Sonntag, 29. Juli 2018

Glanz und Elend der Sozialdemokratie, Teil 5: Der Dritte Weg

Dies ist der fünfte Teil einer Serie. Teil eins findet sich hier. Teil 2 befindet sich hier. Teil 3 befindet sich hier. Teil 4 befindet sich hier. Ich möchte zwei Bemerkungen voranstellen. Erstens ist dieser Artikel Teil einer Serie, die sich mit Aufstieg und Niedergang der Sozialdemokratie vorrangig in den USA und Deutschland beschäftigt. Dieser Fokus entspringt meinen persönlichen Interessen und meinem persönlichen Interessengebiet. Jegliche Verallgemeinerung bleibt deswegen notwendigerweise mit dem breiten Pinsel gezeichnet. Zweitens wird „Sozialdemokratie“ hier nicht im engen deutschen Sinne verwendet, sondern steht für alle reformistischen Parteien links der Mitte. Darunter fallen etwa die Labour Party, die Parti Socialist oder die Democrats, nicht aber die KPD oder die DSA.

Für die Sozialdemokraten stellte sich die Lage in den 1980er Jahren düster dar. Die Ideen des New Deal waren tot, abgelöst von einer neuen, alten Ideenwelt: individuelle Verantwortung in einer flexiblen, von staatlicher Regulierung so weit wie möglich freien Wirtschaftswelt. Natürlich war dies keine vollständoge Rückkehr in die Gilded Age. Das sozialdemokratische Zeitalter ließ sich nicht so einfach ungeschehen machen, und vielfach wollten die Konservativen das auch gar nicht. Aus deren Perspektive ging es vielmehr um eine Kurskorrektur, um das Zurückschneiden eines außer Kontrolle geratenen Wohlfahrtsstaats. Für viele Sozialdemokraten bedeutete das freilich einen sozialen Raubbau und eine Zerstörung des Erreichten. Wie so oft hatten beide Seiten gute Gründe für ihre jeweilige Sichtweise.

Der Erfolg dieser neuen konservativen Sichtweise basierte auf deren Erschließung von Wählergruppen, die vormalig eher in der sozialdemokratischen Spalte der elektoralen Verrechnungstabelle zu finden gewesen waren: Arbeiter und Angestellte der Mittelschicht. Entscheidend waren in beiden Fällen zwei Faktoren: der kulturelle und der demographische Faktor.

Der kulturelle Faktor beruhte auf der bereits erwähnten geschickten Ausnutzung des Auseinanderdriftens der sozialdemokratischen Koalition. Die progressiven Fortschritte von Frauenrechten zu Minderheitenrechten, von Abtreibungslegalisierung zu Zerrüttungsprinzip bei Ehescheidungen, von Studentenbewegung zu affirmative action verunsicherten - und das ist der demographische Faktor - die Generation der Babyboomer, die nun selbst in die Lebensmitte kam.

Über allem schwebend und diese Entwicklungen verstärkend war das Aufkommen von alternativen Sichtweisen im linken Rand, aus dem sich die grünen Parteien entwickelten. Umweltschutz, Grenzen des Wachstums, generelle Kapitalismuskritik (auch der sozialdemokratisch gebändigten Spielart), radikaler Pazifismus und andere randseitigere Themen dominierten dieses Spektrum, und die sozialdemokratischen Parteien taten sich äußerst schwer damit, mit diesen Gruppen umzugehen. Häufig lag dies auch daran, dass die New Dealer immer noch in kollektiven Gewinnen dachten. Die Botschaft war klassisch links: da ihre Politik den 99% helfen würde, helfe sie automatisch auch allen diesen benachteiligten Gruppen. Verbunden war das oft mit dem Vorwurf an diese in Individualrechten denkenden Gruppen, sie wöllten die Linke spalten. Beides war so falsch nicht, denn selbstverständlich würden von einem allgemeinen Wohlstandszuwachs à la Keynes besonders die unteren Lohngruppen profitieren, in denen sich die benachteiligten Minderheiten ballten, und natürlich nutzten die Konservativen wo sie konnten die von ihnen so gut gesprochene Sprache der Individualrechte, um genau diesen Gegensatz zu verbreiten. Hilfreich war das allerdings oft genug nicht, da die New Dealer so arrogant, abgehoben und von der Lebensrealität dieser Menschen entfernt wirkten.

Gerade in der SPD herrschte dazu die Ansicht vor, dass diese Gruppen so etwas wie ungezogene Kinder waren, Fleisch vom eigenen Fleische, im Endeffekt eine Wiederauflage des SDS oder der Jusos aus den 1960er und 1970er Jahren, eine Art Studentenrevolte 2.0, nur dass sie sich dieses Mal mit Häkelkursen und Menschenketten vollzog. Diese Einschätzung war grundfalsch, aber sie sorgte für einen äußert unbeholfenen Umgang mit der neuen alternativ-bürgerlichen Bewegung, die sich hier etablierte, und für ein verlorenes Jahrzehnt fruchtloser Auseinandersetzungen. Die Konservativen waren wesentlich geschickter. In den USA, Großbritannien und Deutschland waren es konservative Regierungen, die Umweltministerien etablierten und den Umwelt- und Klimaschutz in ihre Programme integrierten. Dadurch holten sie sich die konservativen Klimasensiblen gerade unter der Bauernschaft zurück, die in Gefahr stand, in das grünalternative Milieu abzuwandern.

Hauptgegner der Sozialdemokraten aber blieben die Konservativen, die wesentlich kunstfertiger als die verkursteten und zunehmend veraltet wirkenden Sozialdemokraten in der Lage waren, die beherrschenden Themen der Zeit anzusprechen. Sie positionierten sich in der Neuauflage des Kalten Krieges deutlicher und martialischer gegen den Ostblock, konnten wirksamer mit den Reformern verhandeln, glaubwürdiger die grünen Ideen opponieren und sich als Bewahrer des Erreichten inszenieren. Die Lage für die Sozialdemokraten war verfahren, und ihre Lösungsansätze ebenso verwaschen wir wirkungslos. Die Labour-Party versuchte sich mit einer Rückbesinnung auf klassische sozialdemokratische Werte und Lösungen (mit klassenkämpferischen Tönen) aus der Affäre zu ziehen, was in dem desaströsen Wahlkampf von 1983 mündete ("die längste Selbstmordabschiedsnote der Geschichte"). Die Democrats versuchten eher, die Reagan-Regierung auf außenpolitischer Basis und von rechts zu attackieren, was in den schweren Wahlniederlagen von 1984 und 1988 endete. Und die SPD warf der Kohl-Regierung überwiegend vor, sozial ungerecht zu sein, was so richtig wie ineffektiv war und zu soliden Mehrheiten für die schwarz-gelbe Regierung 1983 und 1987 führte.

Ironischerweise war es gerade die CDU, die das schwächste Glied dieser Kette war. Im Gegensatz zu Thatcher und Reagan, deren Politik tiefgreifende Änderungen in Politik und Gesellschaft bewirkte, blieb Kohls "geistig-moralische Wende" zu einem guten Teil Rhetorik und Symbolpolitik. Um 1989 herum gärte es in der Partei, mitsamt Aufstandsversuchen, und der SPD-Hoffnungsträger Oskar Lafontaine marginalisierte die Grünen im Saarland unter die 5%-Hürde und eroberte die absolute Mehrheit. Trotz dieser Schwäche dauerte die sozialdemokratische Renaissance am Ende in Deutschland am längsten, denn die Wiedervereinigung gab Kohl den Rückenwind, seine Kanzlerschaft noch zweimal zu verlängern, bevor sie dann im viel beschworenen "Reformstau" Ende der 1990er Jahre endgültig stotternd zu ihrem Ende kam.

Es waren jedoch die USA, in denen der Ausweg aus dem Jammertal gefunden wurde. Die conservatives waren, wie immer seit ihrer Formierung als stetig stärker werdender Flügel innerhalb der GOP, unzufrieden mit ihrer Parteiführung. Reagans Verhandlungspolitik mit den Sowjets erschien ihnen als Verrat, die innenpolitischen Kongresse mit den unverändert den Kongress dominierenden Democrats Verrat an den Idealen. Um 1986 war Reagan auf einem Tiefpunkt seiner Beliebtheit angekommen, und selbst 1988 schien es Beobachtern nicht gerade so, als ob hier ein konservativer Held von der Bühne abtrete, sondern ein mittelmäßiger Blender, der zwar viel bombastische Rhetorik, aber wenig Substanz zu bieten gehabt hatte. Dieses Bild würde sich ab den 1990er Jahren auch dank massiver Propaganda diverser gut finanzierter rechter Think-Tanks zu ändern, bis Reagan den heutigen Status eines Heiligen erlangen würde.

Aber 1988 sah es bei weitem nicht nach einer sicheren Sache für seinen Nachfolger aus, und George H. W. Bush, sein Vizepräsident, musste sich als conservative neu erfinden: er ging ostentativ zur Kirche (was er vorher nie getan hatte), präsentierte sich als außenpolitischer Hardliner (der er nicht war) und betrieb unter Leitung Lee Atwaters eine Abteilung für mehr als schmutzige Angriffe, die auch nicht wirklich in seinem Naturell lagen. Zusammen mit der legendären Inkompetenz des demokratischen Wahlkampfteams unter Herausforderung Michael Dukakis, der keine Lösung für die oben beschriebenen Probleme hatte und viele selbst zugefügte Verletzungen erlitt, errang Bush einen deutlichen Wahlsieg.

Schnell aber zeigte sich, dass die Unzufriedenheit der conservatives mit Lippenbekenntnissen nur kurzfristig zu übertünchen war. Bush regierte als ein pragmatischer und verantwortungsvoller Präsident, und als er sich einer Finanzierungslücke im Haushalt gegenübersah, erhöhte er - entgegen seinem "Read my lips, no new taxes"-Versprechen aus dem Wahlkampf - die Steuern. Auch ansonsten betrieb er eine moderat-rechte Politik, ähnlich Kohl in Deutschland. Im Wahlkampf 1992 sah er sich daher nicht nur einer starken innerparteilichen Herausforderung von rechts außen in Gestalt Pat Buchanans ausgesetzt, sondern auch einer konkurrierenden Präsidentschaftskandidatur von Ross Perot.

Ähnlich sah es für Thatcher aus: Die große Schwäche Labours half ihr, die ungeheure Spaltung der Gesellschaft zu überleben, die ihr Reformprogramm mit sich gebracht hatte. Aber innerparteiliche Konkurrenz war auch für sie ein Problem, das sie im Gegensatz zu Kohl und Bush am Ende nicht überlebte. In ihrem Fall waren es eher die moderaten Tories, die ihre zunehmend zum Problem werdende Polarisierung nicht mehr zu tragen bereit waren, so dass Thatcher eingangs der 1990er Jahre die Macht an den blassen John Major verlor, der die Macht in der Downing Street 10 noch bis 1997 gegen die ungeschickt agierende Labour Party verteidigen konnte.

Ich habe bereits angedeutet, dass die Lösung für die Sozialdemokraten sich am rechten Rand der Partei fand. Der erste Kandidat, der das Dilemma der Partei aufbrach - die zunehmende Unpopularität von Politik für die unteren Schichten, von Minderheitenschutz, von Bürgerrechtspolitik - war Bill Clinton. Der junge, charismatische Gouverneur von Arkansas setzte sich im Vorwahlkampf 1991/2 gegen seine innerparteilichen Konkurrenten durch und würde den Präsidentschaftswahlkampf 1992 überraschend klar gewinnen. Seine Strategie wird oftmals auf das berühmte "It's the economy, stupid"-Schild aus seiner Wahlkampfzentrale verwässert, aber das ist nur ein Teil der Wahrheit. Tatsächlich fand Clinton den Ausweg aus dem Dilemma, indem er sich als einen dritten Weg zwischen der unpopulären New-Deal-Sozialdemokratie und der Kulturkampf-Konservativen definierte. Die Strategie, die er dafür erfand, war die berühmte triangulation, die in der Folgezeit von praktisch allen sozialdemokratischen Parteien weltweit imitiert werden würde.

Bedenkt man, wie verhasst diese Strategie in heutigen linken Kreisen ist, und wie elektoral erfolgreich sie war, ist es unbedingt notwendig, sich damit zu befassen. Das Dreieck, auf das triangulation abzielt, ist das folgende. Die Drittwegler, wie ich diese neuen Sozialdemokraten in Abgrenzung zu den New Dealern nennen möchte, sahen den bisherigen politischen Konflikt auf einer Achse von links - Politik für die Armen - und rechts - Politik für die Reichen - und beschlossen, statt fruchtlos auf dieser Achse zu konkurrieren, einen dritten Punkt über dieser Achse zu bilden und sie dadurch aufzubrechen. Dies würde viele Wähler, die für die New Dealer verloren waren, wieder in die Arme der Sozialdemokratie bringen, da man sich einer neuen Sprache und neuer Politiken bedienen konnte, indem man beide Seiten der Achse gleichermaßen ansprach. Es war gewissermaßen der Heilige Gral aller Wahlkämpfer: gleichzeitig die eigene Stammwählerschaft bedienen und im Revier der Gegner wilder.

Die Voraussetzung dafür, dass dieses Manöver gelingen konnte, war relativ simpel. Für die Drittwegler war offensichtlich, warum die Konservativen seit den späten 1960er Jahren so große Erfolge gefeiert hatten. Sie hatten die Annahmen des New Deal, die ihn so erfolgreich gemacht hatten, als Konsens akzeptiert und mit ihren eigenen Ideen kombiniert. Konkret bedeutete das, den Sozialstaat als existierende Einrichtung zu übernehmen und ihn gleichzeitig für diejenigen zu reservieren, die ihn durch individuelle Leistungen "verdient" hatten (auch wenn in der Sicht der extremsten conservatives diese Leistung vor allem darin bestand mit weißer Hautfarbe geboren zu sein).

Die Drittwegler taten nun das gleiche. Die Konzentration auf Individualismus und Rassismus, die die konservative Restauration befeuert hatte, musste irgendwie in die linke DNA übernommen werden, andernfalls waren Mehrheiten nicht zu gewinnen. Gleichzeitig konnte man natürlich die eigene progressive Basis nicht vertreiben. Die Strategie Clintons war brillant. Er wandte sich von der Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums als zentraler linken Politikidee ab und akzeptierte das rechte Narrativ, wonach Reiche sich ihren Reichtum durch individuelle Leistung verdient hatten. Die Zumutung für klassische Sozialdemokraten war daher, ein gewisses Maß an Ungleichheit zu akzeptieren.

