Montag, 23. Februar 2015

Warum Jim Messina die SPD nicht retten wird

Laut Medienberichten befindet sich Sigmar Gabriel gerade in Verhandlungen mit Jim Messina, um ihn als Berater für die SPD in den kommenden Wahlkämpfen zu gewinnen. Jim Messina war bis 2012 Obamas Mann für's Grobe. Er analysierte Schwächen von Republicans und nutzte sie gnadenlos aus. Zudem gehört er zu der Fraktion der jungen Nerds, die der Überzeugung sind, in der Analyse von Daten zentrale Informationen zu gewinnen und Wahlkämpfe von einer instinktbasierten Angelegenheit auf das Niveau durchkalkulierter taktischer Züge zu bringen. Welches Plakat kommt bei welcher Demographie besonders an? In welche Straße hängt man es, in welche nicht? Welche Sprache muss ein Brief haben, wenn er den potenziellen Nichtwähler beschämen soll, um doch zur Wahl zu gehen, aber gleichzeitig ihn nicht so verärgern, dass er aus Trotz nicht geht? Für Details dieser Art ist Messina gewissermaßen ein Guru. Berühmt geworden ist er freilich mit einem medienkompatibleren Narrativ, als Mann für Soziale Netzwerke. Der Facebook-Typ. Von ihm verspricht sich Sigmar Gabriel offensichtlich das Heil. Er wird es nicht bekommen.

Die Bedingungen in USA und Deutschland sind viel zu unterschiedlich, als dass Messina eine große Hilfe wäre. Als PR-Gag ist er zudem hierzulande zu unbekannt. Diverse Hindernisse stehen einer erfolgreichen Anwendung im Weg.

Hindernis 1: Das Geld.

Es klingt mittlerweile wie eine wesentlich zu oft gespielte, abgeleierte Schallplatte, aber US-Wahlkämpfe verschlingen Unsummen. Der Wahlkampf 2012 hat die Marke von über einer Milliarde Dollar geknackt. Der Bundestagswahlkampf 2013 kommt dagegen nur auf knapp über 55 Millionen Euro. Selbst wenn man die Bevölkerungsgrößen verrechnet, kommt der US-Wahlkampf noch fast auf das fünffache der Kosten. Diese Berechnung trügt aber, weil die US-Wahlkämpfer in vielen Bundesstaaten überhaupt kein oder fast kein Geld ausgeben und ihre Mittel stattdessen in den wenigen Battleground-States konzentrieren, was in Deutschland wegen dem Verhältniswahlrecht (glücklicherweise) keine Strategie darstellt.

Die Daten, die Messina und seine Brüder im Geiste für ihre Art der Wahlkampforganisation brauchen, gibt es aber nicht umsonst. Es braucht ein Heer von Leuten, die vor Ort Befragungen durchführen, die an Türen klopfen, Telefonumfragen durchführen, etc. etc. Allein eine größere Umfrage per Telefon schlägt sich mit mehreren zehntausend Euro zu buche. Die Taktiken, die Obamas Leute benutzt haben, erfordern einen effektiv politikwissenschaftlichen Ansatz, mit Experimenten und Kontrollgruppen, was gigantische Kosten verursacht, für die die Parteien schlicht das Geld nicht haben - deren Budgets werden ja schon immer durch die großflächigen Plakatwerbungen und schlechte TV-Spots aufgefressen. Bestimmte kostensparende Werbemaßnahmen wie Negativwerbung sind dagegen mit unserer politischen Kultur nicht vereinbar (siehe Hindernis 2).

Hindernis 2: Die politische Kultur

In Deutschland werden immer noch vorrangig Parteien gewählt, nicht Einzelpersonen. Mit so etwas haben die Amerikaner aber keine Erfahrung. Kein Wunder, dass die amerikanischen Methoden ihr größtes europäisches Anwendungsfeld in Großbritannien finden, wo zwar starke Parteistrukturen, aber auch ein dem amerikanischen System ähnliches Mehrheitswahlrecht existieren. Hierzulande gibt es keine starke Tradition, Einzelpersonen vor der Parteibindung zu bevorzugen. Nicht umsonst kann die CDU in manchen Regionen Baden-Württembergs auch einen Kartoffelsack aufstellen und trotzdem siegen.

