiegelOnline)
Wir hatten ja an dieser Stelle erst letzthin über "gefühlte" Realitäten geredet, ob Reichtum oder Sicherheit. Der Faktor, dass dies die Wahlentscheidungen von Leuten und ihre generellen Forderungen gegenüber der Politik beeinflusst, ist zwar auch gegenüber der "Ängste und Sorgen der Menschen ernst nehmen"-Folklore etwas unterbeleuchtet, aber was Christian Stöcker hier analysiert scheint noch wesentlich bedeutender zu sein: gefühlte Realitäten bei Leuten, die konkrete Realitäten produzieren. Stöcker bringt als Beispiel bei den Sicherheitsbehörden hier das Versagen gegenüber der NSU oder Maaßens Adelung seiner eigenen Gefühlswelt zur objektiven Bedrohungslage, aber wir sehen es natürlich auch beim Hambacher Forst, wo diverse Leute unbedingt der Überzeugung bin, dass da Gewalttäter schlimmer als die Nazis den Staat aus den Angeln heben. Und wer das fühlt, der sieht das dann auch. Neben der im Artikel besprochenen Sicherheitsbehörden, die sich offensichtlich von gefühlten Realitäten leiten lassen, betrifft dies auch andere Institutionen wie die Bundesbank. Da ist gefühlt immer 1923. Die gefühlte Inflationsgefahr ist beständig hoch, das Anziehen der Inflation immer gleich um die nächste Ecke, dieses Mal bestimmt, und deswegen darf man auf keinen Fall tätig werden. Wir haben das im letzten Vermischten mit der Reaktion der Fed bereits gehabt; ein anderes Beispiel für solche gefühlten Realitäten wäre 1993, als die Bundesbank den Aufbau Ost abwürgte und mit ihrer nicht zurechtfertigen anti-inflationären Politik die neuen Bundesländer wirtschaftlich abschoss.

9) The Deficit Grew Because Trump’s a Republican, Not Because He’s an Idiot
President Trump has been demanding that his aides draft a plan to reduce the swelling budget deficit while simultaneously ruling out virtually all categories of possible deficit reduction and demanding new deficit-increasing measures of his own. The Washington Post has plenty of hilarious details from the administration’s internal fiscal deliberations, such as they are.[...] It is fair to say that no other Republican president would be quite this ignorant. But in other ways, Trump is indistinguishable from the policies any Republican advocates. [...] The story notes that Trump “has said no changes can be made to Medicare and Social Security.” But every Republican likewise supports maintaining retirement benefits for workers at or near retirement (meaning age 55 or above). By definition this would rule out even the first penny of budget savings within ten years. And only a handful of Republicans support any cuts to the defense budget. [...] Snickering administration advisers probably see this episode as evidence of either Trump’s buffoonery or his harboring of secret big-government instincts. In reality, Republicans understand full well that Medicare and Social Security command deep support even among their own voters. Trump’s conclusion that the only safe ground to attack an expansion of the safety net is from the left, as a defense of existing benefits, is the exact same strategy Republicans used against Obamacare. [...] Trump’s inherent Trumpiness is not the reason the deficit has increased. The iconic Republican Ronald Reagan cut taxes, jacked up defense spending, and massively increased the deficit, and his presidency is worshipped as a model all subsequent Republicans must follow. Reagan’s successor, George H.W. Bush, did break from his party in order to reduce the deficit, and conservatives loathed him for it and use his apostasy as a cautionary tale to this day. The next Republican president, George W. Bush, promised to follow Reagan’s example rather than his father’s, and he delivered, jacking up defense spending and cutting taxes and causing the deficit to spike. Trump has signed onto legislation designed by Republicans in Congress that increased defense spending and cut taxes. The deficit has risen as a result. That’s what Republicans do. (Jonathan Chait, New York Magazine)
Mir bleibt völlig unklar, warum diese einfach empirisch nachzuweisende Grundlage von Beobachtern des politischen Prozesses seit Jahrzehnten beharrlich nicht zur Kenntnis genommen wird. Die Republicans haben kein ernsthaftes Interesse an einem Ausgleichen des Haushalts. Wenn es eigene Ziele umzusetzen gilt, dann werden sehr schnell Schulden aufgenommen, meistens mit dem nie zutreffenden Argument, dass die jeweils bevorzugte Politik (meistens Steuersenkungen) ein so tolles Wirtschaftswachstum hervorrufen würde, dass es kostenneutral bleibt. Das gleiche behaupten progressive Politiker gelegentlich von ihrer Investitionspolitik auch (wobei unserereiner üblicherweise schlicht Schulden nicht als so großes Problem sieht), aber dieser Unfug wird nicht geglaubt. Die Konsequenz ist diese völlig schiefe Wahrnehmung, dass Konservative eine quasi genetische Wirtschaftskompetenz besäßen. Die Wirtschaftspolitik, die Konservative bevorzugen, ist sicherlich EINE Wirtschaftspolitik, aber sie ist nicht die bessere oder schlechtere qua der Tatsache, dass diese von ihnen vertreten wird. Wie jede Politik hat sie Vorteile und Nachteile. In der ständig naiven Annahme, dass die behaupteten Ziele und Effekte (ausgeglichener Haushalt und sich selbst tragender Aufschwung etc) tatsächlich ernst gemeint sind, während die andere Seite immer nur Steuergeld ausgeben will (als ob das Geld dann einfach weg wäre). Völlig kaputte Debatte.

10) Rechtsextreme Soldaten unterm Radar
Darauf verweist auch das Bundesinnenministerium. Ansonsten äußere man sich nicht, so ein Sprecher. Der Komplex betreffe „laufende Ermittlungen des Generalbundesanwalts“. Das Bundesverteidigungsministerium blockt ab und verweist auf seinen Militärischen Abschirmdienst (MAD), zuständig für Extremismusabwehr in der Bundeswehr. Weder gebe es gewaltbereite Rechtsextremisten in der Bundeswehr noch extremistische Netzwerke, behauptet dessen Präsident Chris­tof Gramm auf taz-Anfrage. „Politisch motivierte Gewaltbereitschaft spielt in der Bundeswehr derzeit keine Rolle.“ Das deckt sich nicht mit den Erkenntnissen der taz. In den Chatgruppen war die Rede davon, am „Tag X“ Linke zu liquidieren und gegen Flüchtlinge vorzugehen. Auch Bundeswehrsoldaten chatteten mit. Der oberste Administrator war André S. alias „Hannibal“ – ein Elitekämpfer des Kommando Spezialkräfte der Bundeswehr, KSK. [...] Der Bundesverfassungsschutz warnt immerhin, dass es in der rechtsextremen Szene Versuche gebe, sich auf einen „Bürgerkrieg“ zwischen einheimischen Deutschen und zugewanderten „Fremden“ vorzubereiten. Dieser „Tag X“ solle bewusst herbeigeführt werden, auch Waffen würden beschafft. Auch Mecklenburg-Vorpommern will es genauer wissen. Das dortige Innenministerium setzte schon im September 2017 eine Kommission zur „Prepper“-Szene ein. Allerdings liegen bis heute keine öffentlichen Ergebnisse vor. MAD-Präsident Gramm räumt ein, dass es zunehmende „Graubereiche zwischen Meinungsstärke und Extremismus“ gebe: Die Identifizierung von Rechtsextremisten werde schwieriger. „Das stellt uns vor neue Herausforderungen.“ (Konrad Litschko, taz)
Wir hatten erst letzthin hier im Blog die Diskussion über die Frage, welche Radikalen und Extremisten gefährlicher sind. Mir bleibt weiterhin unklar, wie die Leute, die sich in Bäume hängen und Polizisten mit Kot bewerfen als gefährlicher eingestuft werden wie Angehörige von Polizei und Armee, die sich auf einen gewaltsamen Bürgerkrieg vorbereiten. Ich möchte noch einmal betonen, dass ich keine Sympathie für die Hambacher-Forst-Demonstranten habe; nur kommen wir denen problemlos mit den üblichen rechtsstaatlich-polizeilichen Mitteln bei. Keiner von denen ist schwer bewaffnet oder plant Morde. Das ist bei den Rechtsextremisten halt anders, und deswegen ist mir diese nachlässige Haltung auch unverständlich.

11) Several whote vangelical leaders reject anti-immigrant rhetoric. Why do their flocks embrace it?
Prominent white evangelicals close to the president, such as Paula White, have frequently defended Trump’s stance on immigration policy, including family separation. They argue that Jesus should not be considered a forerunner of modern-day refugees because, as a sinless man, he never broke immigration law. [...] And, by and large, white evangelicals on the ground have followed suit — even when some in evangelical leadership is advocating for more nuanced policy positions. The reasons for this discrepancy are complicated. They include a white evangelical population that gets its moral sense as much from conservative media as it does from scripture. There’s also a more general conflation of white evangelicalism with the GOP party agenda, which has been intensifying since the days of the Moral Majority in the 1980s. As Jenny Yang, vice president for advocacy and policy for World Relief, the humanitarian wing of the National Association for Evangelicals, told Vox, white evangelicals’ views on immigration are more likely to be shaped “not from their local church or their pastor, but actually from the news media. ... This has become an issue of the church being discipled by the media more than the Bible or the local pastor in terms of their views on immigration.” [...] The uneasiness within the evangelical community over immigration policy can be tied to a tension within evangelical theology itself. Some passages in the Bible — such as Matthew 25 — urge care for those on the margins. Meanwhile other passages such as Romans 13 are interpreted by evangelicals like former Attorney General Jeff Sessions to justify Trump’s family separation policy and an authoritarian political theology. (Tara Isabella Burton, vox.com)
Die konservative Medienblase in den USA ist wirklich krass, und es ist immer wieder wichtig zu betonen, dass das in Deutschland (noch) nicht so ist. Die Anhänger der CDU leben im gleichen Universum wie die der Grünen, deutsche Christen im selben wie Atheisten. Das ist leider inzwischen keine Selbstverständlichkeit mehr. Die AfD unternimmt aktuell alles, um eine eigene mediale Blase zu erschaffen, die dem entspricht. Die wollen den gleichen Effekt erschaffen, und man sieht die ersten Auswirkungen davon ja etwa in den sozialen Netzwerken, wo Fake News fröhliche Urstände treiben. Aber zurück zu den USA: Hier haben sich weite Teile der Bevölkerung abgekoppelt. Es ist auch spannend zu sehen, dass die evangelikalen Führungsfiguren selbst genausowenig Einfluss auf ihre Schäfchen haben wie die Politiker der GOP. Wer da immer Treiber und wer Getriebener ist, ist wahrlich nicht immer deutlich sichtbar. Aber so wird dann ein offensichtlich nicht gerade frommer Mensch wie Trump zum Bannerträger der Evangelikalen. Der Artikel versucht übrigens, progressive Politik in Bibel zu verankern, indem etwa Bibelstellen bemüht werden um eine migrationsfreundliche Politik zu legitimieren. Das ist genauso blöd, und man sollte nicht den Unsinn der Gegenseite mitmachen. Die Bibel ist ein 2000 Jahre alter Text. Die allergrößte Mehrheit der Theologen dürfte sich einig darüber sein, dass man darin zwar bis heute Ratschläge für den richtigen moralischen Lebenswandel finden mag, aber sicher keine policy-Details. Es ist hochgradig albern, Migrationspolitik mit Jesus Sündenlosigkeit zu rechtfertigen, und genauso albern, vom Kampf um Privilegien für Wanderhandwerker im antiken nahen Osten auf heutige Flüchtlingspolitik zu schließen. Lasst den Kram wo er hingehört.  

