Freitag, 17. Juli 2015

Der Preis des Hegemon

Wenn die Schweiz sich im Spiegel ihrer Außenpolitik betrachtet, dürfte sie ziemlich glücklich sein. Sie bewahrt sich ihre Neutralität, wird nicht in irgendwelche teuren Experimente hineingezogen und bewahrt sich auf dem für sie so wichtigen Feld der Finanzpolitik ein überproportionales Gewicht, sofern sie nicht gerade allzu flagrant kriminell ist. Sie kann das tun, weil sie klein ist und in einem ziemlich abgelegenen Teil Europas liegt (es sei denn, man ist deutscher Tourist und will nach Italien). Alte Hegemonialmächte wie Frankreich oder England haben für solche falsche Bescheidenheit naturgemäß nur Verachtung übrig. Noch heute erinnert man sich in England gerne der Zeiten, als ein Gentleman auf einem beliebigen Gewässer nur den Finger ins Wasser stecken und ihn ablecken musste, um am Salzgehalt festzustellen ob er sich in englischem Einflussgebiet befand. Die Zeiten derart unverblümter Machtpolitik sind natürlich vorbei, aber die Griechenlandkrise offenbart gerade für alle Welt, dass damit nicht das Verschwinden von Hegemonialmächten einherging.

Was genau ist denn ein Hegemon? Eine Hegemonialmacht ist eine Nation, die durch ihre besondere Stärke - auf politischem, wirtschaftlichem oder militärischem Gebiet - ihre Nachbarn entweder dominiert oder doch wenigstens eine starke Veto-Funktion besitzt. Dabei sind die Kosten dieser Hegemonialstellung häufig genug höher als dder direkte Nutzen. Die USA etwa erfüllen alle drei Kriterien. Zahllose Allianzen und institutionelle Vernetzungen (NATO, UNO, IWF, ...), das weltstärkste Militär und die größte Volkswirtschaft erlauben ihr derzeit als einzige Nation eine weltweite Ausübung von Macht. Andere Nationen sind regionale Hegemonen: China im ostasiatischen Raum, Russland im osteuropäischen, der Iran vielleicht bald im Mittleren Osten und, in Europa, Deutschland.

Die Besonderheit der Deutschen ist, dass sie sowohl den tatsächlichen Status ihres Landes als auch die pure Vorstellung davon strikt ablehnen. Eine der häufigsten Reaktionen in Gesprächen über die Griechenlandkrise ist das Unverständnis darüber, warum die Griechen gerade auf die Deutschen so sauer sind. Dieses Unverständnis ist weit verbreitetet; so war eines der beliebtesten Argumente der letzten Wochen, dass neben Deutschland ja auch die Slowakei und Finnland gegen einen Schuldenschnitt waren. Das ist natürlich wahr. Nur ist es leider auch irrelevant, denn weder die Slowakei noch Finnland haben die Möglichkeit, gegen den Willen anderer Mitgliedsländer ihre Position durchzusetzen. Deutschland dagegen hat das sehr wohl.

Es dürfte dabei auch unter linken wie rechten Gelehrten unstrittig sein, dass Deutschland in den letzten 20 Jahren die Europäische Union stark nach seinem Vorbild geformt hat. Die Regeln von Maastricht, die Einrichtung der EZB und das gesamte Vertragswerk des Euro sind deutsch. Alle anderen Länder der EU wurden entweder auf Linie gezwungen (etwa Frankreich) oder hielten sich von Anfang an aus dem Europrojekt heraus (etwa Großbritannien). Deutschland erreichte diese regionale Hegemonie, dies unzweifelhaft ausübt, nicht mit militärischen Mitteln, weswegen sie weniger sichtbar als die amerikanische oder selbst die chinesische ist. Es erreichte sie über politische und, vor allem, wirtschaftliche Mittel. Als drittgrößte Volkswirtschaft der Erde, weit vor anderen EU-Staaten, hat Deutschland ein besonderes Gewicht in der EU, das sich aus reiner Fläche oder Bevölkerungszahl nicht ablesen lässt.

