Mittwoch, 25. Juli 2018

Glanz und Elend der Sozialdemokratie, Teil 4: Backlash

Dies ist der vierte Teil einer Serie. Teil eins findet sich hier. Teil 2 befindet sich hier. Teil 3 befindet sich hier. Ich möchte zwei Bemerkungen voranstellen. Erstens ist dieser Artikel Teil einer Serie, die sich mit Aufstieg und Niedergang der Sozialdemokratie vorrangig in den USA und Deutschland beschäftigt. Dieser Fokus entspringt meinen persönlichen Interessen und meinem persönlichen Interessengebiet. Jegliche Verallgemeinerung bleibt deswegen notwendigerweise mit dem breiten Pinsel gezeichnet. Zweitens wird „Sozialdemokratie“ hier nicht im engen deutschen Sinne verwendet, sondern steht für alle reformistischen Parteien links der Mitte. Darunter fallen etwa die Labour Party, die Parti Socialist oder die Democrats, nicht aber die KPD oder die DSA.

Während der Wirkungszeit des New Deal hatte sich das Einkommen der Unterschicht, zu der die Arbeiter früher gehört hatten, mehr als verdreifacht. Die Einkommen der Angestellten der Mittelschicht waren ebenfalls zwischen 50% und 100% gestiegen. Aber der New Deal fußte auf der Funktionsweise des Kollektivs. Die weiße, männliche Arbeiter- und Angestelltenschicht war ihr zentraler Träger, ihr Profiteur. Die Regeln des New Deal waren für sie gemacht worden. Der Wagner-Act mit seiner Stärkung der Gewerkschaften stärkte eine kollektive Institution, die Rechte zugesprochen bekam, die sie vorher nicht besessen hatte. Der Housing Act gab einer bestimmten Klasse Zugang zu billigen Wohnungen oder Krediten, um Wohneigentum zu erwerben. Die GI Bill betraf (weiße, männliche) Kriegsveteranen.

Gerade die GI Bill und die andere Schlusslichtgesetzgebung, die nach 1945 bis zum Machtverlust der Democrats 1952 den New Deal (unter dem Label "Fair Deal") abschlossen, waren dabei geradezu schizophren in ihrem Aufbau. Auf der einen Seite entfremdeten sie endgültig die Südstaatler von der New-Deal-Koalition, indem sie zaghafte erste Schritte zu einer Bürgerrechtsgesetzgebung enthielten (die scheiterte und in die 1960er Jahre vertagt wurde), was unzweifelhaft progressiv gedacht war.

Auf der anderen Seite vertrieb sie aktiv und bewusst Frauen und Minderheiten aus den Arbeitsplätzen, die sie während des Krieges gewonnen hatten, als die weißen, männlichen Arbeiter und Angestellten, die diese vorher für sich beansprucht hatten, zur Armee gingen (im Zweiten Weltkrieg war die US-Armee immer noch segregiert und hielt Schwarze in eigenen Einheiten, schlechter bezahlt und üblicherweise in Versorgungskapazität fern von der Front, weil man davon ausging, dass Schwarze keine guten Soldaten wären). Im Rahmen der Integration der Veteranen wurden ihnen diese Jobs wieder - und exklusiv - gegeben. Die Frauen erhielten als Trostpreis die konservative Rolle der Hausfrau, die nicht arbeiten musste, weil ihr Mann das tat. Die Minderheiten erhielten - nichts.

Mit dem knappen (und möglicherweise betrogenen) Wahlsieg John F. Kennedys 1960 begann eine neue Phase im New Deal: der Backlash. Wo Eisenhower und sein Vizepräsident Richard Nixon, der gegen Kennedy unterlegen war, den New Deal als Fakt akzeptiert hatten, das sich nicht aus der Gesellschaft wegdenken ließ, gärte es im rechten Rand der konservativen Partei. Abgeordnete wie Barry Goldwater und Publizisten wie William F. Buckley, der Gründer des rechtsradikalen National Review, boten eine Alternative. Ihre Sprache hat man seit mehreren Jahrzehnten nicht mehr gehört, und in gewissen Kreisen innerhalb der konservativen Bewegung - rechts außen - wurde sie sehr beliebt. Es war die Sprache der Gilded Age, dem Zeitalter des Turbokapitalismus, und es war die Sprache des Individualismus, der in scharfem Kontrast zu der kollektiven Sprache des "Wir" der New Dealer stand.