Das andere Element war das Spielen auf der Klaviatur der rechten identity politics, indem wohldosiert gegen die Feindbilder der konservativen Wähler gewettert wurde. Stilbildend dafür waren der "Sister Souljah"-moment, als Clinton öffentlichkeitswirksam die Rapperin Sister Souljah kritisierte (und implizit, aber wohl verstanden, die gesamte von den gesetzten Babyboomern abgelehnte Gangster-Rapper-Kultur mit ihrer angeblichen Abhängigkeit von staatlichen Transferleistungen) und die persönlich überwachte Hinrichtung eines schwarzen Straftäters in Arkansas, für den Clinton publikumswirksam den Wahlkampf unterbrach (was natürlich Quatsch ist; die Inszenierung der Hinrichtung war selbst Wahlkampf). Damit verschaffte sich Clinton viel guten Willen bei moderat konservativen Wählern, die bei den letzten Wahlen Reagan und Bush gewählt hatten, aber keine conservatives waren.

Doch Clinton war, genauso wie die anderen Drittwegler, nicht einfach ein rot lackierter Konservativer. Diese post-hoc Typisierung der neuen Linken seit dem Machtverlust des Dritten Wegs ist eine nicht zutreffende Karikatur. Es hätte auch nicht für Mehrheiten gereicht, wie die SPD dieser Tage immer wieder aufs Neue herausfindet. Der Dritte Weg inkorporierte die herausstechende Charakteristik der Epoche - die Individualisierung und das Gefühl von Fortschrittsoptimismus - in dieses Narrativ und baute eine ganz eigene, überaus potente Mischung daraus.

Die konservative Revolution unter Thatcher, Reagan und in deutlich geringerem Maß Kohl hatte Individualismus als ein Charaktermerkmal begriffen. Der vollwertige Staatsbürger erreichte, vom Staat ungestört, mit eigener Hände Arbeit seinen Status und sicherte diesen dann selbstständig ab (Eigenverantwortung; in den USA bekam das "absichern" durch die Waffenkultur noch eine ganze eigene, aggressive Komponente, die dem europäischen Konservatismus komplett abgeht). Doch in den 1980er Jahren zeigte sich mehr und mehr die Schwäche dieses Individualismus, der zunehmend als Egoismus begriffen wurde. Filme wie "Wall Street" (1987) sind dafür stilbildend gewesen. Die offensichtliche Unfairness dieses Systems, die es Aufsteigern sehr schwer machte einzudringen, weil die Söhne der bisherigen Gewinner wesentlich bessere Startchancen hatten, war kaum mehr zu leugnen.

Und genau hier setzte der Dritte Weg an. Anstatt wie früher auf eine Politik der Umverteilung von Oben nach Unten zu setzen und den Sozialstaat als Ausgleichsinstrument zu nutzen, propagierten die Drittwegler einen Sozialstaat, der das Individuum in die Lage versetzte, mit den gleichen Startchancen um einen Platz an der Spitze der neuen Wachstumsgesellschaft zu kämpfen. Die Idee war also "Chancengerechtigkeit" statt "Ergebnisgerechtigkeit". Sie traf den Zeitgeist vollständig. Und in den 1990er Jahren, als neue Technologien wie Computer, Internet und Mobiltelefone zunehmend Verbreitung fanden, der Kapitalmarkt auch für Kleinanleger Rendite abwarf und die Wirtschaft generell rundlief, für jeden also ein Stück des Kuchens zu haben war, stieß die Botschaft auch auf dermaßen offene Ohren, dass Clintons Wiederwahl 1996 als so gesichert galt, dass der RNC aufhörte, in seinen eigenen Kandidaten zu investieren und sich auf die Kongresswahlen konzentrierte. Ähnlich den Sozialdemokraten in den 1980er Jahren hatte Bob Dole auch wenig außer einem "ich will es genauso machen, nur besser" zu bieten, was nie eine Gewinnerbotschaft ist.

Die Drittwegler schafften es zudem, die Konkurrenz von links überwiegend wieder zu integrieren. Der Klima- und Umweltschutz etwa wurden zu einem sozialdemokratischen Kernanliegen, ebenso besserer Verbraucherschutz und in Deutschland ein punktueller Pazifismus. Zudem engagierten sich die Drittwegler, die nun endlich den Individualismus inkorportiert hatten, in einem ebenso individualisierten Minderheitenschutz und Frauenförderung. Die dritte Welle des Feminismus, die sich in den 1990er Jahren entwickelte, passte in ihrer Konzentration auf die Karrieremöglichkeiten von Frauen aus der Mittelschicht perfekt zur neuen Botschaft.

Zudem gelang es dem Dritten Weg, die Ungleichheit in der Gesellschaft neu zu legitimieren. Er bediente sich dazu des liberalen Spielhandbuchs, indem er die Sprache der Meritokratie verwendete. Die Reichen an der Spitze der Gesellschaft waren nicht dort, weil sie die Verhältnisse und die ungerechte Verteilung der Produktionsmittel dorthingebracht hatten und dort hielten, sondern sie waren dort, weil sie schlichtweg die Besten waren. Jeder, der die entsprechenden Fähigkeiten und Talente mitbrachte, so die Botschaft, konnte grundsätzlich die Spitze erreichen.

Doch der Dritte Weg wäre niemals so erfolgreich gewesen wie er war hätte es sich nur um eine gut verpackte Botschaft für alt bekannte Politiken gehandelt. Auch wenn dies angesichts der späteren Konzentration auf Sozialstaatskürzungen besonders unter Schröder in Vergessenheit geraten ist, der Dritte Weg fußte auf einem breiten Fundament staatlicher Intervention. Diese kam nur nicht wie bei den New Dealern in Gestalt großer Behörden. Stattdessen kam sie in Form von Regulierungspolitik und zielgerichteten Opt-In-Programmen. In dieser Form der staatlichen Interventionspolitik war die moderate Linke schon immer besser gewesen als die moderate Rechte, ob beim New Deal oder beim dritten Weg (genauso wie die moderate Rechte immer glaubhafter den Wächter über ausgeglichene Haushalte und Law-and-Order-Falken geben konnte), weswegen die policies, die aus dem Dritten Weg hervorgingen, auch einige große Erfolge mit sich brachten.

Da wären einerseits die konkreten Verbesserungen bei Bürgerrechten. Während dies in Großbritannien und Deutschland eine reine Erfolgsgeschichte ist, sah Clinton in den USA die Notwendigkeit, seine rechte Flanke durch das restriktive (und dankenswerterweise von Obama beendete) "Ask, don't tell"-Gesetz, das sich gegen Homosexuelle im Militär richtete, abzudecken. Insgesamt jedoch wurde von allen Drittweglern viel getan, um die Situation von Gruppen zu verbessern, die den klassischen New Dealern immer durchs Netz gegangen waren: Frauen, Schwarze und Einwanderer, Homosexuelle, Kinder.

So reformierten alle Drittwegler das Familienrecht auf eine Weise, das Frauen größere Autonomie als bisher einräumte und die dominante Stellung des Mannes einschränkte (wenngleich nicht beseitigte). Dies wurde von den Konservativen nicht zu Unrecht als Angriff auf das klassische Familienmodell empfunden. Man denke nur daran, wie oft in rot-grünen Reformdebatten die Idee der Abschaffung des Ehegattensplittings auftaucht! Gleichzeitig gab es eine Reihe von Förderprogrammen für Frauen, von Quotenregelungen im Öffentlichen Dienst ("werden bei gleicher Eignung bevorzugt eingestellt"), die Leuchtturmwirkung für die Privatwirtschaft hatten, entsprechenden Förderprogrammen, einer staatlichen Förderung von "Frauenanliegen" (die Aufnahme von Gender Studies und Queer Theory etwa fällt in die Ära der Drittwegler) und so weiter. Wie in jedem Abschnitt der menschlichen Geschichte ist dies nicht frei von Widersprüchen abgelaufen. Schröder, Blair und Clinton waren alle drei nicht eben die emanzipiertesten Zeitgenossen (man denke an Clintons Affären oder Schröders "Familie, Frauen und Gedöns"). Aber die Drittwegler ermächtigten eine neue Generation von hungrigen Funktionären unterhalb der immer noch vergleichsweise klassisch geprägten Führungsriege, die mit neuen policy-Ansätzen aufwarteten und in den von Drittweglern geleiteten Ministerien die Chance auf Umsetzung erhielten.

Auch in der Politik für Minderheiten geschah unter den Drittweglern sehr viel. Die USA bildeten unter Clinton einmal mehr das Schlusslicht, wo der Präsident, gezwungen durch einen scharfen Rechtsruck innerhalb der Gesellschaft ab 1994, eine restriktive Reform des Sozialstaats durchwinkte, die sich vor allem gegen Schwarze richtete (die berühmt-berüchtigte wellfare reform von 1996, die sich 2016 zusammen mit der übermäßigen Härte gegen schwarze jugendliche Straftäter ("superpredators") als ein Mühlstein um den Hals Hillary Clintons erweisen sollte. Aber selbst in den USA verbesserte sich die Lage für ethnische Minderheiten deutlich.

Der Spitzenreiter aber ist hier Großbritannien, wo New Labour eine Reihe von Fördermaßnahmen vor allem für talentierte Kinder aus Einwandererschichten aufsetzte. Auch in Deutschland wurde viel für die Integration der Einwanderer getan, sowohl in kleinen Programmen als auch - vor allem - in Form einer neuen Mentalität. Diese gilt für alle Drittwegler. Wie auch beim Thema der Frauenrechte brachten die Drittwegler eine neue Generation von Beamten und Funktionären in die Ministerien, die eine ganz andere Sensibilität gegenüber dem Thema hatten und unabhängig von offiziellen Quotenregelungen den Aufstieg von ethnischen Minderheiten förderten. Zudem definierten die Drittwegler ihre jeweiligen Staaten allesamt als multikulturelle Einwanderergesellschaften, was erstmals eine offizielle Anerkennung dieser Gruppen als vollwertige Bürger mit sich brachte (und im Falle von Rot-Grün in der exzessiven Visa-Affäre des grün geleiteten Außenministeriums mündete).

Die gleiche Mechanik gilt selbstverständlich auch für Homosexuelle. Ich bleibe deswegen so stark auf dem Thema des Mentalitätswandels im Räderwerk des Staates verhaftet, weil es von ungeheurer Bedeutung ist und oftmals unterschätzt wird. Wer einen Staat regiert ist wichtig, selbst wenn eine Partei ihre großen policy-Ideen nicht umsetzen kann. Zwarblieb etwa Kohls Kanzlerschaft weit hinter der propagierten "geistig-moralischen Wende" zurück. Für progressive Ideen und die von Progressiven vertretenen Gruppen waren es jedoch sechzehn verlorene Jahre, und in vielen Fällen dürften die konservativen Sensibilitäten Kohls und seiner untergeordneten Minister und Funktionäre für Progressive äußerst nachteilige Effekte gehabt haben, ebenso wie die Drittwegler an vielen Grundfesten konservativer Vorlieben rüttelten, ohne gleich prestigeträchtige Reformprogramme auf diesem Feld umzusetzen. Die Drittwegler sind schließlich nicht gerade für die Einwanderungs- und Familienpolitik bekannt, aber diese dürften zu den wirkmächtigsten Tätigkeitsfeldern gehören - und umgekehrt gilt dasselbe für Kohl und seine Konservativen. Deswegen ist ja auch - und damit soll dieser Exkurs abgeschlossen sein - die Präsidentschaft Trumps trotz dessen policy-Inkompetenz so eine Katastrophe für Progressive, und wäre eine Hillary-Clinton-Präsidentschaft trotz ihrer voraussichtlichen Machtlosigkeit angesichts eines konservativ dominierten Kongresses gut gewesen.

Die letzte Gruppe, die von den Drittweglern profitierte, waren Kinder. Unter den Drittweglern begann notwendigerweise der massive Ausbau von Ganztagskinderbetreuung und der damit einhergehenden Professionalisierung. Unter Drittweglern wurde Kindesmisshandlung unter Strafe gestellt (Rot-Grün etwa verbot 2001 das Schlagen von Kindern unter allen Umständen). Unter Drittweglern wurde das Schulsystem stärker geöffnet. Und so weiter. Dazu kamen im Geiste der Theorie des Dritten Weges - Chancengleichheit statt Ergebnisgleichheit - massive Förderprogramme wenigstens für talentierte Kinder aus benachteiligten Schichten, was vielen Migranten- und Unterschichtenkindern erstmals den Weg in höhere Bildungseinrichtungen öffnete.

Auch auf anderen Feldern leisteten die Drittwegler viel. Das prominenteste Gebiet war wahrscheinlich der Klimaschutz. Nach der bereits erwähnten Integration des Themas durch die Konservativen in den 1970er und 1980er Jahren war auf diesem Gebiet wenig passiert. Unter den Drittweglern erhielten Klimaaktivisten herausgehobene Positionen, ob durch die Beteiligung der Grünen an der Regierung in Deutschland, dem Vizepräsidentschaftsposten in den USA oder in den Ministerien Großbritanniens. Nirgendwo sonst bleibt die progressive Agenda so frustrierend verzettelt und unvollständig wie hier, aber die Drittwegler legten ein Fundament, auf dem jede künftige Energie- und Klimapolitik würde aufbauen müssen. Nicht ohne Grund gelang es den konservativen Nachfolgeregierungen der Drittwegler in keinem Staat - trotz wahrlich umfassender Versuche - die Energiewende, den Atomausstieg etc. wieder zurückzudrehen. Trotz aller Defizite wurden auf diesem Gebiet die wohl nachhaltigsten Erfolge überhaupt erzielt.

Doch all diese Tätigkeitsbereiche liefen nebenher. Das zentrale Projekt der Drittwegler war die Wirtschaft. "It's the economy, stupid." In allen drei Ländern hatte sich am Ende der jeweiligen konservativen Regierungszeit ein Gefühl von Mehltau verbreitet. Wie die New Dealer am Ende ihrer jeweiligen Regierungszeiten waren den Konservativen die Ideen ausgegangen. Die großen Steuerreformen waren entweder vollzogen oder gescheitert. Geistig-moralische Wenden waren vollzogen oder ausgelaufen. Ein Gefühl von Verkrustung herrschte vor, nirgendwo mehr als in Deutschland, wo das Wort vom "Reformstau" in aller Munde war und maßgeblich zum Sieg der Drittwegler beitrug. Sie präsentierten sich als das Neue ("New Labour" nannte die ganze Partei so!), mit ihrer frisch-pragmatischen Konzentration auf das Wirtschaftliche ("Nicht links, nicht rechts, sondern vorn" und was der Plattitüden mehr war).