Die Verleugnung der deutschen Hegemonie durch die Deutschen selbst ist für die Regierung dabei Fluch und Segen zugleich. Fluch, weil die Kosten des Hegemon in der Bevölkerung nicht akzeptiert werden, Segen, weil die Bevölkerung selbst keine großen Erwartungen an die deutsche Außenpolitik stellt und dieser somit größeren Spielraum lässt als etwa den USA. Bei uns ist Außenpolitik nur selten ein Wahlkampfthema. Oder hat in letzter Zeit jemand Deutschlands hervorgehobene Rolle bei den Iranverhandlungen thematisiert?

Insgesamt aber bringt die Verleugnung des Hegemon mehr Schaden als Nutzen. Der Umgang mit Griechenland ist dafür das perfekte Beispiel. Schäuble als de-facto deutscher Verhandlungsführer nutzte das gesamte Gewicht, das der Hegemonialstatus ihm brachte, vermied aber alle Verantwortlichkeiten, die damit einhergingen. Dieses Paradox fiel den Deutschen selbst nicht auf, wie alle Meinungsumfragen belegen. Dem Rest der Welt hingegen schon. Das Argument, dass Deutschland (und die anderen Gläubigerländer) unmöglich die Kosten für griechische Versäumnisse aufgebürdet werden könnten, ist auf den ersten und auch zweiten Blick einleuchtend. Warum sollte man die Schulden der Griechen übernehmen, ohne dass diese die Wurzeln ihres Problems anpacken?

Dabei wird aber übersehen, dass die Kosten durch das semi-unilaterale Handeln der Bundesrepublik deutlich höher, wenngleich vorerst noch unsichtbar sind. Deutschland hatte die Macht, um seine Vorstellungen in einer wesentlich heterogeneren Europäischen Union durchzusetzen und alle anderen Staaten auf Linie zu bringen, das wurde hinreichend bewiesen. Es wurde sogar mit einer Deutlichkeit in die Welt hinausposaunt, die sicher den Gefallen Wilhelm II. gefunden hätte. Ich möchte solcherlei Vergleiche aber gar nicht überstrapazieren, denn wir müssen nicht bis ins Kaiserreich gehen, um einen ähnlichen Fehler bei einem Hegemon zu finden. Tatsächlich hat Schäuble nämlich viel mehr mit George W. Bush gemeinsam als mit dem ehemaligen Kaiser.

Der Machtwechsel 2001 hin zu George W. Bush und den Neocons brachte eine neue Doktrin in die US-Außenpolitik: weg von internationaler Kooperation und Diplomatie hin zur Projektion roher Macht, wenn möglich mit Alliierten, zur Not auch alleine. Hatten die USA 2001 dabei noch die ganze Welt hinter sich, als es sich gegen die Attentäter von 9/11 zur Wehr setzte, konnte dies im Falle des Irak nicht mehr behauptet werden. Trotz vieler Kritik und Neutralitätsbekundungen seitens enger Verbündeter griff Bush den Irak völkerrechtswidrig an - eine Handlung, die das Image der USA nachhaltiger beschädigte als irgendeine Handlung seit dem Vietnamkrieg. Ob die Ziele dabei erreicht werden konnten oder nicht wurde zweitrangig. Selbst wenn der Irak befriedet worden wäre, so hatte die pure Durchsetzung dessen, was durchsetzbar gewesen war - gegen alle Widerstände - den USA gewaltige Langzeitkosten verursacht, die heute noch ihre diplomatischen Beziehungen vergiften und ihre Möglichkeiten, auf andere Krisen zu reagieren - Stichwort Syrien - nachhaltig verschlechtern.