Für die New Dealer war das ein doppeltes Problem. Nicht nur bedienten die conservatives, wie sich diese neue Rechte in Abgrenzung von den Republicans nannte, in deren Partei sie operierte, eine Mentalität, die im Gegensatz zu den New Dealern und Europa tief in der kollektiven Psyche verankert war, sondern das "Wir", in dem die New Dealer zu sprechen pflegten, schloss eine ganze Menge Menschen aus. Diese Menschen sprachen ebenfalls von "ich", in einer Sprache von individuellen, nicht kollektiven Rechten. Für die progressive Bewegung wurde dies mehr und mehr zum Problem.

Praktisch gleichzeitig bedienten sich zwei aufkommende, im Kern progressive Bewegungen der Sprache von Individualrechten: die Emanzipationsbewegung, die eine Gleichstellung der Frauen und eine Überwindung des alten patriarchalischen Gesellschaftsaufbaus forderten, und die Bürgerrechtsbewegung, die gleiche Rechte für Schwarze forderte. Beide Bewegungen sprachen von "Rechten" in einem individuell einklagbaren Sinne, was man auch in ihren jeweiligen Protestformen sieht: Anders als gewerkschaftlich organisierte Streiks und Massenaufmärsche von Belegschaften und Arbeitern als Klasse machten sie durch Einfordern spezifischer Rechte für sich selbst auf ihre Lage aufmerksam, ob sie sich in verbotene Busabteile oder Diner setzten, auf Titelseiten erklärten abgetrieben zu haben oder Märsche antraten, die ihnen vorher explizit verboten worden waren.

In dieser Zeit vollzog sich das voter realignment, die Neuordnung der amerikanischen Parteienlandschaft. Die letzten Progressiven verließen die republikanische Partei (symbolisiert mit der Niederlage Rockefellers in den primaries 1968), während die weißen Konservativen die Partei der Democrats verließen (symbolisiert durch Nixons "southern strategy" 1968). Diesen Prozess habe ich hier näher beschrieben und werde ihn daher nicht wiederholen. Die Progressiven erkannten, dass sie ihre Mehrheit nur würden halten können, wenn sie die beiden Individualrechtsbewegungen kooptierten. Wie auch in Europa begannen Einwanderer, andere ethnische Minderheiten und vor allem Frauen nun anstatt konservativen die progressiven Parteien zu wählen - vorher war es umgekehrt gewesen. Auf der anderen Seite begann die weiße, männliche Arbeiter- und Angestelltenschaft ihren eigenen Weg in die umgekehrte Richtung, von links nach rechts.

So wie die Republicans unter Wilkie, Dewey, Eisenhower und Nixon den New Deal und die Sprache, in der er abgefasst war, akzeptiert hatten (auf konservativer Seite häufig in patriotischen Tönen als "wir Amerikaner", auf der progressiven Seite klassenkämpferischer), sprachen nun beide Seiten die Sprache des Individualismus. Dies war der Tod des amerikanischen Kollektivismus, und mit ihm war es der Tod des Rahmens des New Deal, der in dieser Sprache abgefasst war.

Selbstverständlich stellt sich das nur aus der Rückschau und in der Vereinfachung als ein so klarer Prozess dar. Das voter realignment wie auch die beschriebene Entwicklung vollzogen sich mit Kurven und Kanten über mehrere Jahrzehnte, nicht in einem einzigen plötzlichen Ruck. Entwicklungen so mit dem breiten Pinsel zu zeichnen gehört aber auch zu den Aufgaben des Historikers, da sie ansonsten kaum deutlich zu machen sind und sich in der Masse der Details verlieren. Man möge mir dies an dieser Stelle daher nachsehen.