Sonntag, 25. November 2018

Obdachlose britische Gewalttäter lesen in der Fed mit AfD-Abgeordneten den Koran - Vermischtes 25.11.2018

Die Serie "Vermischtes" stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Sie werden mit einem Zitat aus dem Text angeteasert, das ich für meine folgenden Bemerkungen dazu für repräsentativ halte. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten.

1) In Russia, feminist memes buy you jail time, but domestic abuse doesn't
Such activists face an outright war on women in Russia. The numbers of dead are staggering: 14,000 Russian women die annually from domestic violence-related injuries. That’s about 38 women killed every day, almost two women every single hour, and one every 40 minutes. Making matters worse, Russia’s political system condones such violence. Watch, up to 36,000 Russian women and 26,000 children faced daily violence and abuse. And most of the time—perhaps as much as 91 percent, according to 2013 data from the ANNA Center for the Prevention of Violence—the aggressor is a woman’s husband. Domestic violence is so common, in fact, that it affects one in four Russian families, according to ANNA. Two-thirds of all homicides in Russia are linked to domestic and family issues, and incidents of domestic assault on women and children increased by 20 percent between 2010 and 2015. [...] In early 2017, the State Duma, the lower house of Russia’s Federal Assembly, decriminalized some forms of domestic violence, meaning that first-time offenses against a partner or child bear a fine rather than a criminal charge and trial. The controversial bill was backed by the Russian Orthodox Church, which has historically advocated for less government interference in household matters. The church’s commission on family affairs even stated in 2015 that it considers the term “domestic violence” to be a tool used by radical feminists. It similarly maintains that the West is behind efforts to make domestic violence a crime in Russia. Even as women and children lose protection from domestic violence, those who speak out against it have increasingly been handed criminal charges themselves. Feminist blogger Lyubov Kalugina, for example, was recently charged with inciting hatred toward men and now faces up to five years in prison. (Anna Denejkina, Foreign Policy)
Was in Russland unter dem Banner rechter identity politics passiert, ist kompletter Irrsinn. Und wenn man sich den Backlash gegen #MeToo und ähnliche Initiativen ansieht, dann ist es auch nicht gerade so, als wären wir völlig immun gegen solche Entwicklungen. Eine Rückabwicklung der unter Rot-Grün umgesetzten Reformen des Strafrechts, die Vergewaltigung unter allen Umständen auch in der Ehe zur Straftat machen, ist - sieht man sich die aktuelle Diskursmacht der AfD und das Einknicken der CDU etwa beim Thema Migrationspakt - nur eine Social-Media-Kampagne entfernt. Man muss sich klarmachen, dass rechte identity politics töten. Bedenkt man, wie gebetsmühlenartig viele konservative Kritiker - und nicht zu Unrecht! - die Gefahr der Zerstörung des "guten Rufs" und auch der wirtschaftlichen Existenz prominenter Beschuldigter der #MeToo-Welle betonten, ist ihr drönendes Schweigen in diesen Fällen auf der anderen Seite nicht gerade vertrauenserweckend. Ein ähnliches Problem gibt es, wenngleich weniger prononciert als in Russland, bei den Evangelikalen in den USA. Auch hier sind die Unterdrückungsmaßnahmen von der Gesellschaft sanktioniert und die Dunkelziffern extrem hoch. Das hat Auswirkungen bis auf die Wahlergebnisse. Gerade in den konservativ geprägten Staaten des Mittleren Westens, wo das erzkonservative Familienbild mit dem Patriarchen an der Spitze noch hochgehalten wird (man sehe sich nur mal meinen Namensvetter, den Senator Nebraskas Ben Sasse an), spielt das auch elektoral eine Rolle. Eine Reihe dieser Staaten etwa hat, anstelle die drängenden Probleme der Bevölkerung durch eine weniger ideologisch verblendete, zutiefst schädliche Wirtschaftspolitik zu lösen (Hallo, Kansas), ernsthaft Geld in die Hand genommen und sämtliche Wahlkabinen durch Wahlstehtische ersetzt, die so dicht beieinander stehen, dass der Mann die Wahl der Frau kontrollieren kann - und zwar bewusst zu diesem Zweck. Man kann das an diesen Beispielen des Wahlfälschers-in-chief und seines Sohnes gut sehen. Das mangelnde Unrechtsbewusstsein - ihr Anspruch, diese Kontrolle durchführen zu dürfen - zeigt sich super dadurch, dass sie es vor den laufenden Kameras der ganzen Nation tun. Und das reproduziert sich, wie so vieles, im Kleinen.

2) "Straßenobdachlosigkeit gibt es in Finnland nicht mehr" (Interview mit Juha Kaakinen)
ZEIT ONLINE: Seit Jahren sinkt in Finnland die Obdachlosigkeit. Herr Kaakinen, was läuft in Finnland richtig?
Kaakinen: [...] Jetzt, zehn Jahre später, sieht man in Finnland keine Obdachlosen mehr, wenn man durch die Straßen läuft. Es gibt immer noch Leute, die keine eigene Wohnung haben und zum Beispiel bei Freunden unterkommen. Aber das Phänomen der Straßenobdachlosigkeit gibt es in Finnland nicht mehr.
ZEIT ONLINE: Woran liegt das?
Kaakinen: Wir haben das Prinzip umgedreht: Normalerweise müssen Obdachlose erst ihr Leben auf die Reihe kriegen, um wieder eine eigene Wohnung zu bekommen. Wir machen das andersherum. Wir geben ihnen eine dauerhafte Wohnung, damit sie ihr übriges Leben wieder in den Griff kriegen können. Seit 2008 gibt es das Housing-First-Programm in den zehn größten Städten in Finnland. Wir sprechen Obdachlose auf der Straße an, in den Heimen, bei Treffen mit Sozialarbeitern. [...]
ZEIT ONLINE: Das klingt nach vielen Ausgaben. Wie teuer ist das Wohnprojekt denn im Vergleich zu früheren Ausgaben?
Kaakinen: Insgesamt hat es bist jetzt etwa 270 Millionen Euro gekostet – inklusive der Häuser, Renovierungen und der Löhne für die Sozialarbeiter. Im Vergleich kommt es den Staat nun billiger als früher, wir sparen etwa 15.000 Euro pro früheren Obdachlosen im Jahr. Das liegt daran, dass es viel weniger Notfälle gibt, die versorgt und zu einem Arzt gebracht werden müssen, zum Beispiel bei Alkoholmissbrauch. Auch die Zahl der Polizeieinsätze und die Kosten im Justizsystem, die Obdachlose verursacht haben, sind gesunken. (Zeit)
Wer hätte ernsthaft damit gerechnet, dass Obdachlosen Wohnungen zu geben die Obdachlosigkeit reduzieren könnte? Wohl nur linksgrün versiffte Gutmenschen. Manchmal ist es tatsächlich so einfach, und die blanke Ideologie der ach-so-pragmatischen Bürgerlichen ist alles, was die sinnvollsten Lösungen von ihrer Implementierung abhält. Ein anderes gutes Beispiel dafür sind ja die kontrollierten Abgaben von Heroin an Süchtige, um diesen den "kalten Entzug" zu ersparen. Ein entsprechendes Pilotprojekt im (damals noch schwarz-gelben) Hessen war eindeutig erfolgreich und wurde aus rein ideologischen Gründen beendet. Lieber hat man mehr zerstörte Existenzen und höhere Kosten, als dass man von der eigenen ideologischen Linie abrückt. Auch hier ist das ziemlich offensichtlich der Fall. Und das, obwohl bei dieser Art der Lösung das sonst so hochgehaltene Ideal der Freiheit und Eigenverantwortung am besten umgesetzt wird...

3) The idea of deep continuity in British history is absurd. We've always been in flux
Brexiters claim a deep continuity in British history betrayed by EU membership. Pro-EU people claim that the UK has never got over imperial delusions of grandeur. The reality is that both grotesquely over-egg continuity. [...] British history is one of radical discontinuity, and not quite what it is supposed to be. In 1900, the UK was a cosmopolitan place. It was full of immigrants, from Europe. Food came in from all over the world, free of tariffs too, much from Europe. British coal was vital to both Baltic and Mediterranean nations. [...] That historical reality was profoundly changed by British national policy, which transformed the nation after 1945. In many, many ways, continental Europe and the UK converged, on a continental model of national self-sufficiency. [...] After 40 years in the EEC/EU, the economy has changed radically again. London is where world capitalism does business, no longer one where British capitalism did the world’s business, as before 1914. Foreign capitalists own the infrastructures and factories of the UK, rather than the other way around. [...] What Brexiters say about the British present deserves more attention. Where once there was a ludicrous declinism seriously underestimating British power, now a daft revivalism seems to be at the core of buccaneering Brexiter thinking. [...] But as reality bites, cloth will be cut to size, delusions dispatched, and the huffing and puffing will end. Brexit cannot in reality really happen. The explaining of realities will have to begin – that our productivity is low and stagnant, our health outcomes not the best, our people not the best educated or most enterprising, our entrepreneurs hardly the most important of the age. Any real politics of improvement will recognise we are not in the Premier League but in the lower divisions, and that football long ceased to be a game foreigners did not play. (David Edgerton, The Guardian)
Edgerton hat selbstverständlich Recht wenn er betont, dass die Geschichte ständig im Wandel ist. Man sollte das aber nicht so verstehen, dass es keine Kontinuitäten gibt. Deren Leugnen ist ja eher ein Problem, das wir in Deutschland haben, wo es die Tendenz gibt, völlige Brüche und "Nullstunden" für 1945 und 1990 zu konstruieren, um elegant gewisse Altlasten loszuwerden. Was Edgerton hier kritisiert ist ja eher eine Art Stasis, eine Vorstellung, dass die Geschichte sich vor der gleichen Folie wie vor 100 Jahren lesen lässt. Man hat diese Tendenz bei den Briten ja 2017 auch beobachten können, als der Release des Nolan-Hits "Dunkirk" permanent vor der Folie des Brexit interpretiert würde, als ob man die Schlacht um England von 1940 direkt mit den heutigen Ereignissen vergleichen könnte. Derselbe Unfug wird ja gerne mit dem Ersten Weltkrieg verbrochen. Die Neigung der Briten, immer noch in Begriffen und Mentalitäten des Empire zu denken, das nun seit 1947 wirklich erledigt ist.