Eine Konsequenz dieser Ausrichtung war eine generell progressive Ausrichtung gegenüber Neuem. Ob Computer, ob Internet, ob Digitalisierung als genereller Trend, ob Automatisierung und Globalisierung, überall vollbrachten die Drittwegler das Kunststück, Entwicklungen, die den New Dealern nur als tödliche Bedrohung greifbar waren, als Segnungen und genuin sozialdemokratische Herausforderungen zu begreifen. Die hervorgehende Ideologie war sehr kohärent und greifbar: Angesichts einer zunehmend globalisierten und vernetzten Welt mussten alle nationalen Lösungen (wie sie die New Dealer in den 1970er Jahren erfolglos versucht hatten) ins Leere greifen. Die Indifferenz der Konservativen, die diese in den 1980er Jahren zur Schau gestellt hatten, führte jedoch zu einer Spaltung der Gesellschaft in viele Verlierer und wenig Gewinner und einer Vererbung von Reichtum. Daher galt es, die Gesellschaft als Ganzes mit großzügiger Stütze durch den sozialdemokratisch definierten Staat möglichst fit für den Konkurrenzkampf dieser Welt zu machen. Die These des New-Deal-Sozialstaats wurde mit der Antithese von Globalisierung und Deregulierung zur Synthese des Dritten Weges verbunden. Es war ein äußerst wirkmächtiges Narrativ, dem die Konservativen nur hinterherhecheln konnten, indem sie sich zu den effektiveren Reformern stilisierten - mit insgesamt sehr wenig Erfolg, wie wir noch sehen werden. Das verwundert nicht; das Original wird vom Wähler immer der Kopie vorgezogen.

In allen drei Ländern bauten die Sozialdemokraten den Sozialstaat daher weniger ab als um. Kollektive Sozialleistungen wie die Arbeitslosenhilfe wurden gekürzt und starken Beschränkungen unterworfen. Alle Drittwegler liebten die Konditionalisierung der Sozialstaatshilfen. In den USA wurde das Prinzip am weitesten getrieben, wo selbst Drogentests und restriktive Essensmarken zum Programm gehörten, aber auch in Deutschland war die Idee sehr verbreitet. Die Sozialdemokraten deckten so wirkungsvoll ihre rechte Flanke ab und immunisierten sich gegen den Vorwurf, Staatsgelder zu verschenken. Das so entstehende gesellschaftliche Klima stigmatisierte Empfänger von klassischen Sozialleistungen und nahm teilweise geradezu kampagnenartige Züge an.

Diesen Kürzungen stand die Schaffung neuer Programme gegenüber. Diese wurden teils bewusst, teils unbewusst gar nicht als "Sozialstaat" im engeren Sinne gefasst, sondern durch Vermischung mit privaten Mechanismen und verschiedenen Fördertöpfen als Individualleistungen begriffen, auf die man Ansprüche hatte oder erwerben konnte und die meist irgendwelche Voraussetzungen hatten. Diese Politik wurde besonders von den konservativen Nachfolgeregierungen begeistert aufgenommen; so schuf die Bush-Regierung mit Medicare D eine der größten Ausweitungen des amerikanischen, die Merkel-Regierung mit dem Eltern- und später dem Erziehungsgeld des deutschen Sozialstaats, ohne dass dies als genuin sozialstaatliche Maßnahmen begriffen oder verkauft wurde.

Gegen diese Politik regte sich jedoch massiver Widerstand, vor allem in Deutschland. Die Drittwegler führten auch alle das Projekt der konservativen Restauration fort, indem sie die im New-Deal-Zeitalter errungenen (kollektiven) Arbeitnehmerrechte beschnitten. Kündigungsschutz, Arbeitszeitgesetze und vieles mehr wurde "liberalisiert" und "dereguliert", was in den meisten Fällen schlichtweg auf eine ersatzlose Wegnahme von Arbeitnehmerrechten hinauslief. Zwar sahen die Programme der Drittwegler durchaus entsprechende Kompensationen vor - etwa Hartz I bis Hartz III - aber diese fanden häufig genug nicht mehr die entsprechenden Mehrheiten und Finanzierung und wurden dann nicht oder nur unzureichend Realität. Als wesentlich schlimmer erwies sich besonders für New Labour und die SPD, dass diese Politik ihre eigene traditionelle Stammwählerschaft angriff, ohne ein loyales Gegenstück zu schaffen. Viele der grundsätzlich konservativen Wähler, die aus Frustration über die Stagnation unter Bush, Major und Kohl ihr Kreuz bei Clinton, Blair und Schröder gemacht hatten, kehrten schnell in den Schoß der bürgerlichen und konservativen Parteien zurück, als diese sich neu aufstellten und die (für sie) negativen Aspekte der Drittwegler, besonders die gesellschaftlich progressiven Aspekte, sichtbar wurden. Besonders dramatisch war die massive Schwächung der Gewerkschaften im Zuge des Dritten Weges, die für die klassischen Sozialdemokraten ein verlässliches Wählerreservoir gewesen waren.

Das als Folge der neuen Wirtschaftspolitik rapide entstehende Arbeitsprekariat aber besaß im Gegenzug zu den stagnierenden Industriearbeitern praktisch keine gewerkschaftliche Repräsentation. Es gehört zu den größten Fehlleistungender Drittwegler, dass sie es nicht schafften, ihrer Flexibilisierung und Deregulierung eine adäquates Repräsentationsprogramm für diese Schicht zur Verfügung zu stehen. Fairerweise muss man den Gewerkschaften hier ebenfalls eine ordentliche Teilschuld zusprechen, da diese gerade in Deutschland eine solche Politik verhinderten und sich stattdessen in die Chimäre verrannten, aus eigener Kraft dieses Problem lösen zu können (man versprach sich viel von der Gründung von ver.di 2001).

Nirgendwo konzentrierten sich all diese Faktoren so sehr wie in Deutschland. Aufgrund des historischen Zufalls der Wiedervereinigung und des äußerst schwachen Wahlkampfs 1994 war die SPD die letzte sozialdemokratische Partei, die sich dem Dritten Weg verschrieb, und wie zur Kompensation brannte sie mit umso größerer Intensität durch das Programm, als wüsste sie um die kurze Zeitspanne, die ihr beschieden sein würde. Schröder im Jahr 2005 war nach dem Mammutakt der Agenda2010 sichtbar erschöpft, genauso wie seine Partei. Es war für ihn und jeden Beobachter offensichtlich, dass es am linken Flügel gärte (vom Aufschwung der WASG und ihrer Anknüpfung an die PDS gar nicht zu reden). Das ist wenig verwunderlich. Das Reformprogramm, dem Rot-Grün Deutschland unterworfen hatte, war gigantisch gewesen und in kürzester Zeit durchgezogen worden, ganz ähnlich dem fieberhaften Reformieren der ersten Brandt-Legislatur. Der Kater hatte eingesetzt.

Es ist eine spannende kontrafaktische Frage, ob Rot-Grün überleben hätte können, wenn Schröder nicht den Schleudersitz betätigt und 2005 Neuwahlen ausgerufen hätte. Vielleicht hätte der beginnende Wirtschaftsauschwung mit dem "Sommermärchen" 2006 gereicht, um den Drittweglern noch einmal zum Sieg zu verhelfen. Vielleicht - wahrscheinlich - auch nicht. Dass die Drittwegler in Deutschland so schnell die Gestaltungshoheit verloren, lag vor allem an der Schärfe des Programms und dem oben beschriebenen Fehlen mildernder Faktoren. Um 2003, als die Agenda2010 verabschiedet wurde, war das Reformfieber in Deutschland auf dem Höhepunkt. Dass die SPD es zumindest punktuell schaffte, die CDU von Friedrich Merz und dem Leipziger Programm rechts zu überholen (und sie dann im Wahlkampf 2005 weit links zu umfahren) war schon eine Leistung, und eine, die Tony Blair nicht passiert war. Auf der anderen Seite hatte Schröder den richtigen politischen Instinkt, Bushs Irakabenteuer abzulehnen, was wie wohl nichts anderes Merkels (und Stoibers) Aufstieg bremste.

Die Ermüdungserscheinungen jedenfalls teilte New Labour mit der SPD. Unter Gordon Brown hielt sich die Partei noch bis 2010 an der Macht, war jedoch zunehmend von ihren Altlasten, vor allem der Beteiligung am Irakkrieg und der Deregulierung geplagt. Mit der Machtübernahme der Tories unter David Cameron endete der Dritte Weg nach Deutschland auch in Großbritannien. Am längsten hielt er sich in seinem Ursprungsland, den USA. Nicht nur überlebte er, wohl auch wegen der gestohlenen Wahl 2000, die gesamte Präsidentschaft Bush. Das Triple-Desaster des Irakkriegs, des unterirdischen Katastrophemanagments im Hurrikan Katrina und dem desaströsen Versuch 2006, den Sozialstaat zu privatisieren, mobilisierte die Democrats, ohne dass diese die Präsidentschaft Clintons jemals aufbereitet hätten. Sowohl Obama als auch Hillary Clinton konnten sich 2007/8 daher problemlos als seine Erben inszenieren und darauf hoffen, damit politisch zu punkten.

Der Gewinner dieses Duells, Barrack Obama, wurde zum Höhepunkt und Schlussstein des Dritten Wegs. Wie kein anderer verkörperte er die Ideale dieser Ideologie. Er entstammte einer unterdrückten Minderheit, hatte aus eigener Kraft und Brillanz den Aufstieg geschafft und beschied der Mehrheitsgesellschaft, den Rassismus hinter sich gelassen zu haben. Im Amt verfolgte er pragmatische, empirisch unterfütterte Politiken, betonte stets die Eigenverantwortung und sorgte sich zugleich um systemische Ungerechtigkeit. In der Außenpolitik trat er firm, aber ohne die Kriegstreiberei der Neocons auf. Er war, in den Worten des Journalisten Christopher Hayes in dessen mehr als empfehlenswerten Buch zum Thema, "meritocracy's crowning achievement". Er war und ist auch ein überzeugter Jünger des Dritten Wegs. Mit seinem Abgang aus dem Weißen Haus im Januar 2017 fiel die letzte Bastion dieser Ausrichtung. Alle anderen sozialdemokratischen Parteien waren entweder marginalisiert worden (ob in Frankreich, Griechenland, Deutschland oder den Polen) oder begannen sich scharf nach links zu orientieren (wie in Großbritannien und den USA), freilich mit bislang unsicherem elektoralem Erfolg. Eine sozialdemokratische Partei, die weiterhin zum Dritten Weg steht UND Wahlen gewinnt, gibt es dagegen weltweit nicht.

Warum also endete der Dritte Weg in den 2000ern und (in den USA) in den 2010er Jahren? Ein Faktor ist ein Phänomen, das direkt durch die Politiken des Dritten Wegs (und natürlich ihrer Fortführung in den konservativen Nachfolgerregierungen) hervorgerufen wurde, für das der Soziologe Ulrich Beck den Begriff der "Gegenwartsschrumpfung" gefunden hat: Die komplette Unfähigkeit, einigermaßen zuverlässig in die Zukunft zu planen und in einem Stand permanenter Unsicherheit zu leben. Das mag zwar für die Gewinner dieser Entwicklung in schnoddrigem Tonfall als zentrales Element der modernen Wirtschaft gehandelt werden, für das der Einzelne halt gefälligst mannhaft die Verantwortung zu tragen habe.

Die SPD machte aber bald die Erfahrung, dass das keine besonders erfolgreiche Botschaft war. Die allermeisten Menschen hassen Unsicherheit, und die Tatsache, dass einige Gewinner der neuen Weltwirtschaft sich offensichtlich die Sicherheit kaufen konnten, die sie brauchten, und im Gegenzug prominent publizierte Sabbaticals in Ressorts und Klöstern nehmen konnten, war da eher Öl auf den Flammen. Alle Drittwegler hatten das Befürfnis der breiten Masse nach Sicherheit dramatisch unterschätzt, und auch heute noch ist beachtlich, wie vielen Beobachtern dieser einfache Sachverhalt immer noch nicht einleuchtet. Mein Blogkollege Stefan Pietsch etwa predigt auch gerne davon. Die Konservativen haben das viel besser verstanden als die Sozialdemokraten: ein entscheidender Teil des Erfolgs von Angela Merkel war die Sicherheit, die sie vermittelte.

Ein weiterer Faktor im Untergang des Dritten Wegs war die Tatsache, dass die Sozialdemokraten zumindest in Deutschland die zentrale Lektion der konservativen Erfolge in den 1980er Jahren nicht gelernt hatten: Rhetorik ist das eine, aktives Handeln das andere. Bei allem Gerede von Flexibilisierung und Sozialstaatskürzung haben die Konservativen nie einen Zweifel daran gelassen, dass ihre Wähler nicht oder nicht hauptsächlich betroffen sein würden ("white walfare state"); wenn sie diese Lektion vergaßen, wie Bush 2006 und Merkel 2005, bekamen sie sofort die elektorale Rechnung präsentiert.

Der entscheidenste Faktor aber war das offensichtlich gewordene Scheitern der ideologischen Basis: Die Meritokratie entpuppte sich als Scharade, die Chancengleichheit als schlechter Witz. Dabei hatte es eine zeitlang gut für diese Ideen ausgesehen. Aber genauso wie der klassische Neoliberalismus der 1920er Jahre keine Chance hatte, die Weltwirtschaftskrise zu überstehen hatte der Dritte Weg keine Chance, die Finanzkrise zu überstehen. Es zeigte sich erst in den Jahren nach 2007, aber die Finanzkrise zerstörte die gesamte Argumentation hinter dem Dritten Weg. Wenn offensichtliche Versager mit riesigen Abfindungen versehen wurden, während die Angestellten ihre Existenz verloren, wenn Anleger und Banken vom Staat gerettet wurden, aber hypothekenbeladene Hausbesitzer von der Polizei auf die Straße befördert wurden, wenn die Jobchancen nicht von den persönlichen Leistungen abhingen, sondern die Spekulation einer kleinen, reichen und dekadenten Minderheit ganze Lebensentwürfe plötzlich unmöglich machten, dann waren die Opfer, die der Dritte Weg von den Bürgern der globalisierten Welt verlangte - Eigenverantwortung, Unsicherheit, Flexibilität - nicht mehr im Verhältnis zu den Chancen, die sich dafür boten.