Der Hauptteil dieser Entwicklungen aber vollzog sich in den 1960er Jahren. Die Bürgerrechtsgesetzgebung von 1963-1965 durch Lyndon B. Johnson hatte denselben Effekt, den Black Lives Matter von 2014 bis 2016 hatte: Sie radikalisierte die weiße Arbeiter- und Angestelltenschicht und entfremdete sie von der Koalition, deren Teil sie bisher gewesen war. Als die Rechte der Schwarzen und Frauen kein salientes Thema gewesen waren, hatte diese unnatürliche Koalition, der der New Deal seine Existenz verdankte - die Schwarzen und Progressiven auf der einen, die konservativen "Dixiecrats" auf der anderen Seite - bestanden, hatte sich jede Seite die andere wegdenken können.

Doch wie zuvor bereits herausgearbeitet wurde war die Erbsünde des New Deal die Exklusion der Schwarzen und Frauen gewesen. In den 1930er Jahren hatten sie das akzeptiert. Die Kriegsjahre hatten ihnen Alternativen gezeigt und die Hoffnung gegeben, dass es bald aufwärts gehen könnte. Doch die Restaurationsphase der späten 1940er und der 1950er Jahre, in der die weiße Arbeiter- und Angestelltenschicht ihre bahnbrechenden Wohlstandsgewinne erlangte, warf sie auf den Stand der 1930er Jahre zurück, und gerade in den Südstaaten sorgten Lynchjustiz und Jim Crow dafür, dass den Schwarzen über alle Maßen deutlich gemacht wurde, dass dies ein Feature des Systems war und kein Bug. Es ist daher kaum verwunderlich, dass die 1950er Jahre eine Phase des langsam schwelenden Unmuts über dieses System waren, in dem erste Alternativen formuliert wurden - und in der eine Fallschirmjägerdivision begann, die De-Segregierung im Süden durchzusetzen, weil die Nationalgarde damit drohte, sich an Lynchmobs zu beteiligen. (Es ist, dies sei als Seitenbemerkung gestattet, auch kein Wunder dass gerade in dieser Zeit zum ersten Mal eine rebellische Jugendbewegung entstand, und genausowenig, dass die 1960er und 1970er Jahre die radikalsten solchen Jugendbewegungen erlebten.)

Doch die Politiker, die als gewählte Sheriffs, Richter und Gouverneure mit staatlichem Gewalteinsatz gegen jeden Schwarzen drohten, der es wagte, gleiche Rechte einzufordern, die ihm laut Gesetz zustanden, waren Democrats - genau wie jene Politiker aus dem Norden, die immer noch versuchten, den New Deal zu stärken und durch neue Reformen relevant zu halten. Eine solche Koalition konnte unmöglich bestehen bleiben, und ab 1965 - der Verabschiedung sowohl des Civil Rights Act als auch der Gesetzgebung zum War On Poverty - wurden die Fliehkräfte zunehmend spürbar und von Nixon in seinem erfolgreichen Präsidentschaftswahlkampf 1968 auch meisterhaft ausgenutzt.

Es ist nicht so, dass es zwischen 1952 und 1968 keine Versuche gegeben hätte, den New Deal wiederzubeleben und auszuweiten. Am bekanntesten ist wohl Lyndon B. Johnsons "War On Poverty". Die Zielsetzung war, die Armut, die (damals wie heute) in den USA ein für eine so reiche Gesellschaft schamvoll hohes Niveau hatte, deutlich zu reduzieren. Es war das erste Mal, dass ein Staat aktiv mithilfe der Sozialwissenschaften versuchte, ein systemisches Problem zu lösen. Traditionell hatte sich staatliche Armutsbekämpfung auf Almosen und Arbeitsverpflichtungen (häufig in gefängnisartigen Zuständen) erschöpft.

Der War on Poverty war grandios in jeglicher Hinsicht. Grandios in seiner Ambition: eine gewaltige Reduzierung nicht nur der Armutsrate, sondern auch Beseitigung ihrer strukturellen Ursachen. Grandios in seinem Umfang: geplant waren enorme Summen (die der Kongress freilich nicht bereitstellte). Grandios in seinem Hybris: Die Planer des New Deal waren der Überzeugung, alles verstanden und durchdrungen zu haben und alle Probleme lösen zu können. Grandios in seinem Scheitern: das Budget gnadenlos gekürzt, die Programme disfunktional, das ganze Reformwerk unpopulär.

Der War on Poverty zeigte deutlich die Grenzen des New Deal in allen drei Politikbereichen auf.