Ähnlich dürfte es Deutschland im Falle der Griechenlandkrise ebenfalls ergehen. Es konnte seine Interessen zu 100% durchsetzen (vorausgesetzt, Merkel wollte den Grexit tatsächlich nicht), gegen alle Widerstände. Dabei hat es aber die Machtstrukturen in der EU für alle sichtbar offen gelegt, genauso wie seine Bereitschaft, diese auch zu nutzen. Die konkreten Konsequenzen liegen dabei notwendigerweise im Dunkeln. Niemand konnte in den USA 2003 den Aufstieg von ISIS voraussehen, oder die Herausbildung Irans zur regionalen Hegemonialmacht. Genauso wenig ist heute klar, welche Schäden Deutschlands Griechenlandpolitik haben wird. So oder so brauchen wir uns aber nicht zu wundern, wenn wir bei der nächsten Krise in der EU einer deutlich stärkeren und entschlosseneren Abwehrfront gegenüberstehen, oder wenn an der Peripherie eher feindlich gesinnte Staaten deutlich an Einfluss gewinnen. Vermutlich würde man sich dann wünschen, die griechische Kröte eben geschluckt und den Preis des Hegemon bezahlt zu haben. Nur wird es dann zu spät sein.

Montag, 13. Juli 2015

Treuhand Athen im Spiegelsaal

Die Troika ist wieder da. Sie heißt zwar immer noch "die Institutionen", was Wolfgang Schäuble vermutlich wurmt. Es scheint dass wenn es nach Mr. Isch Over geht, Alexis Tsipras persönlich in einem Eisenbahnwaggon die Rück-Umbenennung unterzeichnen müsste. Tatsächlich ist die Liste, die die Euro-Finanzminister nun auf 14 Seiten zusammengefasst haben, ein einziger Diktat für die griechische Regierung, der vor allem die komplette Unterwerfung zelebriert. Und ich will hier gar nicht wieder das große Fass von Demokratie und Solidarität aufmachen. Griechenland ist de facto bankrott und befindet sich gerade in der Abwicklung. Zu glauben, dass man in so einer Situation - die Währungsunion und ihre geteilte Souveränität einmal ganz außen vor gelassen - noch die volle Autonomie über die eigenen Angelegenheiten hat wäre hochgradig illusionär. Nur muss sich die Eurogruppe fragen lassen, wie aus der Konkursmasse Griechenland mit den aktuellen Forderungen noch irgendetwas herausgeholt werden soll.

So etwa sind die Folgen der geforderten Mehrwertsteuererhöhung ziemlich absehbar: nicht nur belastet die regressive Steuer gerade die Bevölkerungsgruppen, die ohnehin bereits am schwersten getroffen sind, sie torpediert auch noch einen der letzten funktionierenden griechischen Wirtschaftszweige, den Tourismus. Ebensowenig ist erkennbar, warum ausgerechnet eine Stärkung des Finanzsektors in Griechenland nachhaltiges Wachstum ermöglichen sollte. Nach Lage der Dinge könnte dies nur ein ausländischer, aufgepropfter Finanzsektor sein, denn griechisches Kapital gibt es praktisch keines mehr. Fragt sich nur, in was dieser Finanzsektor investieren sollte - aber da findet sich im Papier ja gleich die nächste Lösung. Und hier offenbart sich auch die Natur dieses Teils des Forderungskatalogs: absurde 50 Milliarden Euro soll Griechenland durch Privatisierungen von Staatseigentum erlösen. Erreicht werden soll dies, indem die zu privatisierenden Güter in eine Treuhand überführt werden, die dann - unter Troika-Aufsicht - die Privatisierungen durchführt.

Das ist geradezu lächerlich. Ausgerechnet Wolfgang Schäuble, der schon ein direkt Verantwortlicher des Treuhand-Desasters nach der deutschen Einheit war, will dasselbe gescheiterte Modell Griechenland aufdrücken. Damals wie heute profitierte vor allem der Finanzsektor - der ja die technische Umsetzung der Privatisierungen vornimmt und dabei eine goldene Nase verdient - und diejenigen, die das Zeug zu Ramschpreisen kaufen konnten. Und niemand kann ernsthaft behaupten, dass es etwas anderes als Ramschpreise geben würde. Der Zeitrahmen für die Umsetzung dieser Maßnahmen ist so lächerlich klein, dass auch nur eine halbwegs ordentliche Bewertung der Assets unmöglich ist, geschweige denn eine vorherige Sanierung oder sonstige Maßnahmen, um das alles ordentlich abzuwickeln.