 4) Obama? Trump? No, thank these three for the bountiful economy
In economic terms, Americans have a lot to be thankful for this year. Unemployment is at record lows, more people are actually working (as opposed to dropping out of the workforce), and wage growth is improving for workers on the low end of the scale. Other countries, when recovering after a big financial crisis, have suffered though a “lost decade” of slow or negative growth. The U.S. appears to have lost only half a decade. [...] Some of this recovery, of course, is due to natural economic forces. Like a violin string that gets plucked by a finger, economies that suffer deeper downturns have more room to bounce back. The Great Recession probably caused the delay of many capital equipment purchases and other investments. Now that more favorable conditions prevail, firms are making up lost ground. But policymakers can speed up the return of favorable conditions. So who, if anyone, should get credit for the relatively good times? Whom does America have to thank? [...] To his credit, Obama refrained from making the economy even worse. By the same token, the credit he gets for the good economic performance since 2014 should also be modest. The real hero of the story is probably the Federal Reserve. When the crisis hit, Chairman Ben Bernanke didn’t hesitate. Motivated by his own research on the financial roots of recessions, he abandoned the Fed’s traditional cautious approach. He dropped interest rates to just about zero immediately. He helped save the banking system, using unconventional monetary policy to take huge amounts of toxic mortgage-backed assets off of banks’ balance sheets — assets that eventually turned a profit for the taxpayer. But unlike fiscal policy, monetary policy didn’t let up. Despite frantic calls to raise rates to avoid creating inflation or financial instability — neither of which materialized — the Fed stayed the course, keeping rates at zero until late 2015 when it became clear a real recovery was underway. It also engaged in repeated rounds of quantitative easing, again in defiance of the skeptics; some of this probably did have the effect of boosting lending and the real economy. (Noah Smith, Bloomberg)
Die Bedeutung der Fed in der Abwehr der Finanzkrise 2007/2008 kann kaum überschätzt werden. Adam Tooze in seinem bemerkenswerten Buch "Crashed" (deutsche Version) weist ebenfalls darauf hin. Smith unterschätzt den Beitrag der Fed allerdings selbst, wenn er ihre positive Rolle nur im entschiedenen Senken der Leitzinsen und der entsprechenden Stimulierung der amerikanischen Wirtschaft sieht. Fast noch wichtiger war ihre internationale Rolle, wie Tooze in seinem Buch und auch im Vortrag herausarbeitet: Da der Dollar 2007 wie auch heute noch die internationale Leit- und Reservewährung ist, und die Vertrauenskrise ins Bankensystem auch die europäischen Banken erfasste, standen diese vor einem kompletten Zusammenbruch ihrer gegenseitigen Zahlungsfähigkeit (die permanenten kurzfristigen Kredite, mit denen sich Banken untereinander finanzieren, laufen ja auch in Dollar). Es war die Fed, die in dieser Situation sehr zum Zorn der amerikanischen Rechten nicht nur US-Banken, sondern auch ihren europäischen Pendants unbeschränkten Zugang zu Dollars gab und damit in den entscheidenden Tagen, als die EZB und die europäischen Regierungschefs und CEOs die Finanzkrise noch leugneten, das weltweite Wirtschaftssystem retteten. Es ist überhaupt faszinierend, in was für einem Zustand der Realitätsverweigerung sich die Deutschen, ob in Wirtschaft, Politik oder Gesellschaft, 2007 bis 2009 befanden. Ob Peer Steinbrück sich hinstellte und verkündete, es handle sich um ein rein amerikanisches Problem, das so gar nichts mit Europa zu tun habe, ob Michael Glos seinerzeit Ratschläge gab, wie das bayrische Beispiel zeige wie man nachhaltige Wirtschaftspolitik betreibe oder Josef Ackermann erklärte, er würde sich schämen Staatsgelder anzunehmen - es ist atemberaubend, wie engstirnig und schlichtweg inkompetent die damaligen Entscheidungsträger auf die Krise reagierten. Es ist einfach vorstellbar, dass ähnliche Inkompetenz und Engstirnigkeit auch in den USA regiert hätten ("America First", und so). Dann wäre die Weltwirtschaft 2008 massiv eingebrochen, und statt einer schmerzhaften Mini-Rezession hätten wir Zustände wie in den frühen 1930er Jahren überall gehabt. Dafür sollte man den Fed-Vorständen mehr als dankbar sein. Hätten wir seinerzeit eine Regierung und eine Zentralbank mit Sinn für's Ganze gehabt - undvorstellbar, wie viel besser die Lage heute in ganz Europa aussehen könnte. Aber das gilt ja auch für die USA, wo die Republicans absichtlich die Wirtschaft sabotierten, um die Midterms 2010 zu gewinnen.

5) Der dickste Brocken Dunkelziffer steht im Koran
Man fragt sich, wie oft es vorkommt, dass eine Frau einen Mann oder Exmann umbringt. Frauen töten ihre Männer in der Regel nicht. Aber Männer töten Frauen. 147 Mal im vergangenen Jahr. Immerhin erwähnte Giffey die Dunkelziffer. Als ehemalige Bezirksbürgermeisterin von Neukölln wird sie wissen, was sie an dieser Stelle beschweigt. Es ist nicht nötig, für sie die Sure 4:34 zu zitieren, sie dürfte diese Koran-Passage kennen, denn sie findet in Berlin Neukölln regelmäßig Anwendung. „Die Männer stehen über den Frauen, weil Gott sie ausgezeichnet hat. ... Und wenn ihr fürchtet, dass Frauen sich auflehnen, dann vermahnt sie, meidet sie im Ehebett und schlagt sie.“ Da ist er, der dickste Brocken der Dunkelziffer. Niemand kann wissen, wie viele der muslimischen Frauen es nicht wagen, ihre Männer anzuzeigen, nachdem sie geschlagen wurden. Was nach dem Strafgesetzbuch in Deutschland eine Straftat ist, ist es im Gesetzbuch der Muslime, dem Koran, nun mal nicht, im Gegenteil. [...] Die ungehorsame Frau zu schlagen, das ist im Islam ein Gebot Gottes, adressiert an das überlegene Geschlecht. Diejenige, die geschlagen wurde, hat es verdient. Sie ist nicht Opfer, sondern Täterin. Nicht er verdient Strafe, sondern sie. Wo nichts Unrechtes passiert, gibt es auch nichts anzuzeigen. (Kathrin Spoerr, Welt)
Ich finde diesen Artikel in der Welt beachtlich. Nicht, weil irgendetwas darin sonderlich falsch wäre; häusliche Gewalt ist in den zutiefst konservativ geprägten Wertebildern von Muslimen - wie überall, wo konservative Wertebilder vorherrschen - mit Sicherheit ein großes Problem, und gerade in diesen Kreisen trauen Frauen sich oft nicht, Anzeige zu erstatten oder andere Maßnahmen zu ergreifen, weswegen die Dunkelziffer entsprechend hoch ist - auch hier analog etwa zu den Evangelikalen des Mitteleren Westens in den USA oder den (glücklicherweise kleinen) Sprengseln solcher radikaler Christen hierzulande. Viel spannender ist aber, dass exakt die Argumentation, die Frau Spoerr hier im Zusammenhang mit muslimischen Einwandern bringt, die Argumentation von #MeToo ist. Nur dass ihre Zeitung - wie viele andere - sie da mit Verve von sich gewiesen hat. Kein Aufruf dazu, vielleicht doch den Männern zu glauben, wenn diese Gewalt leugnen; keine Sorge darum, wie der Ruf dieser Menschen leidet (im vorliegenden Fall mit dem großen Pinsel gezeichnet als Blanko-Verdacht gegen eine ganze ethnische und religiöse Einwanderergruppe); keine Sorge, dass die Frauen sich vielleicht mit den Anklagen nur wichtig machen wollen. Stattdessen Forderungen nach Maßnahmen. Warum geht das nicht bei #MeToo auch?

6) Bundesbildungsministerin: Einführung der Ehe für alle war "so nicht richtig"
Karliczek hatte damals, noch als einfache Abgeordnete, gegen die Ehe für alle gestimmt und das damit begründet, dass es "keine Langzeitstudien zu den Auswirkungen auf Kinder in gleichgeschlechtlichen Partnerschaften" gebe und Kinder das "emotionale Spannungsfeld zwischen Vater und Mutter" bräuchten. Im Zuge ihrer Nominierung zur Bildungsministerin hatte Ina Spanier-Oppermann, SPD-Landtagsabgeordnete in NRW, die Äußerung kritisiert und Karliczek auf "mehr als 75 eindeutige und anderslautende Studien zu dem Thema Regenbogenfamilien" verwiesen. [...] Es gehe nicht um glücklich oder gut erzogen, so Karliczek – sie sei "zutiefst überzeugt", dass dies auf viele Familien, wo Kinder gewünscht sind, zutreffe. Sondern es gehe um etwas "grundsätzlich anderes": "Solange Kinder diskriminiert werden in Schulen oder in irgendeiner Weise gemobbt werden, solange haben wir ein Problem." Nach einer Nachfrage, ob Äußerungen wie ihre nicht eher zur Diskriminierung beitragen, wich sie zunächst allgemein aus mit dem Hinweis, dass sie glaube, dass Männer und Frauen einen unterschiedlichen Einfluss auf Kinder hätten und dass dies eine "spannende Forschungsfrage" sei. Im Rahmen mehrerer Nachfragen fokussierte sich das Thema auf ihre konkrete Äußerung zum Adoptionsrecht homosexueller Paare. "Wir verändern grundsätzliche Strukturen in unserer Gesellschaft mal eben so im Federstrich, und das ärgert mich und das stört mich auch", meinte sie. Wenn man "grundsätzlich Strukturen verändert", müsse man Fragen wie die nach dem Spannungsfeld zwischen Vater und Mutter "grundsätzlich klären" – "Wir verschieben eine ganze Gesellschaft und reden gar nicht richtig drüber!", so Karliczek im Tonfall der Verzweiflung. Das sei kein "Generalverdacht" gegenüber homosexuelle Paaren, wie vom Moderator beklagt, sondern eine "offene Frage" und eine "Wahrnehmungsfrage", die sie habe und "gerne mal unter Forschungsgesichtspunkten erörtert hätte, und zwar in einer Langfrist-Studie". Deshalb könne man "nicht mal eben diese Entscheidung treffen". (nb, queer.de)
Karliczek ist schon witzig. Da orakelt sie darüber, dass man ja nur mal fragen dürfe, ob Kinder, die bei homosexuellen Eltern aufwachsen vielleicht doch ganz heftig geschädigt werden und erklärt dann mit großem Augenaufschlag, dass es ja schon schlimm sei, wenn solche Kinder auf der Schule gemobbt werden. Ich frage mich woher es kommt, dass solche Kinder einen Außenseiterstatus in der Schule haben, wenn die Bildungsministerin höchstselbst die Frage stellt, ob sie komische Außenseiter sind. Die Homophobie Karliczeks ist leider nur typisch. Anders als ihre Gesinnungsgenossen in den osteuropäischen Theokratien ist sie vorsichtig, stellt nur "offene Fragen" und solche nach "Wahrnehmung", aber hinter all dem Wortgebimmel verbirgt sich schlicht nur Homophobie. Auch die Aussage, man könne die Gesellschaft "nicht mit einem Federstrich" verändern, um ihre Ablehnung der Homo-Ehe zu rechtfertigen, ist kompletter Humbug. Die Gesellschaft wurde ja auch nicht mit einem Federstrich verändert. Die Gesellschaft ist schon seit Jahren mehrheitlich für die Homo-Ehe, und ihre Repräsentanten im Bundestag haben in einer offenen Abstimmung diese Realität der Federstrich anerkannt, aber sicherlich nicht gemacht. Die Aussage ist nur Taktik: Die Homo-Ehe ist ein rechtliches Konstrukt. Die kann überhaupt nicht anders als per Federstrich Realität werden. Was Frau Karliczek hier erreichen will ist, per Federstrich die gesellschaftliche Realität zu ändern - nur eben in die von ihr bevorzugte Richtung. Und die ist eben homophob und reaktionär. Sind wir mal froh, dass sie kaum Einfluss auf die Schulen hat. Da tut der Bildungsföderalismus ausnahmsweise mal was Gutes...