In den politics erwies es sich als ungeheur unpopulär, einer Minderheit mit Pariah-Status helfen zu wollen. So nobel die Ziele Johnsons waren, Arme wählten nicht, und mit dem Geld der Steuerzahler ihr Leid zu lindern war keine politisch tragfähige Idee. Dieses Problem verfolgt die Democrats bis heute, wenn sie versuchen, diskriminierten Minderheiten mehr Rechte und Teilhabe zu ermöglichen. Diese mangelnde politische Unterstützung bedingte den Misserfolg in den anderen beiden Dimensionen mit, da keine Mehrheiten im Kongress zu organisieren waren.

In der policy zeigte sich, dass die Sozialwissenschaften noch bei weitem nicht so erfolgreich in der Durchdringung gesellschaftlicher Probleme waren, wie es sich die Pioniere der Soziologie (Empirie war damals der neueste und ungeheur populäre Trend und passte hervorragend zum technokratischen Machbarkeitsglauben der New Dealer) vorgestellt hatten. Die Maßnahmen basierten daher oft auf falschen Annahmen und arbeitete mit unpraktikablen Lösungsansätzen.

In der polity zeigte sich, dass die bestehenden Institutionen an ihre Grenzen stießen. Sie waren für das massenhafte Abfertigen standardisierter Problemfälle ausgelegt: Integration aller Veteranen (GI Bill), Hilfestellung bei Arbeitskämpfen (Wagner Act), und so weiter.

Ich möchte an dieser Stelle einen kurzen Exkurs zur Lage in Deutschland einschieben. Ich habe bereits früher erwähnt, dass die Entwicklungen aus den USA hier zeitverzögert ankamen, und das ist für diese Geschichte besonders wichtig. Im Gegensatz zu Labour in Großbritannien und den Democrats in den USA kam die SPD erst an die Macht, als der Höhepunkt in der angelsächsischen Welt längst überschritten war: 1969. Unter den sozialliberalen Regierungen bis 1982 erlebte das Goldene Zeitalter der Sozialdemokratie in Deutschland eine Art Geistersommer.

Ein Gutteil des Fundaments einer sozialdemokratischen Ordnung war, mit starkem konservativen Einschlag gerade in der Konstruktion des Sozialstaats (statts eines Wohlfahrtsstaats, wie ihn die Sozialdemokraten Skandinaviens errichteten, an denen die SPD sich eher orientierte), bereits von Adenauer, Erhardt, Kiesinger, Strauß und Schiller gelegt worden. Diese Merkwürdigkeit war das erste deutsche Alleinstellungsmerkmal.

Als die SPD unter Willy Brandt an die Macht kam, stürzte sie sich in ein gigantisches, ambitioniertes Reformprogramm (unter den Stichworten "Lebensqualität" und "Mehr Demokratie wagen"), das heute gegenüber der Ostpolitik leider etwas im Schatten steht. Dieses Reformprogramm sprach noch ein letztes Mal mit aller Macht die Sprache der Kollektivrechte: Senkung des Wahlalters, Erhöhung der Rentenbezüge, Einführung des Kindergelds und, zentrale Reformmaßnahme der gesamten Epoche, das Betriebsverfassungsgesetz. Es war ein Programm der Ansprüche und Regeln für Gruppen: Eltern, Rentner, Beschäftigte im Betrieb. Ihr Lebensstandard stieg deutlich, ebenso ihre Verhandlungsmacht.

Die SPD-Regierungszeit fiel allerdings gleichzeitig in die Ära der Individualisierung, die auch in Deutschland nicht Halt machte. Feminismus und Rechte für Einwanderer, in diesem Fall vor allem die türkischen Gastarbeiter, deren Bleibeperspektive sich mehr und mehr abzeichnete, und als sozialliberale Koalition war sie prädestiniert dafür, den Mantel der Geschichte zu ergreifen und sich für diese Gruppen stark zu machen, so sehr das klassische Sozialdemokraten wie Herbert Wehner und Helmut Schmidt auch wurmte. Das Resultat war ein ungeheurer Popularitätsgewinn der Partei, der sie in intellektuellen Zirkeln sexy und beliebt machte wie nie zuvor oder danach, und die breiteste Koalition, auf der sie je ruhen konnte. Das beste SPD-Ergebnis aller Zeiten wurde auf dem Rücken dieser Koalition erzielt, als die Partei 1972 über 45% der Stimmen auf sich vereinte und die CDU zum einzigen Mal neben 1998 als stärkste Partei im Bundestag ablöste.