Ein noch größeres Hindernis aber dürfte die deutsche Aversion gegen Negativ-Werbung sein. Die amerikanischen Wahlkämpfe werden inzwischen von dieser Art Werbung dominiert, in der in drastischen Tönen die charakterliche Integrität des jeweiligen Kandidaten angegriffen wird. Wie soll das denn in Deutschland funktionieren? Als Äquivalent zu den amerikanischen Methoden müsste Merkel für ihre DDR-Vergangenheit attackiert werden, für ihr Familienleben (oder den Mangel desselben) und für ihren Kleidungsstil, garniert mit misogynistischen Untertönen. Kann man sich das ohne einen riesigen Backlash vorstellen, noch dazu von der SPD? Wohl kaum. Auch die Personalisierung und das Verwandeln von Politik in ein Branding, das überhaupt erst ein "Fan-sein" für etwas erlaubt (Yes-we-can-Buttons, etc.) ist uns mittlerweile eher fremd. "Willy wählen" ist schon eine Weile her.

Hindernis 3: Das Wahlsystem

Wie bereits erwähnt ist in Deutschland das Verhältniswahlrecht die entscheidende Wegmarke. Es bestimmt die tatsächliche Sitzverteilung im Bundestag wesentlich mehr als das Mehrheitswahlrecht der Erststimme. Daher sind selbst in eigentlich hoffnungslosen Bundesländern wie Baden-Württemberg für die SPD oder Berlin oder Bremem für die CDU Wahlkämpfe essenziell, um Anteile der Zweitstimmen zu erhalten, gerade wenn man bei den Erststimmen keine echte Chance hat. Da die Deutschen dazu neigen, ohnehin nach Parteipräferenz zu wählen, ist auch keine ernsthafte Teilung zwischen den Wahlkämpfen für beide Stimmen nötig (taktische Absprachen zwischen zukünftigen Koalitionspartnern sind extrem selten, selbst Grüne, LINKE oder FDP werben immer für beide Stimmen).

Natürlich soll das nicht zu Defätismus verleiten, à la "scheiß egal, wohin wir die Plakate kleistern". Es geht immer um Mobilisierung, und in der Nobelvillengegend braucht die LINKE ihre Plakate nicht aufzuhängen, während die CDU im Kohle-Kumpel-Revier ihren Kleister sparen kann. Die rechtsextremen Parteien zeigen schon seit Jahren, dass sie sehr gut wissen, wo sich ihre Plakate lohnen und wo nicht - es gibt keinen Grund anzunehmen, dass die großen demokratischen Parteien das nicht ähnlich handhaben. Die taktischen Finessen, die in den USA mittlerweile verwendet werden, sind schon allein wegen der deutlich faireren Wahlkreisaufteilung in Deutschland allerdings unnötig - die Werbung muss hier viel mehr in die Breite gehen.

Hindernis 4: Die SPD

Die SPD selbst ist ebenfalls ein gewaltiges Hindernis. Zum einen ist die Partei schlicht nicht cool, und Sigmar Gabriel kein Obama. Eine ähnliche Begeisterung, die sich dann in Likes und Tweets niederschlagen würde, ist kaum zu erwarten, und für ein komplettes Rebranding ist die Zeit bis 2017 zu knapp und der innerparteiliche Widerstand zu groß. Zudem weiß die SPD selbst nicht, welche Partei sie eigentlich sein will. New Labour? Der verlängerte Arm der Gewerkschaften? Irgendwas mit sozialer Gerechtigkeit? Die bessere CDU? Das ist alles unklar. Erwartet sie die Antwort auf diese Frage ernsthaft von Messina, kann sie gleich als Volkspartei abdanken. Ohne eine Klarheit darüber, wer die Partei eigentlich ist, lässt sich aber kein Wahlkampf machen.