7) Populistisches Rosinenpicken
Nun geht die Ablehnung viral, haben auch Israel und Polen mitgeteilt, dass sie den UN-Migrationspakt nicht unterzeichnen wollen. Und es werden wahrscheinlich nicht die letzten Staaten gewesen sein. Ob bei der Ablehnung wirklich nachvollziehbare, lautere Gründe das Motiv bilden, darf bezweifelt werden – man will wohl vor allem seinem nationalistischen Ruf gerecht werden und keine Schwäche zeigen. Denn eine internationale Übereinkunft – mag sie auch noch so unverbindlich sein – gilt unter den nationalstaatlichen Einzelgängern im Moment als schlechter Deal. Wo früher rational war, ist heute national. Dabei ist der UN-Migrationspakt natürlich nicht fehlerlos, ist sein teilweise angestimmtes Hohelied der Migration fragwürdig, weil sie für die Betroffenen doch Verlust und meist Entbehrungen mit sich bringt und für Zielländer auch Probleme; aber er ist doch ein guter Kompromiss, weil er auch Staaten wie die vom Golf und Afrikas zum Beispiel in die Verantwortung nimmt. Der Pakt ist im Großen und Ganzen einfach eine Anerkennung von Realitäten und der Versuch, eine Verbesserung der Situation von Individuen und Staaten hinzubekommen. Es wäre ein erster guter Schritt, wenn, ja, wenn da eben nicht die Semantik wäre… [...] Auf dem Feld heiß umstrittener politischer Themen geht es ja schon länger nur noch um die Zeichen, die man setzt, um das richtige „Framing“, nicht die Fakten und Argumente. Da werden von links alle Migranten, Asylsuchenden und Flüchtlinge einfach einheitlich zu „Flüchtenden“ umdefiniert und die Aufnahme aller, ja, einfach aller als von den Menschenrechten diktiert; und von rechts hat man den Herbst 2015 immer als „Grenzöffnung“ und „Rechtsbruch“ deklariert, wider besseres Wissen. Der populistische Zweck heiligt auf allen Seiten die semantischen Mittel. Und so wird es bei diesem UN-Migrationspakt, nachdem die Regierung die Aufklärung mittels politischer Bildung verschlafen und sich der Bundestag mangels völkerrechtlicher Verbindlichkeit des Pakts als nicht zuständig verstanden hat, wie in den vergangenen Jahren zu einem intensiven populistischen Rosinenpicken kommen – und es wird gleich nach dem 11. Dezember beginnen. (Bernd Rheinberg, Salonkolumnisten)
Die CDU hat scheinabr nichts aus Bayern gelernt. Die Kritik am UN-Migrationspakt ist ein typisches Beispiel für identity politics, ein völlig unbedeutendes Thema, das die rechten Populisten nutzen, um von einer Weltverschwörung zu orakeln, die Flüchtlingsströme zur Durchsetzung ihrer fiesen Machenschaften orchestriert. Die Kritik an diesem Pakt, die von solch illustren Bettgenossen wie Orban, Trump, Bolsanora und anderen geteilt wird, hat ja nichts mit den konkreten Maßnahmen zu tun, von denen das Ding herzlich wenig bietet - es sind ja doch nur unverbindliche Absichtserklärungen. Stattdessen geht es um das öffentlichkeitswirksame Positionieren am rechten Rand; die CDU hoffte wohl, eine billige Möglichkeit zu bekommen, rechte Glaubwürdigkeitspunkte zu sammeln, ohne irgendetwas Substanzielles dafür tun zu müssen. Seehofer und Söder sollten eigentlich Beweis genug gewesen sein, dass das nicht funktioniert. Das Framing der Rechten zu übernehmen ist das Spiel des Verlierers. Das erlebt die SPD gerade bei ihrem undurchdachten und ebenso unglücklichen Versuch, die Abschaffung von Hartz-IV zu fordern, ja genauso. Punkte des Gegners werden übernommen, um sie zu neutralisieren - nicht, um sich zu profilieren. Die CDU führte den Mindestlohn nicht ein, um ihr soziales Profil zu schärfen, sondern das der SPD zu verwaschen. Merkel hat das verstanden. Ihre Gegner eher weniger.

8) Rechtsausleger
Spahn hat dafür auch innerparteilich eine Menge Haue einstecken müssen, wie so oft in den vergangenen Jahren - allerdings gehörte das bislang auch zu seinem politischen Geschäftsmodell: Die Chefin kritisieren = auffallen = interessant sein. Nur so hat er es am Ende geschafft, ein potenzieller Nachfolger zu werden. Weil er die Projektionsfläche für alle Merkel-Kritiker in der CDU war. Dann allerdings tauchte der Wirtschaftsanwalt und Multi-Aufsichtsrat Merz aus der politischen Versenkung auf, der einst Merkels Antipode gewesen war - und plötzlich war Spahn nur noch 1b für die der Vorsitzenden Überdrüssigen: Keiner von denen, die Spahn jahrelang gestützt haben, hat sich bislang für ihn ausgesprochen. Jetzt ist ja Merz da. Umfragen in der Bevölkerung sehen ihn und Kramp-Karrenbauer deutlich vorn, auch in der Partei rechnen viele damit, dass die beiden die Sache unter sich ausmachen. [...] Merz reiste mit dickem Schal an, er hat sich eine kleine Erkältung eingefangen, jetzt ist davon allerdings nichts mehr zu spüren: Man müsse ja wissen, dass Deutschland weltweit das einzige Land sei, das ein Grundrecht auf Asyl habe, sagt Merz. Deshalb sei er seit Langem der Meinung, dass offen darüber geredet werden müsse, ob dieses Asylgrundrecht "in dieser Form fortbestehen" könne, wenn eine europäische Einwanderungs- und Flüchtlingspolitik ernsthaft gewollt werde. Die Rechtsauslegung des Juristen Merz bedeutet mit anderen Worten: Er stellt das Grundrecht auf Asyl zu Debatte. Nun kann man der Meinung sein, dass vom ursprünglichen Artikel 16 seit der umkämpften Reform 1992 ohnehin nur noch Teile übrig sind - aber die waren in der demokratischen Mitte bislang so wenig umstritten, dass sie nicht einmal Jens Spahn zur Disposition stellte. [...] Kramp-Karrenbauer zieht in Seebach ihre Furche weiter. Ihr Angebot heißt: große exekutive Erfahrung als langjährige Regierungschefin im Saarland und zuvor Ministerin in verschiedenen Ressorts, politisches Detailwissen - und ein Herz für die CDU. Sie ist deutlich emotionaler als bislang, auch schärfer mitunter im Ton und manchen Forderungen. Aber im Wettbewerb der Rechtsausleger will Kramp-Karrenbauer nicht mitspielen. Bislang schien das erfolgsversprechend zu sein. (SpiegelOnline)
Ich muss zugeben, ich habe fast ein wenig Mitleid mit Jens Spahn. Der Mann hat mehrere Jahre lang konsistent daran gearbeitet, sein Profil als Kritiker Merkels von rechts zu schärfen und sich als Gesicht des Rechtsrucks aufzubauen. Das muss ziemlich anstrengend gewesen sein, weil er damit beständig seinen Kollegen Ärger machte. Unter den aktuellen Führungskräften und Funktionären in der Partei wird er sicher die eine oder andere Brücke verbrannt haben. Und dann, wenn das Ziel endlich erreicht und in Griffweite ist, kommt von der Seitenlinie der seit 14 Jahren abgeschriebene Merz daher und sammelt eben alle Früchte von Spahns Arbeit ein, weil die ganze Medienlandschaft und ein guter Teil der Basis aus den Mann anspringen, statt Jens Spahn zu folgen. Die Krokodilstränen, die manche jetzt wegen der Kritik an Merz' Wohlstand weinen, sind daher auch verfehlt. Der gleiche Glamour und Verbindungsknoten, der Merz jetzt als Mühlstein um den Hals hängt, hat ihn überhaupt erst so weit gebracht. Für Spahn dürfte das nur ein schwacher Trost sein. Er ist jetzt der nützliche Idiot, der AKK's Sieg garantiert, weil er die Anti-Merkel-Stimmen aufspaltet. Vielleicht trifft er sich mal mit Lafontaine auf ein Gläschen Wein an der Saarschleife, der kann ihm sicher erzählen, wie sich die Situation so anfühlt, wenn man von einem als intellektuell durchweg unterlegenen Zentristen ausmanövriert wird. Ob AKK der Vergleich mit Schröder wohl schmeichelt? Keine Ahnung. Von Spahns persönlichem Schicksal abgesehen können sich andere Parteien ein Beispiel an dem aktuellen Kampf um die Führung bei der CDU nehmen: Effektiv exerziert die Partei den eigenen moderaten Rechtsruck geschickt durch. Hätte die SPD bei ihrem Versuch des Linksrutschs seit 2013 auch nur einen Bruchteil des taktischen Geschicks der CDU besessen, sie stünde deutlich besser da. Spahn und Merz sind die Folie, vor der AKK sich einerseits als pragmatisch-vernünftiges Korrektiv profilieren kann und andererseits behutsam an manchen Stellen vom Merkel-Erbe abrücken. Spahn und Merz erweitern den Diskursrahmen, und AKK setzt ihn neu. Allein diese Position als ultimativer Arbiter macht sie zum Favoriten, selbst wenn Spahn und Merz sich nicht gegenseitig Stimmen wegnehmen würden und Merz gegenüber AKK der deutlich unterlegene Politiker wäre. Gleichzeitig bleibt die CDU mit einem gesitttet-demokratischen Führungsstreit um echte Positionen in den Schlagzeilen. Faszinierend. Man muss die Partei bewundern. Und da erzähle mir mal einer, Merkel hätte die Demokratie abgetötet. In der CDU ist mehr innerparteiliche Demokratie als bei FDP, SPD und LINKEn zusammen. Allenfalls die Grünen können da gleichziehen. Was für eine Ironie.