Zudem trafen die BRD in dieser Zeit, anders als die USA oder Großbritannien in deren goldenen sozialdemokratischen Zeitaltern, zwei große Schocks von außerhalb: das Ende von Bretton Woods beendete die effektive Dauersubvention deutscher Exporte durch eine unterbewertete D-Mark und warf die EWG in eine Dauerkrise, aus der sie erst Ende der 1980er Jahre herausfinden würde, und die Ölpreisschocks von 1973 und 1979 heizten die Inflation an, ohne irgendwelche positiven Beschäftigungseffekte anzubieten. Dadurch wurde für alle deutlich sichtbar, welche Grenzen die sozialdemokratische Machtbarkeitsideologie auch in Deutschland unter den kompetenten Händen Brandts und Schmidts hatte.

Es war, als ob die BRD die amerikanische Entwicklung im Zeitraffer durchlief. Innerhalb weniger Jahre krempelte die SPD im Verbund mit der FDP die Republik so tiefgreifend um wie keine andere (demokratische) Regierung zuvor oder danach (Adenauer/Scheidemann zählt nicht, wer aufbaut verändert immer viel). Es nimmt nicht wunders, dass die Energie bereits 1973 verbraucht war, die Koalition rissig wurde - auch hier im Zeitraffer. Die Arbeiter, stets eine Kernwählerschaft der SPD, begannen ihre langsame Entfremdung von der Partei. Die Intellektuellen und Radikalen rutschten zurück in ihre außerparlamentarische Oppositionsrolle, aus der sich später die Grünen entwickelten. Die SPD wurde konservativer, vorsichtiger, rückwärtsgewandter, bis sie die Macht 1982 verlor und 16 lange Jahre lang nicht wiedergewinnen konnte.

Aber zurück zu den USA. Der New Deal hätte womöglich deutlich länger überlebt, wären diese innerparteilichen Kämpfe und politischen Niederlagen immer noch durch eine stetig wachsende Wirtschaft gestützt gewesen, in der genügend Überschuss erwirtschaftet wurde, dass alle von einem rapide größer werdenden Kuchen profitieren konnten. Wäre es möglich gewesen, eine dreifache Steigerung der Einkommen, wie es der New Deal für die Arbeiter geleistet hatte, auch für die Schwarzen zu erreichen und ihnen damit ebenfalls Vorstadthäuser, zwei Autos und Konsumkredite auf Raten zu ermöglichen, hätte die Lage vielleicht anders ausgesehen. Aber die Wirtschaft begann sich Ende der 1960er Jahre spürbar zu verlangsamen, eine Entwicklung, die in den 1970er Jahren in eine andauernde Malaise übergehen sollte: die Stagflation.

Die Gründe für die in den 1960er Jahren auch in Europa erstmals aufflammende und in den 1970er Jahren die gesamte westliche Welt ergreifende Dauerkrise sind umstritten und bis heute nicht in einem allseitigen Konsens geklärt. Linke und rechte Ökonomen unterscheiden sich teilweise drastisch in der Beantwortung dieser Frage, weil auch die Einordnung der folgenden konkreten Politik davon abhängt. Sind Reagan, Thatcher und Kohl Helden, die die Wirtschaft aus den Händen einer inkompetenten, ideologischen Planwirtschafter-Clique reißen? Sind sie kapitalistische Ausbeuter, die versuchen, eine riesige Umverteilung von unten nach oben in Gang zu bringen? Irgendetwas dazwischen? Beides?