Stattdessen ist der Ablauf bereits schmerzhaft deutlich sichtbar: die europäischen Finanzinstitute und Investoren werden die Troika-Regeln zum größten Ausverkauf seit Jahren nutzen und, ohne dass die Griechen auch nur das geringste Mitspracherecht hätten, alle Kronjuwelen zu Spottpreisen aufkaufen. Der unverkäufliche Rest wird dann von einer korrupten Treuhand zugrunde gerichtet und untergehen. Der einzige Lichtblick für die Griechen ist, dass nach Durchführung dieses Programms wirklich jede Region Griechenlands sich auf Jahrzehnte hinaus für die EU-Förderung wirtschaftlich schwacher Regionen qualifizieren wird. Dieses Papier sagt nichts anderes als dass die Jagdsaison eröffnet ist, und Glücksritter wie Guy Verhofstadt, die privat mit Firmen engagiert sind die diese Privatisierungen organisieren und öffentlich über das Europaparlament genau diese von Griechenland erzwingen sind nur die sichtbarsten Exponenten einer Reihe neuer Krisengewinnler. Viele davon dürften personal-identisch mit denen sein, deren griechische Staatsanleihen zwischen 2010 und 2014 von der Troika risikofrei, aber mit voller Rendite auf Kosten des Steuerzahlers abgelöst wurden.

Dass vor diesem Hintergrund die harschen Kontrollen der Troika wieder eingeführt werden, verwundert kaum. Erneut muss jeder für die Programme relevante Gesetzesentwurf, bevor das griechische Parlament darüber abstimmen darf, von der Troika abgesegnet werden muss. Syrizas gefeierter Rauswurf der Troika vor einigen Monaten wendet sich nun gegen sie, denn offensichtlich kam die Rettung ja ohne sie nicht; stattdessen folgten die Krisengipfel immer schneller auf härter aufeinander. Dass das natürlich in einem solchen Zeitrahmen unter diesen Bedingungen mit einer unerfahrenen Partei kaum anders zu erwarten ist - geschenkt, das interessiert niemanden mehr. Syriza hat hoch gepokert und zumindest auf diesem Feld klar verloren, denn die Bilanz sieht verheerend aus. Griechenland hat die Kontrolle über sein eigenes Schicksal endgültig verloren.

Ein Passus der betont, dass die Umsetzung all dieser Maßnahmen die Bedingung für die Aufnahme von Verhandlungen ist und keineswegs Prognosen für deren Abschluss zulässt ist da nur noch eine weitere Demütigung. Die nächste Eskalationsstufe wäre der Einmarsch und die direkte Übernahme der griechischen Verwaltung. Auch muss Griechenland nach dem Willen der Eurogruppe einen Paragraphen 231 akzeptieren: die vom IWF festgestellte Nicht-Tragfähigkeit der griechischen Schulden wird "den gelockerten Maßnahmen der letzten 12 Monate" zugeschrieben. Unterschreiben die Griechen dieses Papier, so akzeptieren sie gleichzeitig die Alleinschuld an der desolaten wirtschaftlichen Lage. Dass gerade Deutschland die Demütigung Griechenlands zusätzlich zur Durchsetzung seiner Interessenpolitik in die Verträge packen will zeugt von einer eigenen Geschichtsvergessenheit, die nur noch widerwärtig ist.