9) Bundestag wählt Stephan Harbarth zum obersten Verfassungsrichter
Der Bundestag hat Unionsfraktionsvize Stephan Harbarth (CDU) ans Bundesverfassungsgericht gewählt. Der 46-jährige Rechtsanwalt erhielt bei seiner Wahl die erforderliche Zweidrittel-Mehrheit. Auf Harbarth entfielen 452 Stimmen, 166 Abgeordnete votierten gegen ihn. Es gab 34 Enthaltungen. [...] Harbarths Wahl in das höchste deutsche Gericht ist nicht unumstritten. Der Deutsche Juristinnenbund bemängelte, dass keine Frau für den Posten ausgewählt wurde. Die Linke stört sich daran, dass ein Berufspolitiker aus dem Bundestag zum obersten Gericht wechselt. Ihr Abgeordneter Niema Movassat sagte im Deutschlandfunk, als Verfassungsrichter werde Harbarth über Gesetze entscheiden, die er selbst mitbeschlossen habe. Solche Interessenskonflikte sollten vermieden werden. (SpiegelOnline)
Ich bringe diese Meldung hauptsächlich, weil der Kontrast zu den USA so faszinierend ist. Ich bin nur sehr zufällig über diese kleine Spiegel-Meldung gestolpert. In Deutschland war die Wahl eines neuen obersten Verfassungsrichters ein totales Non-Event. Natürlich liegt das, wie mir auf Twitter hilfreich beigesteuert wurde, auch zu großen Teilen an den massiv unterschiedlichen Rechtssystemen in USA und Deutschland; bei uns ist die gesetzgebende Kraft der Verfassungsrichter wesentlich beschränkter. Aber das ist sicherlich nicht die ganze Wahrheit; trotz aller Unterschiede hält bei uns die Mitte, und die Tatsache, dass CDU und SPD - die diese Ernennungen effektiv immer noch maßgeblich steuern - zu moderaten Kompromissen neigen und eben nicht ideologische Kandidaten einsetzen sorgt dafür, dass das BVerfG, anders als SCOTUS, kein sonderlich parteiisches Instrument ist - und entsprechend hohe Zustimmungs- und Vertrauenswerte genießt. Auch hierzulande haben wir immer wieder die Diskussion um das BVerfG als "Ersatzgesetzgeber", aber von amerikanischen Zuständen sind wir glücklicherweise weit entfernt.

10) When will conservatives admit that racism exists?
It’s pretty clear from the start that Voegeli has no intention of, say, providing us with an idea of what he thinks racism is and how it should be fought. His job is merely to provide intellectual cover for Donald Trump’s jeremiads against political correctness and leave it at that. You could easily read his whole essay and come away with the notion that racism in America barely even exists anymore, while the real threat comes from all the lefties who oppose racism and occasionally go a little too far for his comfort. This belief is now so standard on the right that it barely even needs to be defended with anything like a coherent argument: just toss out a few examples here and there and everyone will understand exactly what you’re saying. So why bother with more? It’s too bad, because the truth is that some of the more extreme precincts of the left could use a serious challenge on this score in order to sharpen their thinking. Essays like Voegeli’s, by contrast, are totally ignorable. I mean, does he seriously think that power has nothing to do with racism in practical terms? That hardly seems possible. So why not mount an argument that takes racism seriously and then reflects on how power intersects with racial fears and attitudes in America? [...] There is an essay worth spinning out here, but only if it starts with a mutual understanding that white racism is still endemic in America; still mostly hurts people of color; is mostly pretty quotidian; and continues to demand action from those of us with the power to do something about it. Start there, and a look at the changing nature of America’s power structure might be useful and provocative. Start anywhere else, as conservatives almost all do these days, and you’re just making excuses for Donald Trump and his pals. (Kevin Drum, Mother Jones)
Ich finde besonders den Aspekt spannend, den Drum gegen Ende seines Artikels aufbringt. Es wäre im Diskurssystem durchaus genug Platz für eine konservative Kritik an den Rassismus-Konzeptionen, die auf der linken Seite des Spektrums in Umlauf sind, aber dieser Platz wird nicht genutzt. Stattdessen leugnet man die Existenz komplett. Das ist von den Rechten strategisch nicht sonderlich clever. In dem Maße, in dem die Gesellschaft den Rassismus zunehmend als Problem anerkennt und verurteilt - und trotz aller orangenen Präsidenten im Weißen Haus ghet der gesellschaftliche Trend klar in diese Richtung - wird eine Antwort auf das Problem benötigt werden. Wenn die Rechten keine solche Antwort formulieren, dann bleiben stets nur zwei Alternativen: Verleugnung oder Übernahme der linken Ideen. Letzteres ist natürlich immer Anathema, weswegen häufig genug nur die Verleugnung bleibt. Das ist bedauerlich, denn wie ein vor einigen Wochen von mir verlinkter Artikel von Andrew Sullivan bereits festgestellt hat ist ein gesunder Konservatismus ein gutes Korrektiv. So wird ja etwa in Deutschland von liberal-konservativer Seite immer wieder beklagt, wie unsinnig die eine oder andere Maßnahme der Energiewende ist, sicherlich nicht zu Unrecht. Nur, die Weigerung, selbst ein konkurrierendes Konzept aufzustellen, führt dann eben zu diesem Ergebnis: unter konservativen Regierungen passiert nichts, und die progressiven Regierungen setzen dann ihre Ideen um - die natürlich auch nicht alle das Gelbe vom Ei sind. Auf Feldern, auf denen beide Seiten das Problem anerkennen und nur um die richtige Lösung streiten, wie das in einer Demokratie ja bestenfalls immer der Fall ist, können deutlich nachhaltigere Lösungen gefunden werden, weil üblicherweise das spätere Verbessern von Problemen kein Thema ist: da geht es dann nur um handwerkliche Umsetzung.

11) A determined man: World War I, Hitler and the march into World War II
Historians and political scientists have often noted this shift toward war aversion in Europe. Arnold Toynbee points out that World War I marked the end of a “span of five thousand years during which war had been one of mankind’s master institutions.” And Evan Luard observes that “the First World War transformed traditional attitudes toward war. For the first time there was an almost universal sense that the deliberate launching of a war could now no longer be justified.” It appears that only one man really disagreed with this development, but he proved to be crucial. As military historian John Keegan puts it, “only one European really wanted war: Adolf Hitler.” Another historian concludes: “Hitler willed, desired, lusted after war…In every country the military advisers anticipated defeat, and the economic advisers expected ruin and bankruptcy.” As political scientist Robert Jervis summarizes, few scholars believe that World War II would have occurred in Europe “had Adolf Hitler not been bent on expansion and conquest.” As this suggests, in order to bring about another continental war it was necessary for Germany to desire to expand into areas that would inspire military resistance from other major countries and to be willing and able to pursue war when these desires were opposed. Only Hitler possessed that desire and war-willingness. [...] As Weinberg concludes, Hitler was “the one man able, willing, and even eager to lead Germany and drag the world into war.” And Hitler was well aware of this. As he told his generals in 1939, “essentially all depends on me, on my existence, because of my political talents.” Clearly, if, against all odds, Europe’s greatest cataclysm came about only because one spectacularly skilled, lucky, and determined man willed it into existence, this has substantial implications. It suggests, for example, that World War II in Europe was not an inevitable continuation of the first — that it was not somehow in the cards. It also suggests that appeasement may unwisely have been given a bad name. In the 1930s, the British and French were becoming aware that the terms of settlement to World War I had foolishly been too harsh on the Germans and were working to mellow them. That policy might well have worked with any German leader except Hitler. And World War II did not naturally grow out of the instability of the 1920s or the depression of the 1930s. Hitler may have been aided by the turmoil, but his existence was necessary (but not, of course, sufficient) for the war to take place. If he, rather than the man next to him, had been gunned down in the Beer Hall Putsch, it certainly seems that World War II in Europe would not have taken place. (John Mueller, War on the Rocks)
Ich habe auf dem Geschichtsblog auch schon einmal über diese Thematik gesprochen: an und für sich war der Zweite Weltkrieg ein durch und durch unwahrscheinliches Ereignis. Ohne Hitler passiert er nicht; es ist einer dieser Fälle, in denen die "Great Man Theory of History" voll zu ihrem Recht kommt. Mit Ausnahme Hitlers war sich praktisch die gesamte Welt einig, dass einen großen Krieg zu führen so ziemlich das Nutzloseste ist, was man machen kann. Die Reaktionen der Öffentlichkeit in allen europäischen Staaten auf die Ereignisse der Jahre 1937 bis 1939 spricht ja auch eine deutliche Sprache: Die Deutschen, die auf Militärparaden mit eisiger Ablehnung reagieren; die Briten, die sich an die Hoffnung des Appeasement klammern; die Franzosen, deren Moral absolut auf dem Tiefstand ist. Das macht übrigens den Gedanken aus dem Artikel oben auch relevant. Appeasement war keine grundsätzlich dumme Politik. Wäre Hitler nicht ein so vollkommen irrationaler Akteur gewesen, so hätte diese Politik (auf Kosten der Tschechoslowakei) den Krieg ziemlich sicher verhindert. Geschicktere Politiker als er hätten vielleicht keine so auffälligen Erfolge wie die Annexion des Sudetenlands bekommen, dafür aber ziemlich sicher eine ähnlich weitreichende und vor allem nachhaltigere Revision des Versailler Vertrags. Aber das alles ist dank dieser Person nie Realität geworden.

Mittwoch, 21. November 2018

Reale und eingebilde Verschwörungen um Abtreibung, Brasilien, Parteispender und Sprachverfall - Vermischtes 21.11.2018

Die Serie "Vermischtes" stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Sie werden mit einem Zitat aus dem Text angeteasert, das ich für meine folgenden Bemerkungen dazu für repräsentativ halte. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten.

1) Trump wird nie verlieren
Die Vermutung, dass diese Leute einfach sturzbekloppt seien, ist auf gefährliche Weise falsch, und das beweist ausgerechnet Hans-Georg Maaßen. Dem kann man viel nachsagen, aber mangelnde Intelligenz gehört definitiv nicht dazu, im Gegenteil. Maaßen hat mit seiner bestürzenden Rede vor europäischen Geheimdienstchefs gezeigt, dass er nicht bloß Verschwörungstheoretiker ist - sondern Verschwörungsideologe. Anders lässt sich "Linksradikalismus" in der SPD - der Partei gewordenen Pendlerpauschale - schlicht nicht erkennen. Das ist keine Verschwörungstheorie mehr über Juso-Kevin, der den sozialistischen Umsturz plant zur Errichtung eines protomarxistischen Kühnertismus. Nein, das ist Ideologie. [...] Denn es geht bei einer Verschwörungsideologie nicht darum, was genau man glaubt - sondern um die Rechtfertigung der eigenen Reaktion darauf. Verschwörungsideologien wollen keine Erklärungen für die Geschehnisse und Verwerfungen in dieser Welt, das ist nur austauschbares Mittel zum Zweck. Verschwörungsideologien bestimmen das Handeln ihrer Anhänger, um vermeintliche Gegenmaßnahmen zu legitimieren, die Basis jeder Opfererzählung. Das macht sie so gefährlich - denn in jeder Verschwörungsideologie ist automatisch ein Appell zur Aktivierung und Mobilisierung verborgen: Verbreite mich weiter, werde aktiv, vernetze dich, organisiere dich, wehre dich! Es ist kein Zufall, dass Maaßen in die Politik gehen möchte, es ist im Gegenteil die Erfüllung seiner Weltsicht. [...] Verschwörungsideologien führen zur Autokratie, sie öffnen die Gemüter für Erlöser- und Heldenerzählungen, in denen allein ein starker Mann über die verschworene Feindesmacht von innen, außen, oben und unten siegen kann. Wir sehen die perfekte, politische Instrumentalisierung der Trump'schen Verschwörungsideologie. Trump hat nicht verloren, er wird nie verlieren, er kann gar nicht verlieren. Er wird höchstens Opfer einer Verschwörung. (Sascha Lobo, Spiegel)
Lobo beschreibt hier wichtige psychologische Prozesse. Was wir an den populistischen Ränder beobachten können, und zwar tatsächlich einmal an beiden Seiten, ist der Versuch, eine eigene Realität zu schaffen, die gegenüber abweichenden Informationen praktisch immun ist. Ich finde das sieht man gerade an den NachDenkSeiten sehr gut, wo auf ständig irgendwelche bösartigen Einflüsse von außen dafür schuld sind, dass sich die bevorzugte policy der Autoren nicht durchsetzt; immer irgendeine Verschwörung, die die Aufklärung der Bevölkerung verhindert, die sonst natürlich geschlossen diese Position übernehmen würde. Und auf der AfD haben wir das Gleiche, wo "das Volk" ja immer eine ganz andere Meinung hat als "die da oben", und praktischerweise kennt die AfD diese geheime Meinung und kann sie direkt umsetzen. Immer der gleiche Mist bei der NachDenkQuerfront.