Es ist im Übrigen eine der vielen Ironien des Dritten Wegs gerade in Deutschland, dass die Sozialdemokraten die beste Reaktion auf die Krise boten: Anstatt wie die Konservativen 1929-1933 die Depression in eine weltweite Katastrophe ausarten zu lassen, nutzten Peer Steinbrück, Gordon Brown und Barrack Obama alle Mittel, die ihnen zur Verfügung standen und retteten den Kapitalismus für sich selbst. Gedankt wurde es ihnen bis heute nicht. Stattdessen verloren sie zusammen mit ihren Bewegungen ihre Legitimation und bald auch die Macht. Die SPD auf Raten: 2005 die Kanzlerschaft, 2009 die Regierungsbeteiligung (der folgende schwarz-gelbe Flop kann eigentlich nur als Satire verstanden werden). Labour mit einem letzten Aufbäumen: 2007 trat Blair zurück, aber Brown brachte nicht den erhofften Umschwung. Die Democrats mit einem Paukenschlag: nachdem der Dritte Weg seine Laufzeutverlängerung durch Hillary Clinton bis 2020 gesichert zu haben schien, gewann eine Karikatur all dessen, für das er stand - und shredderte die elektorale Legitimation, die den Drittweglern bis dahin den high ground gegenüber der innerparteilichen Kritik von links gesichert hatte.

2017 war der Dritte Weg damit zumindest vorerst gestorben. Die generelle Dynamik politischer Moden macht es aber wenig wahrscheinlich, dass er eine Renaissance erfahren wird. Zu sehr war er ein spezifisches Produkt seiner Zeit, basierte er auf Prämissen, die schlichtweg nicht mehr gegeben sind. Tatsächlich befindet sich die Sozialdemokratie in einer tiefen Krise, möglicherweise der tiefsten in ihrer Geschichte. Zum Abschluss unserer Geschichte wird diese Krise zu analysieren und mögliche Auswege - oder Enden - aufzuzeigen sein.

Freitag, 27. Juli 2018

Schweigende Herero, verlorene Männerinteressen und in eine glorreiche Zukunft blickende Amtskirchen - Vermischtes 27.07.2018

Die Serie "Vermischtes" stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Sie werden mit einem Zitat aus dem Text angeteasert, das ich für meine folgenden Bemerkungen dazu für repräsentativ halte. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten.

1) Alles ist politisch. Auch das Schweigen.
Es gab mal eine Zeit – und die ist gar nicht so lange her – da kam man mit dem Satz: „Ich interessiere mich nicht so für Politik “ noch einigermaßen unbeschadet durch den Tag. Es interessierte sich ein gutes Jahrzehnt lang zwischen 2005 bis 2015 ja noch nicht einmal die Politik besonders für Politik. Merkel regierte mal mit diesem, mal mit jenem Partner emotions- und geräuschlos vor sich hin, Konfliktpotential gab es kaum und für das globale Wohlempfinden sorgte Barack Obama im Weißen Haus. Fußball war Fußball, die multikulturelle Nationalmannschaft eilte vom Sommermärchen zum WM-Titel und die Wirtschaft von der Finanzkrise zu neuen Rekorden. Europa hatte zwar ein großes Problem in Folge der Finanzkrise, aber alles in allem blieb man doch zusammen und griff Spanien, Portugal und Griechenland unter die Arme. Wie jeder Blick zurück romantisiert auch dieser, um den Blick auf die Gegenwart zu dramatisieren. [...] Es hat scheinbar einige gegeben, die darauf gewartet haben, dass man endlich wieder von Kopftuchmädchen, Messerstechern, Asyltouristen oder Sozialschmarotzern sprechen darf – und gleichzeitig für AfD, CDU oder CSU im Parlament sitzen kann. Und diese, die gewartet haben, mühen sich jetzt, das Rad weiter zu drehen. Sie mühen sich nun, dem Hass, der Ausgrenzung und der Sündenbockpolitik den philosophischen Unterbau nachzureichen. Oder sie nutzen die neue Verrohung, um sich schnell selbst aus der Schusslinie zu nehmen und andere in diese zu schubsen. Und zwar gerne die, die sowieso schon anders sind. [...] Es ist das Jahr 2018 und es gibt kein unpolitisches Leben mehr. Es sei denn, wir wollen von der Nachwelt später zu denen gezählt werden, die so lange auf dem Vulkan tanzten, bis er sie verbrannte. Aber vorher hatten wir unseren Spaß und unser bequemes, unpolitisches Leben auf der Tribüne. (Frank Stauss)
Ich bin zwiegespalten. Als politisch denkender Mensch, für den Nachrichten nur kurz hinter dem täglichen Brot kommen, stimme ich dem natürlich zu. Auf der anderen Seite hast du aber immer das Ding, dass zu einer Demokratie gehört, sich nicht für Politik interessieren zu müssen. Es ist furchtbar verzwickt. Die Lage wäre einfacher wenn die Leute, die sich nicht beteiligen und nicht interessieren, sich hinterher auch nicht beklagen würden, aber dem ist natürlich auch nicht so. Und Stauss hat natürlich Recht damit, dass in extremen Zeiten das Schweigen tatsächlich tief politisch wird. Ich würde mir diese Eskalationsstufe noch etwas aufbewahren wollen. Ja, wer schweigt hilft aktuell CSU und AfD, weil die behaupten eine schweigende Mehrheit zu vertreten. Aber wir sind halt (noch) nicht in einer 1932-Parallele. Nicht dass ich glauben würde, es würde sich signifikant etwas bessern, sobald es tatsächlich übler wird, aber im Interesse der intellektuellen Ehrlichkeit sei es erwähnt.

2) Es wird schlimmer, Tag für Tag
Wer in den letzten sechs Monaten dennoch das Gefühl hatte, da habe sich an Frequenz, Gefährlichkeit und Dreistigkeit antisemitischer Übergriffe etwas verändert, von der Verhöhnung von Juden auf offener Straße über die öffentliche Prämierung von Hass-Rappern bis zu verbalen und tätlichen Angriffen auf Träger der Kippa, wird sich durch die soeben vorgestellte Langzeitstudie der Technischen Universität Berlin bestätigt fühlen. [...] Zu den wahrhaft beunruhigenden Funden der Studie gehört, dass sich die Sprach- und Verunglimpfungsmuster der historischen und der zeitgenössischen Judenfeindschaft frappierend ähneln. Antisemitische Klischees wie „Fremde“, „Verschwörer“, „Wucherer“, „Landräuber“ oder „Kinder- und Christusmörder“ sind durch die Jahrhunderte weitergereicht worden und erscheinen unrelativiert und kontextfrei in Netzkommentaren. Man kann dergleichen schreiben, und nichts passiert. Die AfD wurde in diesem Zusammenhang kaum erwähnt; aufschlussreicher ist die Verankerung antisemitischen Denkens in linken, rechten und muslimischen Kreisen allgemein. (FAZ)
Jedes Mal wenn ich in der Schule Antisemitismus thematisieren, vor allem außerhalb des Kontexts des Holocausts, fragen die Schüler - oft mit leicht genervtem Unterton - warum immer die Juden Opfer von Hass und Unterdrückung wurden. In dieser Frage schwingt dann immer unterschwellig die Annahme mit, dass sie irgendetwas an sich haben müssen, irgendetwas getan haben müssen, um diese Verfolgung zu rechtfertigen. Dieser psychologische Mechanismus taucht in der Schule auch bei Mobbing immer auf, da suchen auch alle nach dem, was das Mobbing-Opfer "falsch" gemacht hat, weswegen jede Mobbingprävention auch immer einbläut, dass Mobbingopfer (analog zu Vergewaltigungsopfern oder Opfern rassistischen Hasses oder oder oder) nicht selbst Schuld sind, sondern dass es die Täter sind. Aber diese Idee ist kaum totzukriegen. Ich bin kein Experte für Antisemitismus, aber ein Gutteil der oben im Artikel angespochenen Klischees scheint einen ziemlich universellen Appeal zu haben. Was bei Antisemitismus spezifisch noch problematisch ist ist paradoxerweise sein öffentliches Profil: wer irgendetwas zum Thema googelt findet eine solche Menge an so genannter "Israel-Kritik" oder revisionistischem Mist, dass einem bange wird. Ich vermeide inzwischen so gut ich kann, dass Schüler ohne Anleitung irgendein Thema zum Judentum oder Holocaust recherchieren, weil man da so schnell so unglaublich viel Mist findet (ernsthaft, sucht mal bei Youtube nach "Holocaust" und klickt euch ein bisschen durch...), vor allem bei konkreteren Fragestellungen - da wundere ich micht nicht, warum das so persistent ist. Und dazu wirkt man immer so wunderbar kritisch, wenn man das in Frage stellt.

3) Es geht nicht um Fraueninteressen
Viele denken noch immer, dass feministische Positionen in erster Linie damit zu tun hätten, die Situation von Frauen zu verbessern oder Diskriminierungen abzubauen. Deshalb glauben viele Männer, feministische Debatten gingen sie nichts an oder beträfen sie nicht. In Wirklichkeit geht es aber nicht so sehr um das Verhältnis von Frauen und Männern, sondern um das Verhältnis von Frauen zur Welt. Ausgehend von den eigenen Erfahrungen und im Nachdenken darüber, wie Geschlechterdifferenzen die Welt beeinflussen, haben Frauen viele gesellschaftliche und politische Erkenntnisse gewonnen, die in eher männlich dominierten Kontexten fehlten. Man denke, als ein Beispiel, nur an den ganzen Komplex der „Care-Arbeit“. Diesen Punkt, dass es uns um die Welt geht und nicht bloß um „die Situation der Frauen“, müssen wir immer wieder vermitteln. Die Zeit dafür ist gut, weil es heute ja immer deutlicher wird, dass die traditionellen männlichen Analysen und Ideen, die den Aspekt der Geschlechterdifferenz missachten, in vielen Fällen schlicht nicht mehr funktionieren. Es gibt einen großen und dringenden Bedarf an anderen Ideen und Vorschlägen. (Antje Schrupp)
Dieses Vorurteil ist ja auch unter der Leserschaft hier einigermaßen verbreitet. Feminismus, das sind die Anderen, das ist der Feind, das sind die, die einem was wegnehmen wollen. Nichts könnte ferner von der Wahrheit liegen. Wir Männer profitieren massiv vom Feminismus, wenn wir es nur zulassen. Das Patriarchat und toxische Maskulinität schaden allen, auch Männer, die ja ostentativ die Nutznießer sind. Das muss man sich wieder und wieder klar machen.

4) How I lost my past
Yet it is very difficult to tell these other stories. History is written, we are told, by the victors and stories that do not fit the pattern narrative are rejected. This is especially the case, I have come to believe, in the United States that has created during the Cold War a formidable machinery of open and concealed propaganda. That machinery cannot be easily turned off. It cannot produce narratives that do not agree with the dominant one because no one would believe them or buy such books. There is an almost daily and active rewriting of history to which many people from Eastern Europe participate: some because they do have such memories, some because they force themselves (often successfully) to believe that they do have such memories. Others can remain with their individual memories which, at their passing, will be lost. The victory shall be complete. [...] Thinking of those years in political terms, one moment now, perhaps strangely, stands out for me. It was the Summer of 1975. The Helsinki conference on peace and stability in Europe was just taking place. It was closing a chapter on the World War II. It came just months after the liberation of Saigon. And I recall being on a beach, reading about the Helsinki conference and thinking, linking the two events: there will be no wars in Europe in my lifetime, and imperialism has been defeated. How wrong was I on both accounts. (Global Inequality)
Der hier beschriebene Mechanismus ist auch in der Ostalgie sichtbar: Der Spagat zwischen der Notwendigkeit einer Vergangenheit mit eigenen Höhepunkten und der revisionistischen Verklärung derselben ist ungeheuer schwierig, und meistens schlägt das Pendel sehr stark in eine Richtung. Die Geschichte der DDR etwa wird tatsächlich extrem stark auf ihre negativen Aspekte reduziert. Das wahrlich auch nicht zu Unrecht, aber darüber wurde oft vergessen, wie viele Menschen in diesem System ihr komplettes Leben oder doch einen großen Teil verbracht haben, vor allem ihre formativen Jahre. Das Gegenstück ist dann eine ungeheure Verharmlosung, wo die Mangelwirtschaft zum solidarisierenden Element verklärt und Stasi und Eiserner Vorhang mehr oder weniger mit Vergessen gestraft werden. Noch viel extremer kann man das in Russland beobachten, wo der Stalin-Kult fröhliche Urständ' feiert, als ob es die Entstalinisierung unter Chruschtschow nie gegeben hätte. Das ist auch wahrlich kein Phänomen, das nur den Osten betrifft, auch wenn die wegen der Niederlage im Systemkonflikt ganz besonders damit zu kämpfen haben. Man sehe sich nur die Probleme der USA an, ihre Vergangenheit bezüglich des Umgangs mit der Sklaverei, den Ureinwohnern oder den asiatischen Einwandern aufzuarbeiten, oder die Verherrlichung der kolonialen Vergangenheit in Großbritannien...

5) Are things getting better or worse?
A final reason for doubting progress is the future, in all its terrifying potentiality. One of Pinker’s most persistent critics is the statistician and risk analyst Nassim Nicholas Taleb, the author of “The Black Swan,” “Fooled by Randomness,” and other explorations of uncertainty. For the past few years, in a relentless barrage of tweets and Facebook posts, Taleb has responded to Pinker’s optimism by distinguishing between “thin-tailed” historical trends—picture the trailing ends of a bell curve—which are likely to continue indefinitely, and “fat-tailed” ones, which retain their capacity to surprise. Pinker shows that, during the past century, per-capita deaths from fire have declined by ninety per cent in the United States. In Taleb’s view, this is a thin-tailed trend, since it’s the result of innovations, such as better materials and building codes, that are unlikely to reverse themselves. By contrast, the decline in deaths from terrorism—far more people were killed by terrorists in the nineteen-sixties and seventies—is a fat-tailed trend; as Taleb writes on Facebook, “one biological event can decimate the population.” Pessimists of the Taleb school argue that we underestimate the number of fat-tailed trends. In a review of “Enlightenment Now,” the theoretical computer scientist Scott Aaronson imagines a hypothetical book, published in 1923, about “the astonishing improvements in the condition of Europe’s Jews.” The authors of such a book, Aaronson writes, would have reassured themselves that “an insane number of things would need to go wrong simultaneously” for that progress to be reversed—which, needless to say, is what happened. [...] Problems and progress are inextricable, and the history of improvement is also the history of problem-discovery. Diagnosis, of course, is an art in itself; it’s possible to misunderstand problems, or to overstate them, and, in doing so, to make them worse. But a world in which no one complained—in which we only celebrated how good we have it—would be a world that never improved. The spirit of progress is also the spirit of discontent. (New Yorker)
Äußerst spannender Artikel. Ich bin generell ein großer Fan von Steven Pinker und seinem Optimismus über die aktuelle Entwicklung. Tatsächlich ging es der Welt im Schnitt noch nie so gut wie heute, und die ganzen "Make Great Again" und "Früher War Alles Besser"-Leute liegen komplett falsch. Auf der anderen Seite ist aber dasArgument über die "thin-tailed" vs. "fat-tailed"-Trends ein sehr spannendes. Prognosen sind ja bekanntlich besonders schwer, wenn sie die Zukunft betreffen, und eine größere Katastrophe von Asteroideneinschlag über neuartige Seuche hin zu einer Killer-KI und natürlich der allgegenwärtigen Bedrohung durch den Klimawandel (oder die Zombie-Apokalypse) könnte unsere Gesellschaft sehr schnell komplett aus den Angeln heben. Was wir allerdings als gesichert annehmen können ist, dass eine Million syrischer Flüchtlinge uns nicht in unserer Existenz bedroht, egal wie sehr sich die Rechten in diese Vision hineinsteigern. Diese Unvorhersehbarkeit der richtig heftigen Bedrohungen ist auch ihre eigentliche Gefahr.