Zudem gibt es in der SPD schlichtweg zu viele Köche, die den Brei verderben. Die letzten Wahlkämpfe haben alle gezeigt, dass es der Partei nicht gelingt, eine einheitliche Wahlkampfsstruktur aufzubauen, die eine klare Hierarchie und eine eindeutige Strategie besitzt. Es gibt stets mehrere Gravitationszentren, die nur sehr mangelhaft miteinander kommunizieren. Oben drauf gibt es dann noch das Naturell des Parteivorsitzenden und möglichen Kanzlerkandidaten Gabriel, der sich ohnehin nicht gerne an irgendwelche parteiinternen Absprachen hält sondern lieber im Dialog mit "dem Wähler" glaubt, selbst Politikakzente setzen zu können und seines Parteiapparats dazu nicht zu bedürfen, ja, sich auf seine Kosten profilieren zu können. Das funktioniert für Helmut Schmidt, aber die SPD hat seither noch nie darüber die Mehrheit errungen, dass ihr Kanzlerkandidat sie nicht mochte.

---

Worauf also wird die Anheuerung Messinas hinauslaufen, wenn sie denn klappt? Auf eine ziemliche Geldverschwendung, vermute ich. Messina wird irgendwelche cool klingenden Tipps haben. Vielleicht gibt sich die SPD wie die FDP ein neues Logo, nach dem Motto "hat ja auch in Hamburg geklappt", und wenn die Parteiführung genug trinkt glaubt sie das vielleicht sogar selbst. Dazu eine neue Homepage, drei Social-Media-Fritzen in Teilzeit und einige schnittige Interviews. Am Ende macht die Partei dann wieder ihre gewohnte Sache, Gabriel schießt quer, Messina auch, und am Ende schieben sich alle die Schuld gegenseitig zu, und Merkel bleibt Kanzlerin. Das wirklich tragische ist wie vorhersehbar das Debakel eigentlich schon ist.

Montag, 16. Februar 2015

Das wackelige theologische Fundament der ISIS

Im Atlantic ist eine sehr lange, detaillierte und mehr als nur interessante Analyse der theologischen Grundlagen von ISIS und ihrer Idee vom Kalifat erschienen, die man zur Lektüre nur empfehlen kann. Inmitten der sehr detaillierten und logisch untergliederten Argumentation voller informativer Teile über islamische Theologie, deren Kenntnis in der westlichen Welt leider nicht sonderlich weit verbreitet ist, findet sich allerdings ein intellektueller Irrtum, der Woods Analyse selbst nicht beschädigt, aber letzten Endes ISIS in die Hände spielt und, wenn man ihn aufdeckt, deren ohnehin wackeliges theologisches Fundament (das Wood deutlich aufzeigt) noch mehr ins Schwanken bringt.

Die Argumentation des Autors, Graeme Wood, ist dabei dass die ISIS den Islam und seine schriftliche Grundlage, den Koran, extrem ernst nimmt - wörtlich - und deswegen eine auch in der islamischen Welt extreme Nische ohne Breitenwirkung besetzt. Die überschnelle Bereitschaft von ISIS, andere als "ungläubig" abzustempeln und damit pauschal aus der Gemeinschaft der Muslime auszustoßen (takfir), wird von Wood als eine eklatante Schwäche der Bewegung gedeutet. Dasselbe gilt für das Anerkennen von Autoritäten außerhalb Gottes selbst (shirk), was das Anerkennen von politischen Institutionen, ihre bloße Benutzung selbst für die eigenen Ziele und sogar die Anerkennung von Grenzen und das Schließen von Verträgen beinhaltet.

Wood kommt daher zu dem Schluss, dass die beste Strategie gegen ISIS ist, ihre zentrale Theologie, die Expansion eines bereits ausgerufenen Kalifats, gegen sie arbeiten zu lassen, indem man ihnen genau dies verwehrt, und sie so zu einem gescheiterten nahöstlichen Staat unter vielen zu machen. In diesem Kontext sind die US-Luftschläge eine den Umständen entsprechend effiziente Taktik. Zu diesem Schluss kommt auch von einem säkular-militärischen Standpunkt Gary Brecher, der in seinen Kolumnen immer wieder die Wichtigkeit betont, den Hype um ISIS zum Platzen zu bringen und sie nicht stärker zu machen als sie sind.