2) "They don't really want us to vote"
Restrictions on voting, virtually all imposed by Republicans, reflect rising partisanship, societal shifts producing a more diverse America, and the weakening of the Voting Rights Act by the Supreme Court in 2013. [...] Voting-rights advocates in Missouri are arguing in court that the state underfunded efforts to educate residents on a voter ID law. In North Carolina, the legislature’s regulation of early-voting hours has shuttered polling places across the state, even as it purports to increase voting opportunities. [...] Nathaniel Persily, a Stanford University law professor and elections scholar, said what was going on reflected a shift from a belief in shared rules of democracy toward one that sees elections as struggles for power “in which you need to push up against the rules to win.” He added, “We’ve reached a situation in which the fight over the rules and who gets to vote is seen as a legitimate part of electoral competition.” (Danny Hakim/Michael Wines, New York Times)
Ich zitiere diese Artikel aus der New York Times weniger wegen des Inhalts als wegen der Exemplarität von ungeheuer schädlichen journalistischen Mechanismen: dieser furchtbare Bothsiderism und die verlorene falsche Objektivität, die die Zeitung auch zwei Jahre nach 2016 weiterhin mit voller Kraft betreibt, sind ein Desaster. Da wird so getan, als ob die "Polarisierung", die natürlich beide Seiten quasi passiv und gleichermaßen betrifft (was völliger Unfug ist) natürlicherweise in voter suppression mündet. Die NYT hat panische Angst davor, die Verantwortlichen klar zu benennen. Dabei sind die Artikel selbst gar nicht so schlimm und liefern alle Fakten, aber immer mit diesen Relativierungen, mit denen sie sich gegen Subjektivitätsvorwürfe absichern. Das hat furchtbare Konsequenzen, gerade weil die NYT als objektiv gilt. Auf die Art machen sie die Arbeit ihrer Gegner, wie ein neutrales Land im Zweiten Weltkrieg.

3) Abortion may be more mobilizing to Democrat than to Republican voters now
The partisan struggle over abortion has been an enduring feature of American politics. But the parties have not prioritized it equally — the issue has consistently animated Republican voters more than Democrats. Two new surveys, however, reveal a remarkable shift in how important the issue of abortion is to Democrats and Republicans ahead of the 2018 midterm election. [...] Democrats are also increasingly likely to say abortion is an important voting issue. A recent Pew poll showed that abortion is a far more central voting concern for Democrats today than it has been at any point in the last decade — 61 percent of Democratic voters said abortion is very important to their vote this year. In 2008, only 38 percent of Democratic voters said the same. That’s roughly the same percentage of Democratic voters who say terrorism, taxes, immigration, the federal budget deficit or trade policy is an important voting issue. [...] Another likely reason for the rising concern among Democrats is the years-long campaign to curb abortion access at the state level. [...] A final factor that may be contributing to the sharp rise in concern about abortion is that reproductive health care has taken a more central place in the Democratic agenda as women, particularly young women, have taken on more prominent roles in the party. [...] Whatever the immediate political fallout from the 2018 election, Democrats are likely to continue to prioritize the issue of abortion so long as its legal status appears to be threatened and access is limited. In the short term, this may mean that fewer Republicans campaign on their uncompromising opposition to abortion. Conservative Christians, a group that has worked for decades to overturn Roe v. Wade, have been conspicuously tight-lipped about abortion in recent months — an indication that they are worried about the possible political fallout of discussing their views. The 2018 election will tell us if that strategy comes too late and the abortion issue has given Democratic voters an additional reason to head to the polls. (Brian Cox, 538)
Passend zum letzten Vermischten ein weiteres Beispiel dafür, dass identity politics ein wirksames Mittel der Politik und eben nicht Gedöns-Beiwerk sind. Das gilt auch für die USA. Der öffentliche und prominente Protest führt zu einer Umschichtung der öffentlichen Meinung, und das ist ein wertneutraler Prozess. Deswegen ist es auch so wichtig, dass man den entsprechenden rechten Narrativen so entschlossen entgegentritt. Ein Seehofer'sches Zündeln am rechten Rand ist eben kein harmloses Wahlkampftaktieren, sondern leistet aktiv einer Zunahme von Fremdenfeindlichkeit Vorschub. Es zeigt auch, wie wichtig positive Narrative sind, an denen sich ein solcher Wandel entzünden kann und die gegen Furcht und Hass immunisieren.

4) The Saruman trap
Conservatives in distress turn to ancient texts. In the current circumstance, those of us of a Hebraic cast reach for the prophet Isaiah in his darker moods, or the even fiercer denunciations of Amos. Devout Christians despairing of a society in full malodorous rot look to The Rule of St. Benedict. Classicists might pick up a volume of Seneca, sighing wistfully as they contemplate the philosopher’s fate at the hands of his mad pupil, Emperor Nero, who, unlike President Donald Trump, at least played a musical instrument competently. A more twisted few will reach for Machiavelli. For those undergoing real tests of the soul, however, the place to go is J. R. R. Tolkien’s modern epic, The Lord of the Rings. [...] erstwhile NeverTrumpers who wryly describe themselves as “OccasionalTrumpers,” or who attempt to cleanse themselves of the stain of having signed letters denouncing candidate Trump by praising President Trump’s achievements and his crudely framed, rough-hewn wisdom, deploring his language but applauding at least some of his deeds. It is the temptation to accommodate oneself to the nature of the times, as Machiavelli would have put it, and to ally—cautiously but definitely—with the Power that is rather than the principles that were. And that is where Tolkien comes in. His masterwork—the six books in three volumes, not the movies with their unfortunate elisions, occasional campiness and spectacular computer-generated images—addresses many themes relevant to our age, not least of which is that temptation. [...] And there you have it. Ally with the rising power (Sauron is making his ashen, desolate homeland, Mordor, great again) and use your wisdom to contain and guide it. Your old friends and allies are fools or weaklings. Go along with the inevitable, and you may shape the new world; oppose it, and you will simply fail and perish. [...] The stakes are not nearly as high for conservative thinkers as they were for the inhabitants of Middle Earth, but the basic idea is worth pondering. Some of them wish to walk back their condemnation of Trump, the animosities that he magnifies and upon which he feeds, the prejudices upon which he plays and the norms he delightedly subverts. They do so not because their original judgments have been proved unjust—far from it—but because, weary of unyielding opposition, they would like to shape things, or at least to hold communion with those who are in the room where the deals are done. But as Gandalf and Galadriel could teach them, the height of wisdom is to fear their own drive for power, to fight the fight in a darkening world even if it looks likely to end in failure, and, above all, to choose to remain their better selves. (Eliot A. Cohen, The Atlantic)
Ich finde das nicht nur aus Nerdstream-Gesichtspunkten eine interessante Metapher. Tatsächlich finden sich diese Quisling-Konservativen in wahren Massen, und nur eine verschwindend geringe Minderheit hat die Größte besessen, ihre Karrieren und ihre wirtschaftlichen Interessen für ihre Überzeugungen zu opfern. Das ist auch verständlich. Aber den Betroffenen muss klar sein, dass sie als "OccasionalTrumpers", ganz egal was sie sich selbst einbilden, unverbrüchlich mit dem Ruch der Trump-Ära behaftet sein werden. Man konnte bei der Austreibung der Neocons während der Primaries 2015 - ironischerweise durch Trump selbst - gut beobachten, wie schnell das gehen kann. Letzten Endes machen diese Saruman-Trumpers die Wette, dass die GOP auf lange Sicht hinaus nun zu Trumps Partei geworden ist, auch wenn der Mann selbst geschwunden ist.

5) Endlich ganz und national
Die Fragen sind nur: Verfügen die Bewerber über ein Programm? Und ist es jenes "Konservative Manifest", das Mitschs Werteunion im Frühjahr unters Volk brachte? Wenn es so sein sollte, dann hätten die Bewerber außer dem naturtrüben Evergreen "Mehr Vaterland, mehr Landesverteidigung, mehr Kernfamilie" nicht viel zu bieten. Tatsächlich aber bringen konservative Köpfe weitaus radikalere Ideen in Umlauf, und zwar solche, die die Union nicht bloß mit Werte-Schaum aufpolstern, sondern die Deutschland selbst substanziell verändern sollen. [...] Interessant daran ist: Wie Dobrindt, so attackiert auch Jens Spahn nicht die Person Angela Merkel, sondern das liberale mentalitätsgeschichtliche Erbe, das sie für ihn verkörpert. Diese Kritik erinnert an eine Geschichtsauffassung, die in der Vor-Merkel-Ära nicht nur unter bekennenden Rechten, sondern auch unter Unionschristen die Runde machte, zum Beispiel im rechtskonservativen Weikersheimer Kreis. Im Kern läuft sie auf die Behauptung hinaus, die Bundesrepublik sei leider nicht das echte, sondern nur das unechte Deutschland – eine Erfindung der Siegermächte, ein der Nation wesensfremdes, auf den Namen "Liberalismus" getauftes Konstrukt. [...] Und was dann? Dringend erwünscht erscheint ein Politiker mit Lizenz zum Durchregieren; für Horst Seehofer war es anfangs Donald Trump, er rühmte die "Konsequenz und Geschwindigkeit", mit der dieser seine Versprechungen wahr machte ("in Deutschland würden wir da erst mal einen Arbeitskreis einsetzen, dann eine Prüfgruppe und dann noch eine Umsetzungsgruppe"). Unterdessen hat Seehofer seine Meinung geändert, dafür bleibt, eigentlich unfassbar, Viktor Orbán ein gern gesehener Gast der CSU. Der ungarische Ministerpräsident saniert gerade seine Gesellschaft, er verbindet Marktwirtschaft mit autoritärer Leitkultur und treibt eine Demokratie ohne Liberalismus voran, also eine Demokratie, die bald nur noch so heißt, aber keine mehr ist. Noch freundlicher, beinahe liebevoll, ist das Verhältnis zum österreichischen Bundeskanzler Sebastian Kurz. Als die Union im Dauerstreit versank, schlug sich Kurz auf die Seite der CSU und bewies für Jens Spahn damit offenbar genau das schneidige Talent, das der Bundeskanzlerin in der Stunde der Entscheidung fehlt. Es ist ja nicht nur der Spiegel, dem Spahns "öffentlich zelebrierte Nähe zu Kurz" auffällt. [...] Wie die Landtagswahlen in Hessen gezeigt haben, gibt es für ein Krisenbewältigungsprogramm nach österreichisch-ungarischem Muster in Deutschland keine Mehrheit, das ist beruhigend. (Thomas Assheuer, Die Zeit)
Das ist ein langer Artikel, es lohnt sich daher mehr als nur den obigen Ausschnitt zu lesen. Ich halte es als eine Langzeitperspektive auf das, was innerhalb des konservativen Spektrums vor sich geht, für wertvoll. Aktuell irrlichtern diese Ideen am Rande des Spektrums der CDU/CSU herum, bei den berühmten Hinterbänklern. Da gab es diese Ideen natürlich immer schon. Wie der Artikel ja auch zeigt gibt es für diese Ideen auch keine Mehrheit; wenn sie Erfolg haben wollen, müssen sie sich an andere, populärere Forderungen anheften - etwa eine restriktivere Flüchtlingspolitik. Es bleibt deswegen auch so wichtig, dass die Union ihre bisher überwiegend erfolgreiche Abgrenzung nach rechts fortsetzt, auch wenn das bedeutet, dass es entgegen früherer Zeiten eine Partei rechts von ihr im Parlament gibt. Ich möchte deswegen auch betonen, dass diese Bewegung und diese Ideen aktuell zwar marginalisiert sind, aber dass die Gefahr eben besteht, dass jemand (Spahn etwa) das Bündnis mit diesen Leuten sucht, um an die Macht zu kommen, und sie dadurch legitimiert. So was kann für Außenstehende ruckartig vor sich gehen (auch wenn es sich innerparteilich schon länger abgezeichnet hat, siehe GOP). Manche werden sich daher umgucken, wenn die je gewinnen, gerade auch Kommentatoren hier im Blog, die das häufig zu sehr framen entweder als eine reine policy-Frage (etwa die konkrete Ausgestaltung des Asylrechts) oder als reine Wahlkampftaktik.