Die Aufmerksamkeit wendet sich daher bereits auf die Sieger. Einige arbeiten unverhohlen am Rauswurf Griechenlands aus der Eurozone, allen voran Wolfgang Schäuble und die nordeuropäischen Staaten. Andere sträuben sich dagegen, wie etwa Italien oder Frankreich, aber keiner von ihnen wird ernsthaft seine Interessen für Griechenland riskieren. Ihnen geht es vor allem um die Zukunft innerhalb der Eurozone, das heißt um das künftige Mächtegleichgewicht. Und in diesem haben einige Staaten mit und einige ohne Griechenland einen Vorteil, und entsprechend gestaltet sich auch die Konfliktlinie innerhalb der Eurogruppe. Dies erkennt man an den Passagen der Eurogruppenforderungen, die in eckigen Klammern gehalten sind, denn über sie gab es keine Einigung. So findet sich etwa die Möglichkeit, bei Versagen der obigen Maßnahmen die Rückzahlung der Schulden zu strecken - effektiv also ein Schuldenschnitt auf Zeit - als Forderung Italiens und Frankreichs direkt neben Schäubles Plan, Griechenland "auf Zeit" aus der Eurozone zu stoßen, ebenfalls mit "möglicher" Restrukturierung der Schulden.

Die Wahl, vor die die Eurogruppe Griechenland, das gerade einmal zwei Tage Zeit hat, um die zentralen Forderungen im Parlament zu verabschieden, damit stellt, ist durchaus vergleichbar mit der, vor der Deutschland vor knapp 100 Jahren selbst stand: einen demütigen, offensichtlich nicht tragfähigen und für die Erhohlung einer schwer getroffenen Wirtschaft schädlichen Vertrag unterschreiben - oder eben nicht. Die Frage wäre nur, was dann passiert. Eine Rückkehr zur Drachme wäre mit Sicherheit nicht ansatzweise so einfach und logisch positiv für Griechenland, wie einige Euro-Gegner das durch die rosarote Brille darstellen. Auch ein Default birgt unkalkulierbare Risiken. Hätte Griechenland einen Krieg verloren, stünde ihm eine ganz andere Option offen: nicht unterzeichnen und die Sieger die Verantwortung übernehmen lassen. So weit würde aber nicht einmal Schäuble gehen. Er braucht die Griechen als Vollstrecker der eigenen Politik. So oder so grenzte es an ein Wunder, wenn Griechenland sich unter diesen Aussichten nicht von Europa abwendet und sich den dunklen Impulsen eines einfachen, übersichtlichen Nationalismus mit seinen klaren Feindbildern hingibt. Deutschland hat es unter günstigeren Bedingungen getan.

Montag, 6. Juli 2015

Mit Oxi den Gordischen Knoten durchschlagen

Über 60% der Griechen haben im Referendum vom vergangenen Sonntag die Forderungen der Institutionen abgelehnt. Welche Forderungen das im Detail waren und ob die Griechen sie genau verstanden haben, ist dabei ziemlich irrelevant. Das Angebot der Institutionen lag ohnehin nicht mehr auf dem Tisch, und so oder so wurde das Referendum von allen Seiten mit einer ganz anderen Bedeutung aufgeladen: ein "Nein" ist ein "Nein" zur bisherigen und künftigen Griechenlandpolitik der EU und des IWF, ein "Ja" wäre, unabhängig vom genauen Inhalt, der bedingungslosen Kapitulation gleichgekommen. Die Sackgasse, in der sich die Politik bis letzten Sonntag befand, ist ein Resultat einer schlechten Politik, in der mal die eine, mal die andere Seite mehr Verantwortung trug, am Ende aber niemand mit einer reinen Weste herauskommt, egal, wie markig die Statements der Beteiligten nun auch klingen. Das Referendum hat jedenfalls den gordischen Knoten durchhauen, und nur ein Narr kann glauben, dass das Resultat daraus in einem brauchbaren, glatten Seil besteht.