Wo also liegt Woods Irrtum, der dieses Ziel konterkariert? Wood weist daraufhin, dass ISIS eine extreme und wörtliche Auslegung des Koran propagiert. Diese extreme Lehre einer extremen Lehre (die Sunniten sind ja ohnehin schon der Religionszweig, der den Text so wörtlich wie möglich zu nehmen versucht) basiert auf einer zeitgenössischen Anwendung frühmittelalterlicher Prinzipien: der Koran als ein Werk des 7. Jahrhunderts gibt auch dessen Wertvorstellungen und Regeln wieder. ISIS wird in Woods Narrativ so zu einer reaktionären Extremistenschar, die die "reine Lehre" umzusetzen versucht, mit dieser aber nur wenige wirklich überzeugte Anhänger findet (für die es in den "Stillen Salafisten" zudem noch eine gewaltfreie Alternative gibt).

Der Fehler allerdings ist ISIS zuzugestehen, überhaupt eine reine oder extreme Version des Islam umzusetzen, wie er im 7. Jahrhundert gepredigt und gelebt wurde, unter der (korrekten) Annahme, dass hierfür in unserer Zeit schlichtweg keine Basis mehr bestehe. Das Problem bei dieser Lesart des Korans ist, dass weder wir noch ISIS noch sonst irgendwer weiß, wie die Realität im 7. Jahrhundert wirklich aussah. Alles was wir wissen ist, wie die Autoren des Koran aufschrieben, dass die Realität sein sollte. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Regeln und Vorschriften des Koran auch in seiner Frühzeit nie wörtlich befolgt sondern von Situation zu Situation neu ausgelegt wurden, ist hoch - schon allein, weil dies immer und mit allen heiligen Texten zu allen Zeiten so war, ob Torah, Bibel oder US-Verfassung.

ISIS zuzugestehen, das Wissen über diese Epoche zu haben, ist daher ein Fehler, weil es implizit die Legitimation von ISIS stärkt, die eine angebliche reine Lehre vertreten und leben wollen. Was es stattdessen braucht ist der beständige Hinweis, dass Texte Produkt ihrer Zeit sind und dass wir sie immer und nur aus dem Spiegel unserer eigenen Zeit lesen können (und ja, ich weiß, dass der Islam den Koran als direkt von Gott diktiert sieht und Revisionen damit erschwert, aber auch die biblischen Propheten und Evangelisten wurden einmal betrachtet, als hätten sie die direkte Verbindung zum Himmel und wir sind davon abgekommen). Die Vorstellung, dass es eine perfekte Zeit mit einer perfekten Anleitung für das perfekte Leben gab, ist Grundlage des blutigen Wahns. Ihr muss man beikommen, und dieses Fundmanent muss man beständig angreifen.

Montag, 9. Februar 2015

Warum Elizabeth Warren und Paul Ryan nicht Präsident werden wollen

In den USA gehen gerade die Kandidaten für die Primary-Season 2015 in Stellung. Das heißt für Politikjunkies, Journalisten, Aktivisten und Experten allerorten: es wird wieder spannend. Wer steht für was? Wer hat welche Chancen? Welche arkanen Besonderheiten des US-Wahlrechts werden dieses Mal den Wettbewerb verzerren? Wer finanziert wen? Und was macht überhaupt...? Bemerkenswert an dieser Saison ist bereits jetzt, dass auf der einen Seite mit Hillary Clinton und Jeb Bush zwei enge Verwandte von Ex-Präsidenten antreten. Doch noch etwas anderes ist auffällig: dass zwei weitere mächtige und bekannte Persönlichkeiten überhaupt kein Interesse zeigen, in den Vorwahlprozess einzusteigen. Auf der Seite der Republicans ist das Paul Ryan, der Vizepräsidentschaftskandidat von 2012 und aktuell Vorsitzender des Haushaltsausschusses im Kongress, einer der wohl mächtigsten Positionen der Legislative. Auf der Seite der Democrats ist das Elizabeth Warren, seit kurzem Senatorin für Massachusetts. Beide haben ihren jeweiligen Fans und Fürsprechern abgesagt und wollen lieber bleiben, wo und was sie sind. Warum eigentlich?