6) Sunday, Bloody Sunday
Kann die SPD sich also trotz allem auch in der Regierung erneuern? Das zu glauben fällt schwerer denn je. Und das hat nichts mit dem sehr sozialdemokratischen Koalitionsvertrag zu tun, sondern maßgeblich mit einem schlimmen Tripple: Grenzzurückweisungen, Maaßen und Diesel. [...] Der „Dieselkompromiss“ hat den Eindruck verschärft, dass die Regierung nicht auf der Seite der Verbraucher, sondern der Bosse steht. Verkannt wird dabei, dass beiden – Regierung und Bossen – bei dem Blick in die Zukunft der deutschen Automobil- und Zulieferindustrie der nackte Angstschweiß auf der Stirn steht. Wir stehen hier vor einem möglichen Fiasko, wogegen sich die große Stahlkrise der 80er und 90er Jahre wie ein leises Rumpeln ausmachen könnte. [...] Gleiches gilt natürlich für die Braunkohle, die kein Mensch mehr braucht, außer denen, die unmittelbar davon ihren Lebensunterhalt bestreiten. Dass der Staat es nicht schafft, Hand in Hand mit der Industrie in Boomzeiten den Betroffenen eine vernünftige Alternative anzubieten, ist ein Armutszeugnis. [...] Die dritte bedeutende Baustelle ist die Frage einer solidarischen EU, die angesichts neuer ökonomischer wie militaristischer Bedrohungen aus dem Osten wie dem Westen die einzige Antwort sein kann. Auch hier tritt allen Beteiligten der Angstschweiß auf die Stirn. Mehr EU ohne mehr Solidarität geht nämlich nicht. Und mehr Solidarität bedeutet natürlich auch engere Kooperation und Verantwortung. Die Bundesregierung hat sich bisher entschlossen, die Initiativen von Macron weitgehend zu ignorieren. Man kann diese in Teilen gut oder schlecht finden, aber die Frage bleibt dann, welche Initiativen denn von dieser Großen Koalition ausgehen, damit sie den Namen „Groß“ verdient. [...] Deutschland steht nicht vor einem Rechtsruck. Auch das haben die letzten Wahlen gezeigt und die Umfragen ebenso. Die große friedliche und demokratische deutsche Mitte – rund 75-85%, sortiert sich zwischen CDU/CSU, SPD, Grünen, FDP und in manchen Bundesländern, wie etwa Thüringen, zähle ich die Linke mit zur demokratischen Mitte. Das Pendel schlägt zurzeit eindeutig in Richtung des modernen Deutschlands. Dafür muss die Politik die Zukunft der Arbeit mit der Zukunft der Welt, in der wir leben und der Art, wie wir in dieser Welt zusammenleben wollen, verbinden. Welche progressive Partei sich hierfür am besten aufstellt, wird die Zukunft gewinnen. Eine tolle Aufgabe. Man sollte irgendwas mit Politik machen. (Frank Stauss)
Die These, dass gerade die Diesel-Affäre der SPD besonders schade, ist sicherlich originell, aber ich finde sie durchaus bedenkenswert. Schließlich betrifft das eine frühere Kernwählerschaft der Partei. Die Verbindung zwischen dieser Krise auf der einen Seite und dem Gegensatz Vorstände und Arbeiterschaft, den Stauss hier aufmacht, ist eigentlich auch offensichtlich; umso verwirrender, dass die SPD einmal mehr nicht in der Lage ist, diesen auszunutzen. Es scheint, als hätte die Partei panische Angst davor, einen klassenkämpferisch angehauchten Wahlkampf zu machen. Ich habe über das Disruptionspotenzial des Niedergangs der Autoindustrie bereits in meinem Artikel Finis Baden-Wuerttembergiae geschrieben. Die deutsche Politik macht hier viel zu wenig und versucht, einer todgeweihten Industrie, die sich weigert sich zu reformieren, durch massive staatliche Intervention das Ableben hinauszuzögern. Die Milliarden, die in die Subventionierung der Autoindustrie gehen, werden uns bei der Bewältigung des Strukturwandels nachher bitter fehlen. Das Ruhrgebiet und das Saarland können ein bitteres Lied davon singen. Vielleicht sollten die Ministerpräsidenten Niedersachsens, Bayerns und Baden-Württembergs mal mit ihren Kollegen sprechen.

7) Wer hat Angst vorm Sprachverfall?
Interessant finde ich es in diesem Zusammenhang allerdings immer wieder, wenn Menschen sich Sorgen machen, dass unsere Sprache (oder ihre Sprache) bedroht ist, zu degenerieren. Menschen reden nun schon seit mehr also 50 000 Jahren, und bisher ist keine Sprache, die von einer Vielzahl von Menschen gesprochen wird, degeneriert. Sprachen können vergessen werden, ja, sie können aussterben, und ihr Tod ist traurig, da er sich im Vergessen zeigt, wenn Sprecher ihre Muttersprache nicht mehr verwenden können oder wollen, und sie ihren Kinder nicht mehr beibringen. Aber die großen Sprachen wie Deutsch und Englisch, Russisch und Chinesisch, Spanisch und Französisch, sie sind alle nicht davon bedroht, von ihren Sprechern aufgegeben zu werden, und solange das nicht passiert, kann eine Sprache auch nicht degenerieren. Sprachen verändern sich so lange sie existieren, immer, ohne Unterlass, das wissen wir schon sehr lange, aber Sprachen degenerieren nicht. Sie können nur anfangen, von dem abzuweichen, was wir persönlich als ästhetisch ansehen. Aber gerade wenn sich Sprachen in bestimmten Bereichen ändern, die einigen Menschen nicht passen, dann liegt das ja auch daran, dass es viele Menschen gibt, die mit den neuen Änderungen keine Probleme haben. Und wenn eine Mehrheit der Sprecherinnen und Sprecher einer Sprachgemeinschaft eine neue Sprachpraxis akzeptiert und praktiziert, dann ist das die neue Norm, und es ist vermessen, sich als einzelner Sprecher hinzustellen und sich darüber aufzuregen, wie dumm doch die Mehrheit ist, die unsere Sprache langsam aktiv in den Abgrund treibt. [...] Sprachen ändern sich, so lange sie existieren, das hat schon August Schleicher gesagt (Schleicher 1863). Solange es jedoch genug Menschen gibt, die eine Sprache aktiv sprechen und sich ihrer bedienen, um zu kommunizieren, solange ist eine Sprache auch nicht gefährdet zu degenerieren. Es ist schade, dass Vorstellung, dass Sprachen wie das Deutsche bedroht sein können, immer noch in den Köpfen einiger Menschen herumspukt, die sich als Sprachpfleger berufen fühlen, dem schrecklichen Verfall entgegenzutreten. Man kann sich über Floskeln aufregen, die Menschen benutzen, man kann sich auch darüber aufregen, wenn Menschen mit ihrer Sprachwahl unachtsam sind und unnötig andere Menschen verletzen, aber Angst vor einer Degeneration unserer Sprachen zu schüren, nur weil die Mehrheit von unserer gefühlten, idiosynkratischen und lediglich emotional begründeten Norm abweicht, das muss man nicht tun. Es gibt weitaus wichtigere Probleme, derer wir uns annehmen sollten, als die Wörter, die unsere Mitmenschen benutzen, um bestimmte Dinge auszudrücken. (Johann-Mattis List, Von Wörtern und Bäumen)
Das Entgegentreten gegen die Idee des Sprachverfalls ist auch so ein Hobby von mir. Ich weiß nicht wie das bei anderen ist, aber ein ganz häufiges Ding in meinem Umfeld ist die wahnsinnig innovative Feststellung, dass im Deutschen die Formulierung "das macht Sinn" ja eigentlich "nicht richtig" sei, weil es "richtig" schließlich "Sinn ergeben" heißen müsse. Ich frage dann immer pointiert zurück ob mein Gegenüber denn verstehe, was ich meine, wenn ich "Sinn machen" sage. Das wird natürlich bejaht. Wo also liegt das Problem? Das gilt für viele Sachen. "Richtige" Sprache ergibt sich aus ihrer Benutzung. Zahllose Worte fallen aus der alltäglichen Nutzung heraus, und das gleiche gilt für Formulierungen. Ich merke das ja auch in der Schule, wo ich beim Lesen von Literatur oder Quellen im Geschichtsunterricht zahllose Begriffe mit Fußnote angeben muss, um die Texte überhaupt verständlich zu halten. Davon abgesehen würde dem Deutschen ein Trend zur Vereinfachung ähnlich dem PSE im englischen Sprachraum (Plain Simple English) auch gut tun. Ich erwische mich ja selbst immer wieder beim Bauen von Schachtelsätzen und unnötigen Verwenden von Fremdworten. Das spricht weniger positiv über meinen Bildungsstand als negativ über meine Formulierungsfähigkeit. So, Selbstkritik beendet.