6) AfD-Schmierenkomödie um versteckte Wahlkampfhilfe
Meuthen versucht aber, diese direkte Unterstützung durch die Goal AG nicht als Parteispende zu werten. Das ist aus Sicht von LobbyControl sachlich abwegig – und es ist politisch hochbrisant, weil Meuthen und die AfD damit versuchen, die Transparenzregeln für die Parteienfinanzierung auszuhebeln. Falls Meuthen und die AfD Erfolg hätten, könnten Konzerne, Vermögende oder ausländische Regierungen Wahlkampagnen für eine Partei unter Mitwirkung von Politikern dieser Partei organisieren, ohne dass die Öffentlichkeit erfährt, wer dahinter steckt. Partei und Politiker müssten nur behaupten, die Kampagne nicht offiziell beauftragt zu haben. [...] Klar ist: Wenn die AfD für die Wahlwerbung Verantwortung übernehmen muss, drohen ihr Millionen-Strafen wegen illegaler Parteienfinanzierung. Im Fall von Jörg Meuthen geht es um die Frage, ob es sich am Ende um illegale anonyme Parteispenden handelt (mehr dazu siehe in unserem Bericht von Juni 2018). Die Bundestagsverwaltung ist jetzt in der Pflicht, die Untersuchungen voranzutreiben – und sich keinen Sand in die Augen streuen zu lassen. (LobbyControl)
#DrainTheSwamp hieß das bei Donald Trump, und wie immer wenn Kandidaten lauthals verkünden, dass sie allein rein und ehrlich sind und den Sumpf austrocknen wollen, den alle ihre politischen Gegner geschaffen haben, ist das oft viel Getöse, das nur die eigenen und oft genug krasseren Verfehlungen verdeckt. Das Ausmaß an Korruption in der Trump-Regierung ist ja jetzt schon beispiellos, aber die eigenen Anhänger kümmert's nicht, sofern ein paar Latinas die Babys weggenommen werden. Auch bei der AfD dürfen wir uns sicher sein, dass ihre Anhänger großzügig über diese Hexenjagd der Medien und etablierten Parteien, die ja eh alle unter einer Decke stecken um die einzig wahre Vertretung der Deutschen und der schweigenden Mehrheit...ach, ihr wisst, wie es weitergeht. A propos, schweigende Mehrheit:

7) Die stille Mehrheit kann mich mal // Wir schweigen die Extremisten an die Macht
"Hau hier ab, du Scheißkanake!" Ich starrte ungläubig in das wutverzerrte Gesicht des Mannes, der hinter mir an der Kasse stand und plötzlich begonnen hatte zu schreien. Mich anzuschreien. Ein sonniger Montagnachmittag. Der Rewe in Berlin-Mitte war vollgepackt mit Menschen. "Ich bin Deutscher, ich darf hier stehen! Du Scheißausländerin, geh zurück, wo du herkommst, Türkei, Spanien, mir scheißegal!" Ich wollte gerade meine Einkäufe aufs Band legen. Der Mann war jung, vielleicht Mitte dreißig. Seine Freundin stand stumm daneben. Alle anderen Kundinnen und Kunden in der Schlange hinter uns auch. "Du kommst nur her, um unsere Arbeitsplätze zu klauen und Hartz IV zu klauen, du Scheißkanake!" Er schrie weiter. [...] Das war sie wohl, die berühmte "stille Mehrheit", die damals um uns herum im Supermarkt stand und zuschaute, wie eine Frau angegriffen wurde, weil sie offensichtlich nicht aus der Vereinigung zweier blonder, blauäugiger Deutscher abstammte. Vielleicht waren die Menschen, die zuschauten, innerlich empört darüber, was sie sahen. Vielleicht fanden sie falsch, was der Angreifer sagte und tat. Vielleicht hatten sie Angst. So gerechtfertigt ihnen ihre Gründe in jenem Moment scheinen mochten - mir war das alles egal. Das Gefühl, das ich noch fünf Jahre nach diesem Erlebnis habe, ist: Wenn es darauf ankommt, bist du allein. [...] Für mich persönlich bleibt nach meiner Begegnung mit dem Rassisten vor fünf Jahren: Der Mann verließ den Supermarkt im Bewusstsein, alles richtig gemacht zu haben. Mit seinem Handeln lediglich dem Willen der stillen Mehrheit Ausdruck verliehen zu haben. Ich erinnere mich nicht mehr daran, wie der Mann aussah, der mich angriff. Ich werde aber nie das Gesicht der Kassiererin vergessen, die nichts sagte. Ich werde mich für immer daran erinnern, wie die zwei Männer aussahen, die an der Kasse direkt hinter uns standen und stumm blieben. Die stille Mehrheit macht sich mitschuldig an dem, was zurzeit passiert, wenn sie weiterhin still bleibt. Die stille Mehrheit kann mich mal, denkt man sich an solchen Tagen. Wenn sie still ist, bringt es überhaupt nichts, dass sie die Mehrheit ist. (SpiegelOnline) Diese Katastrophe, diese Unfähigkeit oder Unwilligkeit Deutschlands zur echten Integration, hängt unmittelbar mit der deutschen Angst zusammen. Denn jedes öffentliche Schweigen in öffentlichen Debatten und Situationen, wo es darauf ankäme, wird gefüllt von den Immerlauten. Zum Beispiel von der "Bild"-Zeitung, die eine Kampagne gegen Özil fuhr, wie man sie gegen Gauland noch nie gesehen hat. In ihrem Özil-Furor hat diese Zeitung die Vorwürfe zu seiner Erklärung - "Im Internet!" und "Auf Englisch!" - auf den Titel gehoben. Das heißt übersetzt: Özil hat über soziale Medien direkt mit seinen Fans kommuniziert, er hat nicht mit uns gesprochen, er hat der "Bild"-Zeitung Wissensvorsprung und Deutungshoheit über das deutsche Fußballgeschehen genommen. Rache! Hier schließt sich der Schweigekreis, denn die Stille des DFB und der Nationalmannschaft haben sehr viel mit der deutschen Angst vor der "Bild"-Zeitung zu tun. [...] Wenn zu viele Menschen ihren Mund halten, obwohl sie laut sein sollten, können die Immerlauten sich und der Öffentlichkeit einreden, sie repräsentierten die Mehrheit. Und so traurig das ist, es handelt sich um eine selbst erfüllende Prophezeiung. Die schweigende Mehrheit ist in einer liberalen Demokratie keine Mehrheit. Eine stumme Mehrheit kann ohne großen Aufwand Extremisten an die Macht schweigen. (SpiegelOnline)
Beide Artikel von SpiegelOnline beleuchten wichtige Dimensionen der Schweigespirale. Wie ich in meinem Artikel zu der erstmaligen politischen Verwendung des Begriffs durch Richard Nixon beschrieben habe: wer schweigt, stimmt zu. Das Wort von der Zivilcourage ist etwas aus der Mode gekommen, aber der Widerstand der anständigen Bürger gegen diese braune Soße, gegen den Alltagshass, ist umso wichtiger, je mehr er sich in die Mitte der Gesellschaft schleicht. Es ist die Fraktion des "Ja Aber", die hier am aktivsten schweigt. "Ja, schon schlimm der Rassismus, aber irgendwie ist der Ärger der Leute ja verständlich", ihr kennt die Leier. Verständnis hab ich auch, aber stehen lassen kann man den Dreck halt leider nicht. Und das ist extrem unangenehm. Aber auch das gehört dazu, wenn man anständig sein will. Und Anstand ist ja immer ein wichtiges Thema der Bürgerlichen. Deswegen ist es gerade wichtig, dass Konservative sich distanzieren - ich schreibe da gerade immer wieder darüber, ich weiß, aber es sind Signale aus der CDU und der CSU, die im politischen Bereich hier die wichtigsten sind, nicht der Grünen. Die Union ist es, die der Mitte signalisieren kann, was satisfaktionsfähig ist und was nicht. Und hier wurde schon viel zu viel zugelassen. In dem Zusammenhang ist auch das nächste Fundstück sehr erfreuchlich.

8) Wegen AfD: Dominikaner distanzieren sich von Ockenfels // Kirche muss die "Anstößigkeit" des Kreuzes erklären
Die Dominikaner nehmen laut Stellungnahme eine besorgniserregende Entwicklung in den europäischen Gesellschaften wahr. "Nationalistische Tendenzen werden zunehmend über die Idee eines gemeinsamen Europas gestellt – so auch festgehalten im Grundsatzprogramm der AfD", so Kreutzwald. Damit einher gehe eine verrohende und plakativ-vereinfachende Sprache der Abgrenzung und Abschottung. Auffällig sei eine Fokussierung auf die europäische Flüchtlingsthematik, die seit Monaten andere wichtige gesellschaftliche Fragestellungen ins Abseits dränge, heißt es weiter. "Rechtsgerichtete Parteien wie die AfD profitieren davon und suchen mit vereinfachender Polemik, Menschen an sich zu ziehen." Allerdings sei die Sachlage so komplex, dass sie viele Länder und politische Zusammenhänge beträfe. Daher könne sie nicht national, sondern nur gemeinsam angegangen und gelöst werden. "Dabei kann nicht oft genug deutlich gemacht werden, dass es nicht um eine 'Sache' geht, sondern um Menschen", schreibt Kreutzwald. Die Aufgabe des Ordens sehe man zudem ausdrücklich in der Verkündigung der guten Botschaft Jesu "zum Heil aller Menschen". (Katholisch.de) Gegenwärtig werde das Kreuz entweder "in Talkshows verharmlosend als Zeichen der Zugehörigkeit zu einer Konfession diskutiert, so Mertes. "Oder es wird kulturkämpferisch instrumentalisiert, am sinnenfälligsten wenn es schwarz-rot-gold angestrichen wird, um das Abendland gegen die 'Islamisierung' zu verteidigen." Aber in keinem der beiden Fälle werde die Kreuzigung Jesu als der "Skandal" begriffen, für den ein christlicher Missionar wie Paulus noch ein Gespür gehabt habe. Sogar klar ablehnende Äußerungen gegenüber dem Kreuz könnten für die öffentliche Diskussion "hilfreich" sein, betont der Jesuit. "Sie fordern gerade Christen im guten Sinne des Wortes heraus, das Kreuz ernst zu nehmen - oder wenigstens zu überprüfen, ob das Gespür für den Skandal des Kreuzes bei ihnen wirklich noch da ist." Dieses Gespür sei ein "Schlüssel für gelingende missionarische Kommunikation in der Welt". (Katholisch.de)
Ich bin ja wahrlich nicht der größte Fan der Amtskirchen, aber sowohl die katholische als auch die evangelische Kirche fallen in den letzten Monaten äußerst positiv auf, was ihre entschiedene Abgrenzung nach rechts angeht. Die Amtskirchen leisten gerade genau das, was sie immer für sich beansprucht haben: Dass sie das Gewissen der christlichen Mehrheitsgesellschaft verkörpern. Offensichtlich wird diese klare Haltung, in der sie sich bewusst gegen die billige und populistische Kooptierung der AfD und CSU wehren, auch belohnt. Zum ersten Mal seit langem hat sich 2018 der Trend umgedreht und die Zahl der Kircheneintritte übertrifft den der Austritte. Diese Entwicklung kann übrigens auch in anderen kirchlichen beziehungsweise mit den Amtskirchen affiliierten Einrichtungen beobachtet werden, die sich in der Flüchtlingsarbeit engagieren. Dieser Trend unterscheidet sich in Deutschland auch augenfällig von den USA, wo gerade die Evangelikalen (von denen es in Deutschland dankenswerterweise nur wenige gibt) zu den größten Treibern der Radikalisierung gehören und dabei mehr und mehr zu einer Karikatur ihrer selbst werden. Bei aller berechtigten Kritik an der Verflechtung und Verfilzung der Amtskirchen mit dem deutschen Staat, wenn die Amtskirchen sich in der Krise dann wenigstens bewähren statt einfach umzufallen ist das sehr erfreulich.

9) The Future is going to be great!
So prepare yourself for a few things:
  • We will discover the genetic wellsprings of things like memory, artistic talent, mathematical ability, extroversion, laziness, aggression, ability to swot up foreign languages, and a hundred other things. And that’s not even counting fast-twitch muscles, balance, speed, stamina, and other traits that make great athletes.
  • Thanks to CRISPR (or perhaps CRISPR+) we’ll be able to fine-tune these abilities in babies. Maybe in adults too. The era in which we argued about the ethical implications of this stuff will be over. We’ll just do it and see the results.
  • How much does parental upbringing affect any of this? I’m going to put my money on “not much,” but it’s hardly worth making guesses anymore. In a decade or two we’ll know.
  • How much effect does the entire environment outside the womb have starting with the day a baby is delivered? I’m going to put my money on “some,” but that’s as far as I’ll go.
  • The effects on social justice will be profound. Once it becomes irrefutable that certain people just flatly have more talent than others, and furthermore, that they can probably buy even greater talents, the philosophical justification for paying the talented more than the untalented disappears. In what way do the talented deserve any more money if we can literally draw a map showing where their talents are located on their genomes and where their ambition, focus, and zeal for hard work comes from? (Mother Jones)
Ähm...nicht die Überschrift, die ich gewählt hätte. Wenn das tatsächlich eintrifft und wir im Endeffekt "Gattaca" Realität werden lassen, dann bin ich mir ganz und gar nicht sicher wie klasse das ist. Wenn es möglich wird, durch Gentherapie "Talent" (was auch immer der Begriff dann noch wert ist) in Babys einzuspeisen, dann wird das garantiert eine Menge Geld kosten, die nicht jedermann zur Verfügung steht - und warum Unternehmen nicht NOCH MEHR als vorher dieses "Talent", das sich nun betriebswirtschaftlich zweifelsfrei quantifizieren lässt, als Grundlage für Bezahlung hernehmen und damit die Reproduktion einer Elite garantieren sollten, ist mir völlig unklar.