Ich will an dieser Stelle weniger eine alternative als eine ergänzende Erklärung anbieten. Sie führt uns zurück zum Beginn unserer Erzählung. Wir erinnern uns: Die Zeit zwischen 1870 und 1970 sah einen beispiellosen Anstieg des Lebensstandards praktisch aller Schichten erst in den USA und dann, rapide aufholend nach dem Zweiten Weltkrieg, auch in Europa. Stichworte hierfür waren das vernetzte Haus mit fließend Wasser, Strom und Heizung, Telekommunikation, Kraftfahrzeuge, Küchengeräte, später auch Pauschalreisen und Fernsehgeräte; ein beispielloser Anstieg der Einkommen der unteren Schichten und ein Aufstieg derselben, was die Herausbildung der ersten Mehrheits-Mittelschichtengesellschaft der menschlichen Geschichte ermöglichte.

Das Enddatum dieses Wachstums ist nicht zufällig gewählt, weil es die hundert Jahre voll macht. 1972 ist in den USA die Jahreszahl, die so gut wie keine andere den Abstieg in die Stagflation markiert (die Aufgabe des Systems von Bretton Woods, das den erfolgreichen Teil des New Deal untermauert hatte, geschah in diesem Jahr). Aber Bretton Woods alleine hatte nicht die Macht, erfolgreiche Wirtschaftssysteme weltweit zu stützen, egal was die linke Folklore zum Thema sagt. Was also ist die Erklärung?

Die oben stichwortartig wiederholten Entwicklungen hatten 1970 alle ihren Abschluss gefunden. Um die Jahrzehntwende herum war die komplette westliche Welt ungefähr auf demselben Stand. Alle Häuser hatten fließend Wasser, Heizung, Strom, Telefonanschluss, eigene Toiletten, Kühlschränke, Waschmaschinen, etc. (natürlich nicht "alle" alle, aber 80-99%, je nach Technologie). Damit war aber ein ungeheures Wachstumsloch gefüllt - das größte Wachstumsloch, das die Menschheit je besaß und erfolgreich füllte. Wir müssen uns an dieser Stelle wirklich noch einmal das Ausmaß dieser Leistung begreiflich machen. Nehmen wir fließendes Wasser. Das Römische Reich, dessen Lebensstandard in den großen Städten (und nur da!) erst im späten 18. Jahrhundert wieder erreicht wurde, baute mit titanischem Aufwand Wasserleitungen für einige wenige große Städte. Auch nur die Idee, fließendes Wasser in alle Vororte Roms zu bringen, wäre lächerlich gewesen. 1970 hatte auch der hinterletzte Bauernhof auf dem Land fließendes Wasser. Das ist eine Dimension, die nur, weil sie uns heute normal geworden ist, nicht weniger gewaltig ist. Und sie erforderte eine riesige, stetig noch größer und, vor allem, technisch versierter werdende Wirtschaft. Es geschah innerhalb von drei Generationen. Und nun war das Projekt abgeschlossen.

Alles, was nun folgte, waren Verbesserungen. Wichtige, gute, große Verbesserungen, gewiss. Computer und Internet, Solarenergie und effizientere Verbrennungsmotoren, FCKW-Verbot und längere Haltbarkeit von Lebensmitteln, Super-Containerschiffe und Kühlschränke der Energieeffizienzklasse AAA+++ und so weiter und so fort. Jede dieser Innovationen beschäftigte Menschen, generierte Wirtschaftswachstum, schaffe Wohlstand. Aber: Selbst ein so gewaltiges Unternehmen wie die Umstellung der gesamten Energiegewinnung auf regenerative Energiequellen wird nie im Leben so viele Menschen beschäftigen wie die Vernetzung der gesamten Welt mit Strom. Der Siegeszug der elektrischen Autos wird niemals auch nur einen Bruchteil der Menschen beschäftigen, die der Siegeszug des Autos selbst in Lohn und Brot brachte. Der Siegeszug von Computern und Internet beschäftigt nicht so viele Menschen wie der Ausbau von elementaren Küchengeräten.

Praktisch alle dieser Entwicklungen, die seit 1970 getätigt wurden, haben einen entscheidenden Nachteil: Sie verändern den individuellen Lebensstandard nur geringfügig (die Gesellschaft selbst wesentlich tiefgreifender). Ob ich meinen Strom künftig statt von einem Atomkraftwerk von einem Solarpanel bekomme, ändert an meinem Alltag erst einmal nichts (für uns alle in der Frage, ob wir durch den Klimawandel absaufen, aber sehr wohl). Gleiches gilt für bessere Computer oder schnelleres Internet. Alles schön und gerne genommen, aber nicht mit der Frage zu vergleichen, ob wir elektrischen Strom haben oder nicht.