Ja, die bisherige Griechenlandpolitik der Institutionen ist nicht gerade etwas, was eine Auszeichnung verdient. Die wirtschaftliche und soziale Lage in Griechenland ist katastrophal, und sie verschlimmert sich stetig. Die Renten immer weiter zu kürzen und immer mehr Menschen aus der Krankenversicherung zu drängen ist kaum etwas, das die Wirtschaft ankurbeln wird. Gleichzeitig steht auch nicht zu erwarten, dass die bisher durch die Bank gescheiterten Verwaltungsreformversuche der Griechen besonders viel Zutrauen erwecken und das Land für die Investoren viel attraktiver machen, die jede wirtschaftliche Gesundung benötigt. Die Griechen haben Recht, den Forderungskatalogen der Institutionen zu misstrauen. Die Institutionen haben Recht, den Reformversprechen der Griechen zu misstrauen. Aber zwischen 2010 und 2014 hatte sich ein Modus herausgearbeitet, der berechenbar war: Griechenland brauchte Geld, wurde zu Austerität gezwungen, wurde ärmer und brauchte mehr Geld, worauf mit mehr Austerität reagiert wurde. Begleitet wurde dies von einem Trommelfeuer pejorativer Medienberichte über Griechenland, die diese Politik moralisch aufluden und damit einer sachlichen Debatte weitgehend entzogen.

Jedem konnte dabei klar sein, dass dieser Prozess für extreme soziale Verwerfungen sorgen und das Land in Armut stürzen würde. Das wurde auch von niemandem ernsthaft bestritten. Die Protagonisten dieser Politik argumentierten allerdings, dass diese Anpassungen notwendig seien, weil Griechenland durch die verfehlte Aufnahme in den Euro über seine Verhältnisse gewirtschaftet hatte, eine Annahme, die zuletzt auch in eher progressiveren Kreisen Anklang fand. Sobald also ein Equilibrium erreicht sei, würden die niedrigen griechischen Löhne und Sozialstandards einen Neuanfang und Aufschwung ermöglichen. Nun ist das unzweifelhaft wahr. Eine Volkswirtschaft kann nicht unendlich schrumpfen; irgendwann ist finis graecae erreicht. Nur wie die Deutschen aus eigener Erfahrung wissen sollten ist es unwahrscheinlich, dass das Volk sich bei den Kürzern bedanken wird. Denn wenn mein reales Einkommen um mehr als die Hälfte fällt und ich von einer Mittelschichtenexistenz unter die Armutsgrenze rutsche, während meine Kinder nur die Arbeitslosigkeit und dieselbe Armut als Aussicht haben, ist es mir relativ egal, ob es in 20 Jahren wieder besser aussieht. Ich will, dass es jetzt besser aussieht. Zu denken, dass rein ökonomietheoretische Argumentationen per Fiat ins griechische Bewusstsein zu befehlen sind, war einer der größten Irrtümer der Institutionen. Schon Marx wusste, dass das Sein das Bewusstsein bestimmt.

Der Wahlerfolg von Syriza im Januar 2015 war das sicherste Zeichen, dass die Griechen mehrheitlich nicht länger bereit waren, das europäische Narrativ und die daraus resultierenden Maßnahmen zu ertragen. Obgleich Tsipras und Varoufakis von Anfang an das Ziel betonten, Griechenland im Euro zu halten, hatte sich das Spiel geändert. Von Anfang an war die Möglichkeit von radikaleren Maßnahmen eingebaut. Das lag in der Natur der Sache, war Syriza doch eine radikale Partei. Jede Beteuerung, mit Europa und im Euro arbeiten zu wollen, hatte auch zugleich eine implizite Ankündigung inbegriffen, im Zweifel zu radikalen Maßnahmen zu greifen. Syriza beging ironischerweise den gleichen Fehler wie die Institutionen und glaubte, mit ökonomischer Logik eine politische Krise lösen zu können. Die Annahme Varoufakis' und Tsipras', man könne in Europa eine Allianz gegen das deutsche Dogma der Austeritätspolitik finden, war von Anfang an hoffnungslos naiv (ich habe das im April beschrieben). Die Argumente für und gegen einen Schuldenschnitt waren auch in Brüssel bekannt. Niemand brauchte einen Varoufakis, um sie erklärt zu bekommen, und die Vorstellung, dass man in den Hinterzimmern des EU-Parlaments oder des IWF eine offene Debatte über die Zukunft Griechenlands austragen könnte, war geradezu albern, schien aber tatsächlich geglaubt worden zu sein. Die Einschätzung des Bloomberg Magazine, Tsipras regiere Griechenland wie einen Studentenprotest, geht an der Wirklichkeit nicht allzuweit vorbei.