Ich hatte eingangs erwähnt, dass Warren und Paul beide zu den mächtigsten und einflussreichsten Politikern der USA gehören. Um die Frage nach ihrer Nicht-Kandidatur zu beantworten müssen wir eines wissen: Woher kommt ihre jeweilige Stärke? Paul Ryan steht bereits seit längerer Zeit im Rampenlicht. Am bekanntesten ist er für den "Ryan-Haushaltsplan" und seine fast schon fanatische Begeisterung für die Bibel der Libertären, Ayn Rands Roman "Atlas Shrugged". Ayn Rands Philosophie ist die einer bedingungslosen Marktwirtschaft ohne Regeln und Hilfen. Wer gewinnt, gewinnt alles, wer verliert, verliert alles. Seit Mitt Romneys gescheitertem Wahlkampf und seinen berüchtigten Bemerkungen über die 47%, die angeblich nichts leisten, ist Ayn Rand etwas aus der Mode gefallen und Ryan versucht, seine frühere Begeisterung (wer für ihn arbeitete musste das Buch lesen und wurde getestet) herunterzuspielen. Bisher nicht verleugnet hat er dagegen seinen Haushaltsplan, der geradezu absurd hohe Einsparungen bei den Sozialleistungen und Steuererleichterungen vorsieht, was dann zu gewaltigem Wirtschaftswachstum führen soll.

Dieser Haushaltsplan - beziehungsweise Ryans Philosophie dahinter - nimmt für die Republicans den gleichen Stellenwert ein wie im vergangenen Jahrzehnt der gleichfalls berüchtigte "Anti-Tax-Pledge" des Steueraktivisten Rover Norquist, der es geschafft hat, alle Republicans zu dem Eid zu bewegen, niemals und unter keinen Umständen die Steuern zu erhöhen. Diesem Eid hat Ryan nun effektiv den Eid auf Verzicht auf Schulden und Kürzungen des Sozialstaats hinzugefügt - was für Republicans eigentlich nur einen Ausweg lässt: krasse Streichungen in allen künftigen Plänen. Seit Ryan der Vorsitzende des Haushaltsausschusses ist, kann er die Früchte dieses vorherigen Erfolgs beim Prägen der ideologischen Linie der Partei nun in direkte Politik umsetzen.

Elizabeth Warren hingegen kommt vom entgegengesetzten Ende des Spektrums. Von Harvard aus, wo sie eine Spezialistin für Konkursrecht war, trieb sie als Lobbyistin diverse Verbraucherschutzmaßnahmen voran. Ihr größter Erfolg, noch bevor sie in den Senat gewählt war, war die Einrichtung eines komplett neuen Ministeriums für Finanzverbraucherschutz, das die Freiheiten der Kreditkartenfirmen, obszöne Überziehungszinsen zu verlangen ebenso einschränkte wie die der Banken und diverse Verbesserungen für die Beratung der Kunden sowie den Fall des Falles - Bankrott - vorsah. Die Erfolgschancen einer solchen Unternehmung waren vorher von den meisten Beobachtern als sehr schlecht eingeschätzt worden. Warren trat zudem als dezidierte Kritikerin der Wall Street auf, ohne dabei in bloßen Populismus zu verfallen. Sie hat ein beeindruckendes akademisches und professionelles Ressüme hinter sich.

Mit diesen Erfolgen und Referenzen forderte sie 2011 in Massachusetts den amtierenden Senator Scott Brown heraus und besiegte ihn. 2012, frisch im Senat, belegte sie sofort mehrere wichtige Ausschussposten und profilierte sich durch ebenso fundierte wie scharfe Attacken von links gegen Obama, während sie ihre neue Stellung nutzte, mit aller Macht gegen die Aufweichung der nach der Finanzkrise geschaffenen Regulierungen (etwa das Dodd-Frank-Abkommen) und für die Schaffung noch schärferer Regulierungen zu agitieren. Auf diese Art und Weise gewann sie besonders unter den linken Democrats starke Unterstützung. Daraus erklären sich auch deren ständige Aufrufe an Warren, endlich als Präsidentin zu kandideren ("Run, Warren, Run!"), die sie jedoch - ebenso wie Ryan - beharrlich zurückweist.