10) So raffiniert wie zwielichtig
Zur erfolgreichen deutschen Geschichte gehört aus AfD-Sicht auch die Kolonialzeit. Das hat Höcke in seinem neuen Buch "Nie zweimal in denselben Fluss" klargestellt. Man dürfe "Kolonisation" (gemeint ist der Kolonialismus), "nicht ausschließlich negativ betrachten", schreibt er und schwärmt vom "Wohlstandsaufbau, der in der Zeit von 1850 bis 1918 aus dem Geist und der praktischen Tüchtigkeit der Deutschen" in den Kolonien erwuchs. Kein Wunder also, dass sich die AfD auch in die Debatte um die aus der Kolonialzeit stammenden Objekte im künftigen Humboldt-Forum einschalten würde. Im März schrieb Marc Jongen: "Die Parteigänger des 'Postkolonialismus' versuchen den Eindruck zu erwecken, die ethnologischen Sammlungen ... seien samt und sonders gestohlen und müssten restituiert werden. ... Am Pranger stehen der angebliche westliche 'Rassismus' und der 'Kolonialismus' als Quellen alles Bösen." [...] Das AfD-Papier funktioniert nicht zuletzt deshalb so gut, weil es die Entwicklung der Debatte Schritt für Schritt nachvollzieht. Statt sich wirklich mit den Theorien der Postkolonialisten zu beschäftigen, statt über Machtverhältnisse im Museum oder die Konstruktion des Fremden nachzudenken, setzen die meisten Tonangeber der deutschen Kulturpolitik darauf, das Thema auf die Verfahrensebene hinunterzukochen, an Kommissionen zu delegieren und im Kleinklein minutiöser Untersuchungen versickern zu lassen. So fällt es der AfD leicht, erst Widersprüche zwischen Absichten und Umsetzung zu entlarven und dann mit der mangelhaften Umsetzung die Absichten zu diskreditieren. Und auch die Tatsache, dass es in der AfD-Anfrage nur um Deutschland geht und kaum um Afrika, ist kein Zufall. Es gab die eine oder andere Politikerrede, es gibt ein paar Sätze im Koalitionsvertrag. Doch keine Angela Merkel, keine Monika Grütters, keine Michelle Müntefering hat laut gesagt, worum es bei der Frage nach den geraubten Objekten in den Museen wirklich geht: weder um Wiedergutmachung noch um akademische Theorien oder bloße Eigentumsfragen, sondern darum, das Verhältnis zu Afrika auf eine grundlegend neue Basis zu stellen. (SZ)
Es verwundert nicht, dass die AfD neben der Zeit des Nationalsozialismus auch gerne die deutsche Kolonialgeschichte in ein positiveres Licht gerückt sehen möchte. Die Argumentation von den großen zivilisatorischen Segnungen der Kolonialzeit ist aus deutschem Mund genauso großer Unsinn wie von britischen oder französischen Kolonial-Apologeten. Auch der im Artikel angesprochene Strategiewechsel der AfD ist sehr interessant, ich empfehle ihn ganz zu lesen. Ich möchte an dieser Stelle aber etwas mehr auf den Wechsel im Verhältnis zu Afrika eingehen. In den Schlagzeilen war das hauptsächlich auf Basis der Frage, ob Deutschland Reparationen für den Völkermord an den Herero zahlt. Ich halte das wegen der juristischen und finanziellen Folgen im Hinblick auf andere solche Forderungen für unwahrscheinlich. Es wäre allerdings absolut begrüßenswert, wenn Deutschland - wie sich das aktuell abzeichnet - die Verantwortung für diese Taten übernimmt und Restitution über die Rückgabe von Raubgut und kulturelle und wirtschaftliche Zusammenarbeit leistet. Eventuell könnte hier auch ein Modellfall entstehen, wie man mit der kolonialen Vergangenheit umgeht, der gerade auch für Großbritannien lehrreich sein könnte.

11) Natürlich blond
Denn klar, die Ostdeutschen „kehren zurück“. Sie tun dies aber, weil in den neuen Ländern inzwischen gute wirtschaftliche Bedingungen herrschen. Die aber sind eine Folge der unvorstellbaren Summen, mit denen unsere Brüder und Schwestern in den Westzonen nach 1990 – erfolgreich – die rauchenden Trümmer der jahrzehntelangen DDR-Misswirtschaft abgelöscht haben. Die AfD war da noch Quark im Schaufenster. Und auch wenn heute im Landkreis Eichsfeld die Arbeitslosenquote unter vier Prozent liegt, so zieht es doch nur wenige „Rückkehrer“ oder Zuzügler in Orte wie Heilbad Heiligenstadt und weit mehr in die ostdeutschen Schmelztiegel wie Leipzig. Dessen Stellung als kulturell herausragende und wirtschaftlich aufstrebende Stadt verdankt sich denn auch weniger ethnischer Homogenität oder einer besonders facebookkachelkompatiblen Altstadt. Nein, dass Leipzig heute überhaupt wieder auf den Radarschirmen auftaucht, ist Folge einer Eigenschaft, die das genaue Gegenteil der von der AfD so brachial appropriierten DDR-Identität darstellt und die Leipzig genau wie andere Städte im Osten sich überaus mühsam zurückerkämpfen musste: Internationalität. Das kosmopolitische Flair, das Städte wie Leipzig, Jena, Potsdam, Erfurt und, ja, auch Dresden heute mindestens abschnittsweise durchweht, ist die auf kommunale Ebene heruntergebrochene Variation der gesellschaftlichen Öffnung, in die die gesamte ehemalige DDR mit dem Ende ihres gemischten Geschäftsmodells aus wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Unterdrückung hineingezwungen wurde – sehr wohl zu ihrem eigenen Besten. Der Erfolg wenigstens der großen Städte ist nicht darin begründet, dass sie ethnisch blütenweiß geblieben wären, sondern an den konstruktiven Reibungen, die ein gesteigertes Maß an Vielfalt bekanntermaßen mit sich bringt. [...] Denn was bewirken solche, eine wirr zusammenimaginierte „Ostidentität“ abfeiernde Posts anderes, als dass Deutsche sich auch heute, im Jahr 28 nach der Wiedervereinigung, noch immer zuvörderst als „Ossis“ oder „Wessis“ verstehen und damit alles hintertreiben, wofür die „Ossis“ damals unter Gefahren auf die Straße gegangen sind? Ist das der „Mut zu Deutschland“, von dem die Gaulands dieser Welt uns immer vorschwärmen? Die AfD ist, das haben schon mehrere Kommentatoren zurecht festgestellt, eine Schande für Deutschland. Sie ist dies aufgrund der geistigen Beschränktheit ihres Programms, aufgrund der Lust, mit der sie alsbald nach der Gründung den politisch-moralischen Grundkonsens der Bundesrepublik über Bord geworfen hat, sie ist es aufgrund ihrer Xenophobie, und sie ist es eben nicht zuletzt auch, weil sie – das verbindet sie mit der Linkspartei – die Emanzipation der Deutschen vom Trauma der jahrzehntelangen Teilung behindert. (Salonkolumnisten)
Genauso wie der Ausländerhass immer dort am Größten ist, wo (fast) keine Ausländer sind, so ist der Zorn auf den Westen nirgendwo so groß wie dort, wo die ganze Region eigentlich nur wegen großzügiger Wirtschaftshilfen von eben dort überlebt. Das gleiche Phänomen kann man ja auch in anderen Ländern bewundern. Gerade die Bundesstaaten, die die größten Wirtschaftshilfen von Washington erhalten, hassen den Bund am meisten. Die Regionen Englands, die am meisten von der EU-Strukturförderung profitierten, lärmten für den Brexit. Das Mezzogiorno beklagte sich jahrzehntelang über die böse Politik in Rom, die die Region am Tropf hatte. Und so weiter. Der Artikel nennt auch die richtige Gegenmaßnahme dafür: Kosmopolität, ein Aussetzen der Leute für fremde Kulturen, Offenheit. Wo das gegeben ist, beginnen Vorurteile zu schmelzen. Es ist kein Zufall, dass gerade die Regionen Deutschlands, in denen die meisten Flüchtlinge tatsächlich leben, diejenigen sind, die am wenigsten AfD-Wähler aufweisen - und umgekehrt. Auch der Anklang im Artikel auf die großen offenen Städte als Fortschrittsmacher gegenüber dem geschlossenen, unter sich bleibenden Land ist absolut richtig.

Mittwoch, 25. Juli 2018

Glanz und Elend der Sozialdemokratie, Teil 4: Backlash

Dies ist der vierte Teil einer Serie. Teil eins findet sich hier. Teil 2 befindet sich hier. Teil 3 befindet sich hier. Ich möchte zwei Bemerkungen voranstellen. Erstens ist dieser Artikel Teil einer Serie, die sich mit Aufstieg und Niedergang der Sozialdemokratie vorrangig in den USA und Deutschland beschäftigt. Dieser Fokus entspringt meinen persönlichen Interessen und meinem persönlichen Interessengebiet. Jegliche Verallgemeinerung bleibt deswegen notwendigerweise mit dem breiten Pinsel gezeichnet. Zweitens wird „Sozialdemokratie“ hier nicht im engen deutschen Sinne verwendet, sondern steht für alle reformistischen Parteien links der Mitte. Darunter fallen etwa die Labour Party, die Parti Socialist oder die Democrats, nicht aber die KPD oder die DSA.

Während der Wirkungszeit des New Deal hatte sich das Einkommen der Unterschicht, zu der die Arbeiter früher gehört hatten, mehr als verdreifacht. Die Einkommen der Angestellten der Mittelschicht waren ebenfalls zwischen 50% und 100% gestiegen. Aber der New Deal fußte auf der Funktionsweise des Kollektivs. Die weiße, männliche Arbeiter- und Angestelltenschicht war ihr zentraler Träger, ihr Profiteur. Die Regeln des New Deal waren für sie gemacht worden. Der Wagner-Act mit seiner Stärkung der Gewerkschaften stärkte eine kollektive Institution, die Rechte zugesprochen bekam, die sie vorher nicht besessen hatte. Der Housing Act gab einer bestimmten Klasse Zugang zu billigen Wohnungen oder Krediten, um Wohneigentum zu erwerben. Die GI Bill betraf (weiße, männliche) Kriegsveteranen.

Gerade die GI Bill und die andere Schlusslichtgesetzgebung, die nach 1945 bis zum Machtverlust der Democrats 1952 den New Deal (unter dem Label "Fair Deal") abschlossen, waren dabei geradezu schizophren in ihrem Aufbau. Auf der einen Seite entfremdeten sie endgültig die Südstaatler von der New-Deal-Koalition, indem sie zaghafte erste Schritte zu einer Bürgerrechtsgesetzgebung enthielten (die scheiterte und in die 1960er Jahre vertagt wurde), was unzweifelhaft progressiv gedacht war.

Auf der anderen Seite vertrieb sie aktiv und bewusst Frauen und Minderheiten aus den Arbeitsplätzen, die sie während des Krieges gewonnen hatten, als die weißen, männlichen Arbeiter und Angestellten, die diese vorher für sich beansprucht hatten, zur Armee gingen (im Zweiten Weltkrieg war die US-Armee immer noch segregiert und hielt Schwarze in eigenen Einheiten, schlechter bezahlt und üblicherweise in Versorgungskapazität fern von der Front, weil man davon ausging, dass Schwarze keine guten Soldaten wären). Im Rahmen der Integration der Veteranen wurden ihnen diese Jobs wieder - und exklusiv - gegeben. Die Frauen erhielten als Trostpreis die konservative Rolle der Hausfrau, die nicht arbeiten musste, weil ihr Mann das tat. Die Minderheiten erhielten - nichts.

Mit dem knappen (und möglicherweise betrogenen) Wahlsieg John F. Kennedys 1960 begann eine neue Phase im New Deal: der Backlash. Wo Eisenhower und sein Vizepräsident Richard Nixon, der gegen Kennedy unterlegen war, den New Deal als Fakt akzeptiert hatten, das sich nicht aus der Gesellschaft wegdenken ließ, gärte es im rechten Rand der konservativen Partei. Abgeordnete wie Barry Goldwater und Publizisten wie William F. Buckley, der Gründer des rechtsradikalen National Review, boten eine Alternative. Ihre Sprache hat man seit mehreren Jahrzehnten nicht mehr gehört, und in gewissen Kreisen innerhalb der konservativen Bewegung - rechts außen - wurde sie sehr beliebt. Es war die Sprache der Gilded Age, dem Zeitalter des Turbokapitalismus, und es war die Sprache des Individualismus, der in scharfem Kontrast zu der kollektiven Sprache des "Wir" der New Dealer stand.

Für die New Dealer war das ein doppeltes Problem. Nicht nur bedienten die conservatives, wie sich diese neue Rechte in Abgrenzung von den Republicans nannte, in deren Partei sie operierte, eine Mentalität, die im Gegensatz zu den New Dealern und Europa tief in der kollektiven Psyche verankert war, sondern das "Wir", in dem die New Dealer zu sprechen pflegten, schloss eine ganze Menge Menschen aus. Diese Menschen sprachen ebenfalls von "ich", in einer Sprache von individuellen, nicht kollektiven Rechten. Für die progressive Bewegung wurde dies mehr und mehr zum Problem.

Praktisch gleichzeitig bedienten sich zwei aufkommende, im Kern progressive Bewegungen der Sprache von Individualrechten: die Emanzipationsbewegung, die eine Gleichstellung der Frauen und eine Überwindung des alten patriarchalischen Gesellschaftsaufbaus forderten, und die Bürgerrechtsbewegung, die gleiche Rechte für Schwarze forderte. Beide Bewegungen sprachen von "Rechten" in einem individuell einklagbaren Sinne, was man auch in ihren jeweiligen Protestformen sieht: Anders als gewerkschaftlich organisierte Streiks und Massenaufmärsche von Belegschaften und Arbeitern als Klasse machten sie durch Einfordern spezifischer Rechte für sich selbst auf ihre Lage aufmerksam, ob sie sich in verbotene Busabteile oder Diner setzten, auf Titelseiten erklärten abgetrieben zu haben oder Märsche antraten, die ihnen vorher explizit verboten worden waren.