Der letzte Mosaikstein, der zu dieser Entwicklung gehört, ist die Individualisierung des Konsums. Ich hatte bereits darauf hingewiesen, dass Mentalität und Konsummöglichkeiten des New Deal kollektivistisch angelegt waren. Es gab viele standardisierte Waren, und die das neue Utopia - die Häuser in Suburbia, mit Zaun und Rasen und einer Garage mit Cadillac - waren in ihrer uniformen Gleichheit kaum zu überbieten. Der Trend zur Individualisierung in den 1960er Jahren erfasste auch Industrie und Konsum, und wenn etwas sich nicht mit massenhafter Herstellung am Fließband und ständiger Rationalisierung verträgt, dann Individualisierung. Für diesen Spagat braucht es ausgesprochen komplexe Roboter und KI, und beide haben nicht eben die Tendenz hunderttausende von Lohnsklaven in gut bezahlte Angehörige der Mittelschicht zu verwandeln.

Noch einmal: Wir werden die Frage im Rahmen dieses Artikels mit Sicherheit nicht beantworten können und auch nicht den Versuch unternehmen. Für unser Thema ist das auch irrelevant, denn was unumstritten ist sind die Folgen dieser Wirtschaftskrise. Sie äußerte sich im Auftreten zweier Phänomene, die laut klassischer Wirtschaftstheorie - links wie rechts - eigentlich zusammen nicht auftauchen dürften: Stagnation des Wachstums und Inflation der Preise. Wirtschaftlern beider Lager galt es als Diktum, dass man durch die Wirtschaftspolitik beides steuern könnte. Linke gingen davon aus, dass eine expansivere Geldpolitik mehr Wirtschaftswachstum und Beschäftigung bringe (daher Schmidts berühmtes Diktum "Lieber 5% Inflation als 5% Arbeitslosigkeit"), während Rechte davon ausgingen, dass eine staatliche Kontrolle der Teuerungsrate (auf unter 2% p.a.) das beste Rezept für nachhaltiges, wenngleich niedrigschwelliges Wachstum sei.

Wir werden, erneut, nicht klären können, welche dieser beiden Theorien richtig war. Linke verweisen darauf, dass unter der expansiven sozialdemokratischen Wirtschaftspolitik das Wachstum höher war, Konservative verweisen darauf, dass unter ihrer restriktiven Geldpolitik der Ausbruch der Stagflation gelang. Der Nachweis, dass die Stagflation nicht auch unter fortgesetzter sozialdemokratischer Wirtschaftspolitik in den 1980er Jahren geendet hätte ist, analog zur Frage ob der New Deal nun entscheidend für das Ende der Weltwirtschaftskrise war, nie zu erbringen.

Fakt ist, dass beginnend unter Richard Nixon und verstärkt unter John Ford und Jimmy Carter eine Politik der Steuerkürzungen für Reiche, Deregulierung der Unternehmen und einer engeren Geldpolitik geführt wurde - jedoch immer noch im Kontext und Rahmen des New Deal. Es brauchte den endültigen Sieg der conservatives, die die republikanische Partei zu dem machten, was sie heute ist (ich verweise für eine ausführliche Betrachtung dieses Phänomens erneut auf meinen Artikel zum Thema) unter Ronald Reagan 1980, um diese Politik mit größerer Kohärenz und Stringenz zu verfolgen.

Die steigenden Arbeitslosenzahlen in den 1970er Jahren und die offensichtliche Grenze des mach- und finanzierbaren, die damit erreicht wurde, sorgte für einen fundamentalen Bewusstseinswandel in der Generation der Babyboomer und ihrer Eltern, der "Greatest Generation" ("Greatest", weil sie den Zweiten Weltkrieg gewonnen hatten). Sie, die Hauptprofiteure des New Deal, wurden zunehmend defensiv. Angesichts der erreichten Wachstumsgrenzen und offensichtlichen Begehrlichkeiten der bisher Ausgeschlossenen solidarisierten sie sich mehr und mehr mit der Oberschicht und grenzten sich nach unten ab. Zudem entfremdete sie die Frauenrechtsbewegung, die ihre Stellung als allmächtige Familienväter ("Father Knows Best") unterminierte, zunehmend von den Progressiven. Diese Faktoren bestärkte weiter das Auseinanderdriften der New-Deal-Koalition und den langsamen, aber stetigen Marsch dieser Gruppe nach Rechts.