Laut der brillanten Analyse des Vorwahlprozesses "The Party Decides", die jedem Interessierten sehr ans Herz gelegt sei, gibt es vorrangig zwei Unterschiede bei Politikertypen. Die einen sind die "policy demanders", also die Politiker, denen es um die Sache geht. Sie haben häufig ein Kernanliegen, das sie mit aller Macht durchsetzen wollen. In diesen Typus fallen Ryan und Warren. Der andere Typus ist der des "ambitious politician", der versucht, an die Macht zu kommen und dem die ideologische Basis dieses Machtstrebens zweitrangig (nicht aber egal) ist. Dieser Typus gibt gerne einen Kampf verloren, wenn er dafür einen anderen gewinnen kann. Angela Merkel ist ein Paradebeispiel dieses Typus. Selten einmal kommen beide in Kombination vor; Willy Brandt oder Barack Obama wären Beispiele für diese Typen. In den Begriffen ist übrigens keine Wertung enthalten: eine funktionierende Demokratie braucht beide.

Auffällig ist aber, dass policy demander häufig kein großes Interesse an Spitzenpositionen haben. Das macht auch Sinn, denn wer in einer Führungsposition ist, der muss zwangsläufig moderieren und Kompromisse eingehen. Man sieht dies am Beispiel Obama nur zu gut. Sowohl Warren als auch Ryan haben ihre Ziele weitgehend damit erreicht, dass sie in der Rolle der policy demander mit ungeheurer Energie ihre jeweiligen Ziele verfolgt und Netzwerke und Ressourcen in den Dienst dieser Sache gestellt haben. Ihnen wäre mit einer Kandidatur nicht gedient. Würden sie eine solche anstreben, zwängen sie alle anderen (und wahrscheinlicheren, weil wesentlich umfrangreicher vernetzten und erfahrenen) Kandidaten zu einer Auseinandersetzung mit ihren Themen - und vermutlich einer Ablehnung derselben.

Bleiben sie dagegen in ihrer Rolle als policy demander, können sie alle anderen Kandidaten bei dem einen Thema, das ihnen am Wichtigsten ist, auf ihre Linie zwingen und erlauben ihnen gleichzeitigen eine differenziertere und wahlkampftaktisch sinnvollere Position. Jeder Präsidentschaftskandidat der Republicans wird zwangsläufig auf Linie mit dem Ryan Budget liegen. Das wäre unmöglich, wenn Ryan Kandidat wäre, denn dann müsste jeder Kandidat einen eigenen Haushaltsplan aufstellen. Gleichzeitig wird sich jeder Bewerber der Democrats positiv zur Regulierung der Wall Street positionieren müssen, weil nicht die automatische Ablehnung der Kandidatin Warren eine gleichzeitige Ablehnung ihrer Politik erlaubt.

Sofern Ryan und Warren sich daher nicht von Eitelkeit und Ambition zum Präsidenten berufen fühlen - und danach sieht es nicht aus - gewinnen sie wesentlich mehr, wenn sie von der Seite zusehen und den Prozess auf diese Art beeinflussen. Denn dann führt an ihnen kein Weg vorbei.

Donnerstag, 5. Februar 2015

Sind wir schlechtere Eltern als unsere Eltern?

Barack Obama und seine Partei der Democrats haben ein neues Thema auf die Tagesordnung gesetzt: erste Priorität für die Betreuung und vorschulische Bildung von Kindern. Zumindest in Sonntagsreden ist dieses Thema auch hierzulande seit mehreren Jahren ein Dauertopos. Nur, woher kommt das eigentlich? Warum müssen Kinder inzwischen ganztags betreut werden? Reichen die Familien nicht mehr aus, handelt es sich hier um ein weiteres Ausgreifen eines wildgewordenen Wohlfahrtsstaats, der in die Familien hineinregiert?