In dieser Zeit vollzog sich das voter realignment, die Neuordnung der amerikanischen Parteienlandschaft. Die letzten Progressiven verließen die republikanische Partei (symbolisiert mit der Niederlage Rockefellers in den primaries 1968), während die weißen Konservativen die Partei der Democrats verließen (symbolisiert durch Nixons "southern strategy" 1968). Diesen Prozess habe ich hier näher beschrieben und werde ihn daher nicht wiederholen. Die Progressiven erkannten, dass sie ihre Mehrheit nur würden halten können, wenn sie die beiden Individualrechtsbewegungen kooptierten. Wie auch in Europa begannen Einwanderer, andere ethnische Minderheiten und vor allem Frauen nun anstatt konservativen die progressiven Parteien zu wählen - vorher war es umgekehrt gewesen. Auf der anderen Seite begann die weiße, männliche Arbeiter- und Angestelltenschaft ihren eigenen Weg in die umgekehrte Richtung, von links nach rechts.

So wie die Republicans unter Wilkie, Dewey, Eisenhower und Nixon den New Deal und die Sprache, in der er abgefasst war, akzeptiert hatten (auf konservativer Seite häufig in patriotischen Tönen als "wir Amerikaner", auf der progressiven Seite klassenkämpferischer), sprachen nun beide Seiten die Sprache des Individualismus. Dies war der Tod des amerikanischen Kollektivismus, und mit ihm war es der Tod des Rahmens des New Deal, der in dieser Sprache abgefasst war.

Selbstverständlich stellt sich das nur aus der Rückschau und in der Vereinfachung als ein so klarer Prozess dar. Das voter realignment wie auch die beschriebene Entwicklung vollzogen sich mit Kurven und Kanten über mehrere Jahrzehnte, nicht in einem einzigen plötzlichen Ruck. Entwicklungen so mit dem breiten Pinsel zu zeichnen gehört aber auch zu den Aufgaben des Historikers, da sie ansonsten kaum deutlich zu machen sind und sich in der Masse der Details verlieren. Man möge mir dies an dieser Stelle daher nachsehen.

Der Hauptteil dieser Entwicklungen aber vollzog sich in den 1960er Jahren. Die Bürgerrechtsgesetzgebung von 1963-1965 durch Lyndon B. Johnson hatte denselben Effekt, den Black Lives Matter von 2014 bis 2016 hatte: Sie radikalisierte die weiße Arbeiter- und Angestelltenschicht und entfremdete sie von der Koalition, deren Teil sie bisher gewesen war. Als die Rechte der Schwarzen und Frauen kein salientes Thema gewesen waren, hatte diese unnatürliche Koalition, der der New Deal seine Existenz verdankte - die Schwarzen und Progressiven auf der einen, die konservativen "Dixiecrats" auf der anderen Seite - bestanden, hatte sich jede Seite die andere wegdenken können.

Doch wie zuvor bereits herausgearbeitet wurde war die Erbsünde des New Deal die Exklusion der Schwarzen und Frauen gewesen. In den 1930er Jahren hatten sie das akzeptiert. Die Kriegsjahre hatten ihnen Alternativen gezeigt und die Hoffnung gegeben, dass es bald aufwärts gehen könnte. Doch die Restaurationsphase der späten 1940er und der 1950er Jahre, in der die weiße Arbeiter- und Angestelltenschicht ihre bahnbrechenden Wohlstandsgewinne erlangte, warf sie auf den Stand der 1930er Jahre zurück, und gerade in den Südstaaten sorgten Lynchjustiz und Jim Crow dafür, dass den Schwarzen über alle Maßen deutlich gemacht wurde, dass dies ein Feature des Systems war und kein Bug. Es ist daher kaum verwunderlich, dass die 1950er Jahre eine Phase des langsam schwelenden Unmuts über dieses System waren, in dem erste Alternativen formuliert wurden - und in der eine Fallschirmjägerdivision begann, die De-Segregierung im Süden durchzusetzen, weil die Nationalgarde damit drohte, sich an Lynchmobs zu beteiligen. (Es ist, dies sei als Seitenbemerkung gestattet, auch kein Wunder dass gerade in dieser Zeit zum ersten Mal eine rebellische Jugendbewegung entstand, und genausowenig, dass die 1960er und 1970er Jahre die radikalsten solchen Jugendbewegungen erlebten.)

Doch die Politiker, die als gewählte Sheriffs, Richter und Gouverneure mit staatlichem Gewalteinsatz gegen jeden Schwarzen drohten, der es wagte, gleiche Rechte einzufordern, die ihm laut Gesetz zustanden, waren Democrats - genau wie jene Politiker aus dem Norden, die immer noch versuchten, den New Deal zu stärken und durch neue Reformen relevant zu halten. Eine solche Koalition konnte unmöglich bestehen bleiben, und ab 1965 - der Verabschiedung sowohl des Civil Rights Act als auch der Gesetzgebung zum War On Poverty - wurden die Fliehkräfte zunehmend spürbar und von Nixon in seinem erfolgreichen Präsidentschaftswahlkampf 1968 auch meisterhaft ausgenutzt.

Es ist nicht so, dass es zwischen 1952 und 1968 keine Versuche gegeben hätte, den New Deal wiederzubeleben und auszuweiten. Am bekanntesten ist wohl Lyndon B. Johnsons "War On Poverty". Die Zielsetzung war, die Armut, die (damals wie heute) in den USA ein für eine so reiche Gesellschaft schamvoll hohes Niveau hatte, deutlich zu reduzieren. Es war das erste Mal, dass ein Staat aktiv mithilfe der Sozialwissenschaften versuchte, ein systemisches Problem zu lösen. Traditionell hatte sich staatliche Armutsbekämpfung auf Almosen und Arbeitsverpflichtungen (häufig in gefängnisartigen Zuständen) erschöpft.

Der War on Poverty war grandios in jeglicher Hinsicht. Grandios in seiner Ambition: eine gewaltige Reduzierung nicht nur der Armutsrate, sondern auch Beseitigung ihrer strukturellen Ursachen. Grandios in seinem Umfang: geplant waren enorme Summen (die der Kongress freilich nicht bereitstellte). Grandios in seinem Hybris: Die Planer des New Deal waren der Überzeugung, alles verstanden und durchdrungen zu haben und alle Probleme lösen zu können. Grandios in seinem Scheitern: das Budget gnadenlos gekürzt, die Programme disfunktional, das ganze Reformwerk unpopulär.

Der War on Poverty zeigte deutlich die Grenzen des New Deal in allen drei Politikbereichen auf.

In den politics erwies es sich als ungeheur unpopulär, einer Minderheit mit Pariah-Status helfen zu wollen. So nobel die Ziele Johnsons waren, Arme wählten nicht, und mit dem Geld der Steuerzahler ihr Leid zu lindern war keine politisch tragfähige Idee. Dieses Problem verfolgt die Democrats bis heute, wenn sie versuchen, diskriminierten Minderheiten mehr Rechte und Teilhabe zu ermöglichen. Diese mangelnde politische Unterstützung bedingte den Misserfolg in den anderen beiden Dimensionen mit, da keine Mehrheiten im Kongress zu organisieren waren.

In der policy zeigte sich, dass die Sozialwissenschaften noch bei weitem nicht so erfolgreich in der Durchdringung gesellschaftlicher Probleme waren, wie es sich die Pioniere der Soziologie (Empirie war damals der neueste und ungeheur populäre Trend und passte hervorragend zum technokratischen Machbarkeitsglauben der New Dealer) vorgestellt hatten. Die Maßnahmen basierten daher oft auf falschen Annahmen und arbeitete mit unpraktikablen Lösungsansätzen.

In der polity zeigte sich, dass die bestehenden Institutionen an ihre Grenzen stießen. Sie waren für das massenhafte Abfertigen standardisierter Problemfälle ausgelegt: Integration aller Veteranen (GI Bill), Hilfestellung bei Arbeitskämpfen (Wagner Act), und so weiter.

Ich möchte an dieser Stelle einen kurzen Exkurs zur Lage in Deutschland einschieben. Ich habe bereits früher erwähnt, dass die Entwicklungen aus den USA hier zeitverzögert ankamen, und das ist für diese Geschichte besonders wichtig. Im Gegensatz zu Labour in Großbritannien und den Democrats in den USA kam die SPD erst an die Macht, als der Höhepunkt in der angelsächsischen Welt längst überschritten war: 1969. Unter den sozialliberalen Regierungen bis 1982 erlebte das Goldene Zeitalter der Sozialdemokratie in Deutschland eine Art Geistersommer.

Ein Gutteil des Fundaments einer sozialdemokratischen Ordnung war, mit starkem konservativen Einschlag gerade in der Konstruktion des Sozialstaats (statts eines Wohlfahrtsstaats, wie ihn die Sozialdemokraten Skandinaviens errichteten, an denen die SPD sich eher orientierte), bereits von Adenauer, Erhardt, Kiesinger, Strauß und Schiller gelegt worden. Diese Merkwürdigkeit war das erste deutsche Alleinstellungsmerkmal.

Als die SPD unter Willy Brandt an die Macht kam, stürzte sie sich in ein gigantisches, ambitioniertes Reformprogramm (unter den Stichworten "Lebensqualität" und "Mehr Demokratie wagen"), das heute gegenüber der Ostpolitik leider etwas im Schatten steht. Dieses Reformprogramm sprach noch ein letztes Mal mit aller Macht die Sprache der Kollektivrechte: Senkung des Wahlalters, Erhöhung der Rentenbezüge, Einführung des Kindergelds und, zentrale Reformmaßnahme der gesamten Epoche, das Betriebsverfassungsgesetz. Es war ein Programm der Ansprüche und Regeln für Gruppen: Eltern, Rentner, Beschäftigte im Betrieb. Ihr Lebensstandard stieg deutlich, ebenso ihre Verhandlungsmacht.

Die SPD-Regierungszeit fiel allerdings gleichzeitig in die Ära der Individualisierung, die auch in Deutschland nicht Halt machte. Feminismus und Rechte für Einwanderer, in diesem Fall vor allem die türkischen Gastarbeiter, deren Bleibeperspektive sich mehr und mehr abzeichnete, und als sozialliberale Koalition war sie prädestiniert dafür, den Mantel der Geschichte zu ergreifen und sich für diese Gruppen stark zu machen, so sehr das klassische Sozialdemokraten wie Herbert Wehner und Helmut Schmidt auch wurmte. Das Resultat war ein ungeheurer Popularitätsgewinn der Partei, der sie in intellektuellen Zirkeln sexy und beliebt machte wie nie zuvor oder danach, und die breiteste Koalition, auf der sie je ruhen konnte. Das beste SPD-Ergebnis aller Zeiten wurde auf dem Rücken dieser Koalition erzielt, als die Partei 1972 über 45% der Stimmen auf sich vereinte und die CDU zum einzigen Mal neben 1998 als stärkste Partei im Bundestag ablöste.

Zudem trafen die BRD in dieser Zeit, anders als die USA oder Großbritannien in deren goldenen sozialdemokratischen Zeitaltern, zwei große Schocks von außerhalb: das Ende von Bretton Woods beendete die effektive Dauersubvention deutscher Exporte durch eine unterbewertete D-Mark und warf die EWG in eine Dauerkrise, aus der sie erst Ende der 1980er Jahre herausfinden würde, und die Ölpreisschocks von 1973 und 1979 heizten die Inflation an, ohne irgendwelche positiven Beschäftigungseffekte anzubieten. Dadurch wurde für alle deutlich sichtbar, welche Grenzen die sozialdemokratische Machtbarkeitsideologie auch in Deutschland unter den kompetenten Händen Brandts und Schmidts hatte.

Es war, als ob die BRD die amerikanische Entwicklung im Zeitraffer durchlief. Innerhalb weniger Jahre krempelte die SPD im Verbund mit der FDP die Republik so tiefgreifend um wie keine andere (demokratische) Regierung zuvor oder danach (Adenauer/Scheidemann zählt nicht, wer aufbaut verändert immer viel). Es nimmt nicht wunders, dass die Energie bereits 1973 verbraucht war, die Koalition rissig wurde - auch hier im Zeitraffer. Die Arbeiter, stets eine Kernwählerschaft der SPD, begannen ihre langsame Entfremdung von der Partei. Die Intellektuellen und Radikalen rutschten zurück in ihre außerparlamentarische Oppositionsrolle, aus der sich später die Grünen entwickelten. Die SPD wurde konservativer, vorsichtiger, rückwärtsgewandter, bis sie die Macht 1982 verlor und 16 lange Jahre lang nicht wiedergewinnen konnte.

Aber zurück zu den USA. Der New Deal hätte womöglich deutlich länger überlebt, wären diese innerparteilichen Kämpfe und politischen Niederlagen immer noch durch eine stetig wachsende Wirtschaft gestützt gewesen, in der genügend Überschuss erwirtschaftet wurde, dass alle von einem rapide größer werdenden Kuchen profitieren konnten. Wäre es möglich gewesen, eine dreifache Steigerung der Einkommen, wie es der New Deal für die Arbeiter geleistet hatte, auch für die Schwarzen zu erreichen und ihnen damit ebenfalls Vorstadthäuser, zwei Autos und Konsumkredite auf Raten zu ermöglichen, hätte die Lage vielleicht anders ausgesehen. Aber die Wirtschaft begann sich Ende der 1960er Jahre spürbar zu verlangsamen, eine Entwicklung, die in den 1970er Jahren in eine andauernde Malaise übergehen sollte: die Stagflation.

Die Gründe für die in den 1960er Jahren auch in Europa erstmals aufflammende und in den 1970er Jahren die gesamte westliche Welt ergreifende Dauerkrise sind umstritten und bis heute nicht in einem allseitigen Konsens geklärt. Linke und rechte Ökonomen unterscheiden sich teilweise drastisch in der Beantwortung dieser Frage, weil auch die Einordnung der folgenden konkreten Politik davon abhängt. Sind Reagan, Thatcher und Kohl Helden, die die Wirtschaft aus den Händen einer inkompetenten, ideologischen Planwirtschafter-Clique reißen? Sind sie kapitalistische Ausbeuter, die versuchen, eine riesige Umverteilung von unten nach oben in Gang zu bringen? Irgendetwas dazwischen? Beides?

Ich will an dieser Stelle weniger eine alternative als eine ergänzende Erklärung anbieten. Sie führt uns zurück zum Beginn unserer Erzählung. Wir erinnern uns: Die Zeit zwischen 1870 und 1970 sah einen beispiellosen Anstieg des Lebensstandards praktisch aller Schichten erst in den USA und dann, rapide aufholend nach dem Zweiten Weltkrieg, auch in Europa. Stichworte hierfür waren das vernetzte Haus mit fließend Wasser, Strom und Heizung, Telekommunikation, Kraftfahrzeuge, Küchengeräte, später auch Pauschalreisen und Fernsehgeräte; ein beispielloser Anstieg der Einkommen der unteren Schichten und ein Aufstieg derselben, was die Herausbildung der ersten Mehrheits-Mittelschichtengesellschaft der menschlichen Geschichte ermöglichte.

