Donnerstag, 5. Februar 2015

Sind wir schlechtere Eltern als unsere Eltern?

Barack Obama und seine Partei der Democrats haben ein neues Thema auf die Tagesordnung gesetzt: erste Priorität für die Betreuung und vorschulische Bildung von Kindern. Zumindest in Sonntagsreden ist dieses Thema auch hierzulande seit mehreren Jahren ein Dauertopos. Nur, woher kommt das eigentlich? Warum müssen Kinder inzwischen ganztags betreut werden? Reichen die Familien nicht mehr aus, handelt es sich hier um ein weiteres Ausgreifen eines wildgewordenen Wohlfahrtsstaats, der in die Familien hineinregiert?  Nein. Den Staat musste man hier eher zum Jagen tragen. Der gewaltige Bedarf an vorkindlicher Betreuung und Bildung, der zweifellos existiert, kommt durch die Eltern. Es gibt ihn aber noch nicht wirklich lange. Woher also kommt das? Die Antwort darauf finden wir bei einem kurzen Blick in die Geschichte, der vielleicht auch hilft, einen Kontext für die aktuellen Diskussionen herzustellen. Die Idee, dass Kinder besondere Bedürfnisse haben und daher besondere Fürsorge benötigen - also nicht einfach nur "kleine Erwachsene " oder "unfertig" sind - ist noch nicht sehr alt und hat erst im 19. Jahrhundert begonnen, sich langsam durchzusetzen. Angesichts der sozialen Missstände jener Zeit - Stichwort Kinderarbeit - war die Frage vorkindlicher Betreuung ein reines Elitenproblem. Alle anderen mussten die Kinder so früh wie möglich für den Broterwerb einspannen und überließen sie vorher sich selbst, beziehungsweise häufig der Fürsorge einer Amme oder einer ähnlichen Einrichtung. Tatsächlich ist überraschend, wie groß der Anteil der Eltern, die ihre kleinen Kinder in fremde Pflege gaben, früher tatsächlich war. Im Paris der Zeit vor der Französischen Revolution etwa waren über 90% der Kinder unter drei Jahren in Pflege, und zwar rund um die Uhr. Die Eltern gaben die Kinder häufig  direkt nach der Geburt weg und holten sie erst mit zwei bis vier Jahren wieder zu sich - mit oftmals traumatischen Folgen für die Kinder, die dabei ihre Bezugspersonen komplett verloren. Von den üblichen pädagogischen Maßnahmen jener Tage überhaupt nicht zu reden, die größtenteils aus Schlägen bestanden, oder von der Verfütterung von hochprozentigem Alkohol als Beruhigungsmittel selbst für Säuglinge. Es dauerte bis ins 20. Jahrhundert hinein ehe sich die Idee durchgesetzt hatte, dass die Kindheit eine schützenswerte Phase im Leben der Kinder sei. Zu diesem Zeitpunkt war allerdings etwas bemerkenswertes geschehen: der Kapitalismus, seiner übelsten Auswüchse durch progressive Gesetzgebung beraubt, hatte sich zu einer Wundermaschine für die Wohlstandsentwicklung entpuppt. Der Lebensstil des Bürgertums, früher nur einer schmalen Schicht vorbehalten, wurde nun von allen Schichten imitiert. Wir sehen dies in einem gewaltigen Rückgang der Frauenerwerbsquoten zugunsten des Ein-Ernährer-Modells selbst in den Arbeiterschichten. Genau diese Entwicklung aber - die ökonomische Basis für das Ein-Ernährer-Modell - schaffte eine permanent verfügbare Bezugsperson, die sich zu 100% Haushalt und Kindeserziehung widmen konnte: die Ehefrau. Durch den größten Teil des 20. Jahrhunderts hindurch ermöglichte es dieser historische Ausnahmezustand, sowohl die Rechte der Kinder zu schützen und gewaltige Fortschritte in Fürsorge und Pädagogik zu machen, was zu den wohl gesündesten, gebildetsten und glücklichsten Kindergenerationen in der Geschichte der Menschheit führte. Doch durch die Entwicklung seit den 1980er Jahren, gerne landläufig unter "Neoliberalismus" zusammengefasst, wurde die ökonomische Basis dieser Arbeitsteilung in Frage gestellt - flankiert von einem ideologischen Angriff auf das Rollenmodell der Hausfrau durch die beginnende Frauenbewegung, die darin zu Recht ein Unterdrückungsmodell erkannte. Wenn jedoch sowohl Männer als auch Frauen dem freiheitsspendenden Vollerwerb nachgehen, so wiederholt sich das Dilemma des 19. Jahrhunderts auf materiell überlegendem Niveau: wer versorgt die Kinder, wenn man diese nicht frühzeitig in das System des Broterwerbs einbinden will (was heutzutage auch keine praktische Alternative mehr darstellt, selbst wenn man alle ethischen Bedenken beiseite lässt)? Da sich gleichzeitig auch die traditionellen Großfamilien aufgelöst haben, stehen die Großeltern nicht mehr als kostenlose Arbeitskräfte zur Verfügung. Angesichts der gewaltigen, von der Bevölkerungsmehrheit nicht zu stemmenden Kosten professioneller Betreuung bleibt als einzige Alternative daher der Staat übrig. Das direkte Resultat ist ein rasch steigender Bedarf an Kinderbetreuungseinrichtungen, der auch in Zukunft kaum abebben dürfte. Er resultiert zwingend aus den Auflösungen traditioneller Familien- und Erwerbsstrukturen. In der bisherigen Debatte wurden diese Teile immer getrennt gedacht - das heißt, dass von konservativer Seite die Auflösung der Familie, von progressiver Seite häufig (und paradoxerweise) der Abschied vom Ein-Ernährer-Modell beklagt wurde. Beide hängen aber zwingend miteinander zusammen. Das Problem nur auf seine moralische oder nur seine ökonomische Komponente zu reduzieren hilft niemandem, am allerwenigsten den Kindern.

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