Nun hatten die Institutionen zwei Dinge, die die Griechen nicht hatten: Zeit und Geld. Sie spielten ihr Spiel daher weiter. Forderungen, kleine Zugeständnisse, Verhandlungen. Syriza aber hatte einen Wandel versprochen. Und den konnte sie nicht liefern. Das Unvermögen, eine europäische Allianz aufzubauen, die auch nur kurz gegen die Deutschlands und der Institutionen bestehen könnte, verschloss sämtliche Möglichkeiten. Was blieb waren schöne Reden und gute Debattenbeiträge, gemischt mit Ausweisen politischer Unerfahrenheit, die allesamt letztlich irrelevant waren. Syriza fand sich, getrieben vom Druck der Innenpolitik von der einen und der unbeweglichen Front der Gläubiger auf der anderen Seite, in derselben Sackgasse, in der sich Papandreou und Samaras auch schon gefunden hatten. Syriza allerdings hatte keine Skrupel, die im Wortsinne populistische Karte zu spielen und den gordischen Knoten zu durchschlagen. Das Referendum ist eine klare Absage an die Institutionen und eine Stärkung des Syriza-Mandats.

Sollten Tsipras und Varoufakis ihre eigene Rhetorik allerdings tatsächlich glauben und davon ausgehen, dass eine Einigung nun wahrscheinlicher geworden ist, so sind sie schief gewickelt. Sie teilten dann den typischen Irrtum der Linken zu glauben, dass nur linke Politik demokratische Legitimation besitzen kann. Auch die 18 anderen Eurostaaten haben demokratisch legitimierte Regierungen, und es kann wohl kaum ein Zweifel bestehen, wie eine Volksabstimmung in der Slowakei, Deutschland oder Finnland bezüglich Griechenlandhilfen oder Schuldenschnitten aussehen würde. Hätten die Regierungen Europas die populistische Karte gespielt, die Tsipras jetzt gezogen hat, so wäre Griechenland bereits 2010 aus dem Euro ausgeschieden. Vielleicht wäre das das beste gewesen - das ist eine Frage, die Historiker werden klären müssen. Aktuell spielt Syriza nur Le Pen, Fortuyn und Farage in die Hände und bedient niedere Instinkte jeder Demokratie.

Dass es soweit gekommen ist ist auch die Schuld einer moralistisch überhöhten EU-Politik, die Griechenland so lange an die Wand gedrückt hat, bis es für die Griechen attraktiver schien, den Sprung ins Dunkle zu wagen als weiter die bekannten Pfade zu gehen. Die Vorstellung, dass diese Krise auf Griechenland beschränkt bleiben und den Rest der EU unangetastet lassen würde, ist, vorsichtig ausgedrückt, mindestens ebenso naiv wie die von Syriza, eine Volksabstimmung in Griechenland würde Wählerpräferenzen in Deutschland ändern. Das europäische Projekt ist so gefährdet wie nie zuvor, und seine Gegner stehen schon in den Startlöchern. Sie stehen dort schon seit Jahren, warten nur auf eine Gelegenheit wie die, die ihnen Syriza gerade geliefert hat. Das macht auch die ungewöhnlich scharfe Rhetorik überzeugter Europäer wie Martin Schulz deutlich. Demokratie bedeutet Kompromisse, und die Europäische Union bedeutet die Aufgabe von Souveränität unter die der Gesamtheit, ob einem das im Einzelfall passt oder nicht. Syriza hat einen Konsens, den die Institutionen bereits ins Wanken gebracht haben, damit vollends aufgelöst. Die Gewinner sind die Feinde der Demokratie. Das Referendum war nicht der Beginn eines neuen, besseren Europa. Wenn wir Pech haben, war es der Schwanengesang des Alten.