Das Enddatum dieses Wachstums ist nicht zufällig gewählt, weil es die hundert Jahre voll macht. 1972 ist in den USA die Jahreszahl, die so gut wie keine andere den Abstieg in die Stagflation markiert (die Aufgabe des Systems von Bretton Woods, das den erfolgreichen Teil des New Deal untermauert hatte, geschah in diesem Jahr). Aber Bretton Woods alleine hatte nicht die Macht, erfolgreiche Wirtschaftssysteme weltweit zu stützen, egal was die linke Folklore zum Thema sagt. Was also ist die Erklärung?

Die oben stichwortartig wiederholten Entwicklungen hatten 1970 alle ihren Abschluss gefunden. Um die Jahrzehntwende herum war die komplette westliche Welt ungefähr auf demselben Stand. Alle Häuser hatten fließend Wasser, Heizung, Strom, Telefonanschluss, eigene Toiletten, Kühlschränke, Waschmaschinen, etc. (natürlich nicht "alle" alle, aber 80-99%, je nach Technologie). Damit war aber ein ungeheures Wachstumsloch gefüllt - das größte Wachstumsloch, das die Menschheit je besaß und erfolgreich füllte. Wir müssen uns an dieser Stelle wirklich noch einmal das Ausmaß dieser Leistung begreiflich machen. Nehmen wir fließendes Wasser. Das Römische Reich, dessen Lebensstandard in den großen Städten (und nur da!) erst im späten 18. Jahrhundert wieder erreicht wurde, baute mit titanischem Aufwand Wasserleitungen für einige wenige große Städte. Auch nur die Idee, fließendes Wasser in alle Vororte Roms zu bringen, wäre lächerlich gewesen. 1970 hatte auch der hinterletzte Bauernhof auf dem Land fließendes Wasser. Das ist eine Dimension, die nur, weil sie uns heute normal geworden ist, nicht weniger gewaltig ist. Und sie erforderte eine riesige, stetig noch größer und, vor allem, technisch versierter werdende Wirtschaft. Es geschah innerhalb von drei Generationen. Und nun war das Projekt abgeschlossen.

Alles, was nun folgte, waren Verbesserungen. Wichtige, gute, große Verbesserungen, gewiss. Computer und Internet, Solarenergie und effizientere Verbrennungsmotoren, FCKW-Verbot und längere Haltbarkeit von Lebensmitteln, Super-Containerschiffe und Kühlschränke der Energieeffizienzklasse AAA+++ und so weiter und so fort. Jede dieser Innovationen beschäftigte Menschen, generierte Wirtschaftswachstum, schaffe Wohlstand. Aber: Selbst ein so gewaltiges Unternehmen wie die Umstellung der gesamten Energiegewinnung auf regenerative Energiequellen wird nie im Leben so viele Menschen beschäftigen wie die Vernetzung der gesamten Welt mit Strom. Der Siegeszug der elektrischen Autos wird niemals auch nur einen Bruchteil der Menschen beschäftigen, die der Siegeszug des Autos selbst in Lohn und Brot brachte. Der Siegeszug von Computern und Internet beschäftigt nicht so viele Menschen wie der Ausbau von elementaren Küchengeräten.

Praktisch alle dieser Entwicklungen, die seit 1970 getätigt wurden, haben einen entscheidenden Nachteil: Sie verändern den individuellen Lebensstandard nur geringfügig (die Gesellschaft selbst wesentlich tiefgreifender). Ob ich meinen Strom künftig statt von einem Atomkraftwerk von einem Solarpanel bekomme, ändert an meinem Alltag erst einmal nichts (für uns alle in der Frage, ob wir durch den Klimawandel absaufen, aber sehr wohl). Gleiches gilt für bessere Computer oder schnelleres Internet. Alles schön und gerne genommen, aber nicht mit der Frage zu vergleichen, ob wir elektrischen Strom haben oder nicht.

Der letzte Mosaikstein, der zu dieser Entwicklung gehört, ist die Individualisierung des Konsums. Ich hatte bereits darauf hingewiesen, dass Mentalität und Konsummöglichkeiten des New Deal kollektivistisch angelegt waren. Es gab viele standardisierte Waren, und die das neue Utopia - die Häuser in Suburbia, mit Zaun und Rasen und einer Garage mit Cadillac - waren in ihrer uniformen Gleichheit kaum zu überbieten. Der Trend zur Individualisierung in den 1960er Jahren erfasste auch Industrie und Konsum, und wenn etwas sich nicht mit massenhafter Herstellung am Fließband und ständiger Rationalisierung verträgt, dann Individualisierung. Für diesen Spagat braucht es ausgesprochen komplexe Roboter und KI, und beide haben nicht eben die Tendenz hunderttausende von Lohnsklaven in gut bezahlte Angehörige der Mittelschicht zu verwandeln.

Noch einmal: Wir werden die Frage im Rahmen dieses Artikels mit Sicherheit nicht beantworten können und auch nicht den Versuch unternehmen. Für unser Thema ist das auch irrelevant, denn was unumstritten ist sind die Folgen dieser Wirtschaftskrise. Sie äußerte sich im Auftreten zweier Phänomene, die laut klassischer Wirtschaftstheorie - links wie rechts - eigentlich zusammen nicht auftauchen dürften: Stagnation des Wachstums und Inflation der Preise. Wirtschaftlern beider Lager galt es als Diktum, dass man durch die Wirtschaftspolitik beides steuern könnte. Linke gingen davon aus, dass eine expansivere Geldpolitik mehr Wirtschaftswachstum und Beschäftigung bringe (daher Schmidts berühmtes Diktum "Lieber 5% Inflation als 5% Arbeitslosigkeit"), während Rechte davon ausgingen, dass eine staatliche Kontrolle der Teuerungsrate (auf unter 2% p.a.) das beste Rezept für nachhaltiges, wenngleich niedrigschwelliges Wachstum sei.

Wir werden, erneut, nicht klären können, welche dieser beiden Theorien richtig war. Linke verweisen darauf, dass unter der expansiven sozialdemokratischen Wirtschaftspolitik das Wachstum höher war, Konservative verweisen darauf, dass unter ihrer restriktiven Geldpolitik der Ausbruch der Stagflation gelang. Der Nachweis, dass die Stagflation nicht auch unter fortgesetzter sozialdemokratischer Wirtschaftspolitik in den 1980er Jahren geendet hätte ist, analog zur Frage ob der New Deal nun entscheidend für das Ende der Weltwirtschaftskrise war, nie zu erbringen.

Fakt ist, dass beginnend unter Richard Nixon und verstärkt unter John Ford und Jimmy Carter eine Politik der Steuerkürzungen für Reiche, Deregulierung der Unternehmen und einer engeren Geldpolitik geführt wurde - jedoch immer noch im Kontext und Rahmen des New Deal. Es brauchte den endültigen Sieg der conservatives, die die republikanische Partei zu dem machten, was sie heute ist (ich verweise für eine ausführliche Betrachtung dieses Phänomens erneut auf meinen Artikel zum Thema) unter Ronald Reagan 1980, um diese Politik mit größerer Kohärenz und Stringenz zu verfolgen.

Die steigenden Arbeitslosenzahlen in den 1970er Jahren und die offensichtliche Grenze des mach- und finanzierbaren, die damit erreicht wurde, sorgte für einen fundamentalen Bewusstseinswandel in der Generation der Babyboomer und ihrer Eltern, der "Greatest Generation" ("Greatest", weil sie den Zweiten Weltkrieg gewonnen hatten). Sie, die Hauptprofiteure des New Deal, wurden zunehmend defensiv. Angesichts der erreichten Wachstumsgrenzen und offensichtlichen Begehrlichkeiten der bisher Ausgeschlossenen solidarisierten sie sich mehr und mehr mit der Oberschicht und grenzten sich nach unten ab. Zudem entfremdete sie die Frauenrechtsbewegung, die ihre Stellung als allmächtige Familienväter ("Father Knows Best") unterminierte, zunehmend von den Progressiven. Diese Faktoren bestärkte weiter das Auseinanderdriften der New-Deal-Koalition und den langsamen, aber stetigen Marsch dieser Gruppe nach Rechts.

Die politische Rechte war deutlich schneller darin, diesen fundamentalen Wandel und die dahinterstehende Dynamik zu erkennen. Richard Nixon war der erste, der es für sich erkannte und unter dem bis heute berühmten Schlagwort der silent majority, der "schweigenden Mehrheit", salonfähig machte. Es war ein politisch brillanter Zug. Die Republicans brachen die größten Nutznießer der Politik der Democrats aus deren Kern heraus, indem sie ihnen eine neue Idenität anboten: Sie waren nun Individualisten, die mit eigener Hände Arbeit, ohne Hilfe eines raffgierigen und von Minderheiten gekaperten Staates, zu ihrem Wohlstand gekommen waren und diesen nun gegen Angriffe der Minderleister verteidigen mussten.

Der rassistische und sexistische Kern dieser white identity politics wurde nur dünn übertüncht, aber es reichte. Eine riesige Schicht verdrängte komplett, dass ihr Erfolg eigentlich auf einem kollektiven Kampf mit, nicht gegen, den Staat aufgebaut hatte und ließ sich von rechts einspannen. Der Deal war einfach. Die Konservativen versprachen ihrer neuen Kernwählergruppe, ihre Errungenschaften gegen die Ansprüche der bisher Ausgeschlossenen abzusichern und ihren hervorgehobenen Status im System zu erhalten. Im Gegenzug bekamen sie freie Hand für eine Wirtschaftspolitik, die noch zehn Jahre zuvor gigantischen Widerspruch ausgelöst hätte.

Das Resultat all dieser Faktoren war der backlash gegen den New Deal. Er fand seinen reinsten Ausdruck in den Restaurationen Reagans und Thatchers. Beide versuchten mit sehr gemischtem Erfolg, das Rad zurückzudrehen. Die Ziel-Ära Reagans, und all seiner republikanischen Nachfolger, ist die Gilded Age. Sie ist mythisch verklärt als Amerikas große Zeit, in der robuste Männer die Wildnis zähmten und Individualisten mit eigener Hände Arbeit ihr Glück machten. In der Realität war es die Zeit der Räuberbarone Carnegie, Vanderbilt und Rockefeller, einer Zeit in der die Mehrheit der Bevölkerung sehr arm war, die USA eine imperialistische Außenpolitik verfolgten und in der sich die USA noch schamlos als weiße Gesellschaft definieren konnten. Es ist nicht zufällig die gleiche Zeit, die Donald Trump im Auge hat, wenn er "America great AGAIN" machen will.

In Großbritannien führte Thatchers conservative revolution in eine nicht gar so weit zurückliegende Zeit und wies auf die 1920er Jahre, eine Epoche, in der die britische Gesellschaft noch klar geordnet gewesen war - eine deutliche Parallele zu der Attraktivität des amerikanischen Konservatismus auf die konservativen Babyboomer und ihre Väter - und in der der Staat sich auf die Projektion der Macht des Empire beschränkt zu haben schien, dessen Beschwörung nicht zufällig in Thatchers Präsidentschaft eine wichtige Rolle spielte und im Falle Argentiniens sogar zu einem sinnlosen wie elektoral wertvollen Krieg führte.

In Deutschland ging die "gute alte Zeit" naturgemäß am wenigsten weit zurück. Kohls "geistig-moralische Wende" zielte darauf, die Veränderungen von "1968" (das in der Folklore beider Seiten mittlerweile ein solches Zerrbild geworden ist, dass es mit dem historischen 1968 nichts mehr zu tun hat) zurückzudrehen und die angeblichen Tugenden der Adenauerzeit - Fleiß, Selbstbeschränkung, Ordnung, Anstand - wiederzubeleben.

In allen westlichen Ländern, selbst in solchen, in denen offiziell Sozialdemokraten oder Sozialisten regierten (wie im Frankreich Mitterands) war diese Restauration in den 1980er Jahren in vollem Schwunge. Wie die Konservativen in den späten 1940er und den 1950er Jahren blieb den Sozialdemokraten wenig anderes übrig, als entweder auf den Zug aufzuspringen und zu versuchen, das Ganze ein wenig abzufedern - wie es Mitterand tat - oder zu versuchen, die Entwicklung durch schiere Willenskraft aufzuhalten, wie es Labour, die Democrats und die SPD taten und damit kolossal scheiterten.

Weltweit war die Sozialdemokratie in den 1980er Jahren auf dem Rückzug. Der New Deal war beendet, und es schien, als ob er ein Relikt der Geschichte werden würden. Die konservativen Regierungen meißelten an den Rändern herum, beschnitten Programme, beendeten Leistungen und widmeten Gelder um. Doch trotz aller Rückschläge für die Progressiven wurde deutlich, dass sich die Geschichte nicht zurückdrehen ließ. Sowenig die New Dealer in der Lage gewesen waren, tabula rasa zu machen und einen neuen, sozialdemokratischen Staat zu schaffen, selbst aus der Asche der größten Wirtschaftskrise der modernen Welt, so wenig waren die Konservativen in den 1980er Jahren in der Lage, den New Deal komplett oder auch nur grundlegend zurückzudrängen. Die Rhetorik Thatchers, Reagans und Kohls war immer wesentlich schärfer als die reale Politik, die dann hinter dieser Rhetorik folgte. Es waren die 1990er Jahre, in denen die Republicans, und die 2010er Jahre, in denen die Tories sich an ihrer eigenen Propaganda so sehr besoffen, dass sie sie selbst zu glauben begannen - einen Fehler, der sich klassischerweise eigentlich eher auf der Linken findet.

Die Diaspora der Sozialdemokratie dauerte allerdings nicht ewig, genausowenig wie die Diaspora der Konservativen ewig angehalten hatte. Waren letztere rund dreißig Jahre, von 1935 bis 1965, völlig marginalisiert gewesen, dauerte die sozialdemokratische Marginalisierung nur rund 20 Jahre, etwa von 1972 bis 1992. Genauso wie auf der Rechten entwickelte sich das Lösungsrezept für ihre Probleme am Rand, aus einer Gruppe heraus, die in der Bewegung schon lange existiert, aber nie an die Macht gekommen war. Die conservatives hatten, bevor Reagan und Thatcher sie an die Macht führten, zahllose innerparteiliche Kämpfe der Republicans und Tories verloren, und genauso erging es denjenigen, die nun den Ausweg aus der Krise der Sozialdemokratie fanden.