8) Alice Weidel bezahlte Wahlkämpfer mit Spende
Demnach schickte ein Kölner Medienanwalt, der von Weidel beauftragt worden war, gegen Journalisten vorzugehen, seine Rechnungen an die Bundesgeschäftsstelle der AfD. Von dort wurden sie mit Weidels Einverständnis an den Kreisverband Bodensee weitergeleitet, wo die Kreisgeschäftsführerin mit der Bearbeitung von Weidels Rechnungen betraut war. Für die Begleichung wurde ein Unterkonto verwendet, auf dem die rund 130.000 Euro aus der Schweiz lagerten. Das Unterkonto wurde geschaffen, um die Wahlkampfausgaben von den übrigen Ausgaben des Kreisverbandes zu trennen. Nach Informationen der „Süddeutschen Zeitung“ forderte der Anwalt eine fünfstellige Summe. Ebenso wurde ein für Weidels Wahlkampf in sozialen Netzwerken zuständiger Mitarbeiter instruiert, seine Rechnung direkt an den Kreisverband zu richten. In Parteikreisen ist von Beträgen zwischen drei- bis zehntausend Euro im Monat die Rede, davon soll der Mitarbeiter unter anderem sogenannte Facebook-Likes gekauft und Inhalte erstellt haben. Weidels Sprecher bestätigte die Rechnungsstellung an den Kreisverband. Dass zur Bezahlung auch das Spendengeld verwendet wurde, erklärte er damit, dass „die Kreisschatzmeisterin davon ausgegangen ist, dass diese Spende völlig ordnungsgemäß ist“. Auch Weidel habe das gedacht. (FAZ)
Inzwischen hat sich die AfD-Spendenaffäre ja noch deutlich ausgeweitet; ich will daher auf zwei ganz andere Aspekte eingehen. Das erste, was zwar ständig berichtet, aber irgendwie nicht thematisiert wird, ist dass die AfD mit dem Geld Likes gekauft hat. Wie bei Trump, Farage, Le Pen und Konsorten auch ist die angebliche Stärke im Netz teilweise eine Mirage, unterstützt von Armeen von Bots und ähnlichen Hilfestellungen, mit denen eine Minderheitenbewegung sich größer zu machen versucht als sie ist - ein bisschen wie Fidel Castro, der im Interview einen Boten hereinplatzen ließ, der atemlos von einer "zweiten Kolonne" berichtete, die gar nicht existierte. Im Times-Artikel stand es dann die unter 100 Köpfen zählende Truppe nachher dann als inselumspannende Armee. Der zweite Faktor ist die übliche Ausrede, dass man nur Fehler gemacht habe. Die Crux ist, dass das sogar möglich ist. Die AfD als relativ neue Partei ist schnell groß geworden und hat keine gut eingespielten und mit kompetentem Personal ausgestatteten Institutionen. Da kann so Quatsch schon vorkommen. Aber: Die Beträge, die hier bei kleinsten Ortsverbänden hereingekommen sind, stehen in keinem Verhältnis zu deren Spendenhistorie. Wenn die gedacht hätten, dass das alles völlig sauber und stressfrei ist, hätten sie doch damit angegeben.

9) Die trennende Brücke
Liessmanns Diagnose, wonach die Weltoffenheit symbolisierende Bevorzugung des Englischen der Selbsterhöhung einer sich kommunikativ abschließenden Elite dient, betrifft nicht nur das Verhältnis der Wissenschaft zur Öffentlichkeit, sondern auch das Selbstverhältnis des akademischen Personals. Wer nicht seine Bildungssozialisation hindurch bilingual aufgewachsen ist, vermag in der Regel Gedanken, Interpretationen und Urteile in seiner Erstsprache prägnanter und selbstsicherer zu formulieren denn in einer Zweitsprache, so routiniert er diese auch beherrscht. Er muss also, um nicht gegen die kommunikativen Verkehrsregeln zu verstoßen, gleichsam die Erstsprache auf die Verkehrssprache herunterbringen und auf all jene Nuancen verzichten, die sich nur in der Erst-, nicht in der Verkehrssprache formulieren lassen. Dadurch aber tritt in den Geisteswissenschaften – mit Adorno und Gadamer gesprochen –„das Entscheidende“ tendenziell in Widerspruch zu dem, was „praktisch“ ist. Fungiert statt der Erstsprache die allen Gesprächspartnern vertraute Zweitsprache als einzige Verkehrssprache, avanciert jenes „Praktische“, die Sphäre instrumenteller Mitteilung, zum wichtigsten Maßstab eines gelingenden Gesprächs. [...] Würde demgegenüber das trennende, unterscheidende Moment von Sprache stärker ins Bewusstsein gehoben, könnte das nicht nur der Genauigkeit des Ausdrucks, sondern auch dem kommunikativen Potential von Sprache nützen. Adornos Satz, „das Entscheidende, was unsereiner zu sagen hat“, könne „von uns nur auf Deutsch gesagt werden“, lässt sich nämlich auch als Einladung lesen: Andere, aber eben nicht er selbst, könnten das Gleiche anders, aber ebenso angemessen in einer anderen Sprache formulieren. Damit ist der Konnex von historischem Gedächtnis, lebensgeschichtlicher Erfahrung und sprachlicher Form benannt, den jede Erkenntnis voraussetzt und der durch die Fetischisierung des Englischen als allgemeine Verkehrssprache verdrängt wird. (Magnus Klaue, FAZ)
Ich empfinde diesen Text als Satire, muss ich ehrlich sagen. Er ist auch so ein Gegenstück zu meinem Fundstück 7. Da beschwert sich jemand in höchstem Akademiker-Duktus mit Verweisen auf Adorno darüber, dass ausgerechnet die Verwendung des Englischen den akademischen Diskurs unverständlich mache. Are you fucking kidding me? Ich erzähle diese Geschichte gerne, deswegen sorry wenn ihr das von mir schon gehört habt, aber als ich 2006 angefangen habe, Politikwissenschaften zu studieren, waren die allerersten zwei Einführungs-Proseminare ein Albtraum: die Grundlagentexte im Reader waren völlig unverständlich, und die Behandlung im Seminar half nicht, das zu ändern. Als die nächsten Texte Englisch waren hatte ich völlig Panik: ich hatte ja bisher schon nichts verstanden, wie dann jetzt auch noch auf Englisch? Obwohl meine Sprachkenntnisse damals mehr so mittel waren, verstand ich sie problemlos, PSE sei dank. Die deutschen Texte blieben unverständlich. Noch schlimmer war die Einführungsvorlesung Lyrik im Deutsch-Studium; ein Saal von hunderten Studenten, teils im Dritten Semester, verstand NICHTS. Wirklich nichts. Der Dozent sprach technisch gesehen Deutsch, aber ich kannte jedes dritte Wort nicht. Es war ein Albtraum. Magnus Klaue sollte daher mal aus dem Elfenbeinturm herauskommen. Und vielleicht ein paar englische Texte lesen.

10) The yawning divide that explains American politics
A gender gap has been a durable feature of American politics, most easily seen in presidential election results. Since 1980, American women have consistently backed Democratic candidates for president at higher rates than have men, while men have favored Republicans—a gender split not seen in the earliest national exit polls, conducted in the 1970s. [...] Now, educational attainment has supercharged that split among white voters, who account for more than 70% of the electorate. Those with bachelor’s degrees have shifted toward the Democratic Party, while the Republican Party has gained among voters who don’t have four-year college degrees. The educational divide isn’t strong among nonwhite voters, who lean heavily toward the Democrats. In fact, minority voters with and without bachelor’s degrees have become more politically aligned in recent years. [...] Differences in cultural values and views of government widened during President Obama’s time in office, when he promised to build an activist government that would increase spending on education and social programs. Among white voter groups, women with college degrees were by far the most supportive of Mr. Obama’s governing philosophy, while men without degrees have grown more skeptical of it, especially in the past three years. [...] The differences between the two groups are stark on many of the issues dominating the midterm campaign: immigration, gun control and health care. In each case, white men without college degrees support Mr. Trump’s policy stance, while white women with degrees are opposed. (Brian McGill, Wall Street Journal)
Dieser Artikel ist, man entschuldige die Wortwahl, bigotte Scheiße. Während die Bestandsaufnahme selbst komplett richtig ist (wer mehr von den Statistiken sehen will, klicke den Artikel), ist die Analyse völlig unbrauchbar. Woher kommt das? Es ist die ideologische Scheuklappe des Autors, der in der Hauspostille der GOP schreibt. Man merkt das im zweiten Teil des obigen Zitats, wo er von "Unterschieden in kulturellen Werten und Ansichten von Regierung" spricht, die zu einer Ablehnung des "aktivistischen Politikstils" Obamas geführt habe. Dieser Unfug wurde 2016 ja auch zur Genüge verbreitet, unter dem Schlagwort der "economic anxiety", die ja angeblich diese Wahlentscheidungen lenke. Aber es sind identity politics, nichts anderes. Die Wähler haben kein Problem mit aktivistischem Regieren; sie wollen nur, dass die aktivistische Regierung IHRE bevorzugte Politik durchsetzt statt die der anderen. Das ist, wie ich in einem früheren Vermischten gezeigt habe,. völlig normal, aber es macht die Wall-Street-Journal-"Analyse" praktisch wertlos.

11) Jair Bolsonaro Is Elected President of Brazil. Read His Extremist, Far-Right Positions in His Own Words.
In short, every major political institution has been increasingly discredited as Brazil has spiraled deeper and deeper into a dark void. And from the abyss emerged a former army captain and six-term congressman from Rio de Janeiro, Jair Bolsonaro, with the slogan “Brazil above everything, God above everyone,” and promises to fix everything with hard-line tactics. Seven years ago, Bolsonaro was a punchline for the political humor program CQC, where he’d make outrageous statements. A former presenter, Monica Iozzi, said they interviewed him multiple times “so people could see the very low level of the representatives we were electing.” Now, it’s Bolsonaro who is laughing, and Iozzi says she regrets giving him airtime. Riding the wave of public discontent, Bolsonaro campaigned against the Workers’ Party, corruption, politicians, crime, “cultural Marxism,” communists, leftists, secularism, and “privileges” for historically marginalized groups. Instead, he favored “traditional family values,” “patriotism,” nationalism, the military, a Christian nation, guns, increased police violence, and neoliberal economics that he promises will revitalize the economy. Despite his actual political platform being short on specific proposals, the energy around his candidacy was enough to win the presidency and turn his previously insignificant Social Liberal Party into the second-largest bloc in Congress. But what has frightened his opponents, many international observers, and even some fervent Workers’ Party critics, are Bolsonaro’s repeated declarations in favor of Brazil’s military dictatorship, torture, extrajudicial police killings, and violence against LGBTQ people, Afro-Brazilians, women, indigenous people, minorities, and political opponents, as well as his opposition to democratic norms and values. (Andrew Fishman, The Intercept)
Es lohnt sich, den obigen Artikel anzuklicken um die vielen Zitate Bolsonaros im Artikel direkt zu lesen. Ansonsten ist denke ich klar, warum ich diesen Ausschnitt zitiere. Genauso wie in Brasilien war es in den USA ein massiver Fehler, einen rechtsextremen Clown wegen seines Unterhaltungswerts zu normalisieren und nicht ernst zu nehmen, bis der Clown dann plötzlich die Kontrolle über einen ausgewachsenen Staat in die Hände bekommt. Da hört der Spaß dann nämlich ganz schnell auf.