Die politische Rechte war deutlich schneller darin, diesen fundamentalen Wandel und die dahinterstehende Dynamik zu erkennen. Richard Nixon war der erste, der es für sich erkannte und unter dem bis heute berühmten Schlagwort der silent majority, der "schweigenden Mehrheit", salonfähig machte. Es war ein politisch brillanter Zug. Die Republicans brachen die größten Nutznießer der Politik der Democrats aus deren Kern heraus, indem sie ihnen eine neue Idenität anboten: Sie waren nun Individualisten, die mit eigener Hände Arbeit, ohne Hilfe eines raffgierigen und von Minderheiten gekaperten Staates, zu ihrem Wohlstand gekommen waren und diesen nun gegen Angriffe der Minderleister verteidigen mussten.

Der rassistische und sexistische Kern dieser white identity politics wurde nur dünn übertüncht, aber es reichte. Eine riesige Schicht verdrängte komplett, dass ihr Erfolg eigentlich auf einem kollektiven Kampf mit, nicht gegen, den Staat aufgebaut hatte und ließ sich von rechts einspannen. Der Deal war einfach. Die Konservativen versprachen ihrer neuen Kernwählergruppe, ihre Errungenschaften gegen die Ansprüche der bisher Ausgeschlossenen abzusichern und ihren hervorgehobenen Status im System zu erhalten. Im Gegenzug bekamen sie freie Hand für eine Wirtschaftspolitik, die noch zehn Jahre zuvor gigantischen Widerspruch ausgelöst hätte.

Das Resultat all dieser Faktoren war der backlash gegen den New Deal. Er fand seinen reinsten Ausdruck in den Restaurationen Reagans und Thatchers. Beide versuchten mit sehr gemischtem Erfolg, das Rad zurückzudrehen. Die Ziel-Ära Reagans, und all seiner republikanischen Nachfolger, ist die Gilded Age. Sie ist mythisch verklärt als Amerikas große Zeit, in der robuste Männer die Wildnis zähmten und Individualisten mit eigener Hände Arbeit ihr Glück machten. In der Realität war es die Zeit der Räuberbarone Carnegie, Vanderbilt und Rockefeller, einer Zeit in der die Mehrheit der Bevölkerung sehr arm war, die USA eine imperialistische Außenpolitik verfolgten und in der sich die USA noch schamlos als weiße Gesellschaft definieren konnten. Es ist nicht zufällig die gleiche Zeit, die Donald Trump im Auge hat, wenn er "America great AGAIN" machen will.

In Großbritannien führte Thatchers conservative revolution in eine nicht gar so weit zurückliegende Zeit und wies auf die 1920er Jahre, eine Epoche, in der die britische Gesellschaft noch klar geordnet gewesen war - eine deutliche Parallele zu der Attraktivität des amerikanischen Konservatismus auf die konservativen Babyboomer und ihre Väter - und in der der Staat sich auf die Projektion der Macht des Empire beschränkt zu haben schien, dessen Beschwörung nicht zufällig in Thatchers Präsidentschaft eine wichtige Rolle spielte und im Falle Argentiniens sogar zu einem sinnlosen wie elektoral wertvollen Krieg führte.

In Deutschland ging die "gute alte Zeit" naturgemäß am wenigsten weit zurück. Kohls "geistig-moralische Wende" zielte darauf, die Veränderungen von "1968" (das in der Folklore beider Seiten mittlerweile ein solches Zerrbild geworden ist, dass es mit dem historischen 1968 nichts mehr zu tun hat) zurückzudrehen und die angeblichen Tugenden der Adenauerzeit - Fleiß, Selbstbeschränkung, Ordnung, Anstand - wiederzubeleben.

In allen westlichen Ländern, selbst in solchen, in denen offiziell Sozialdemokraten oder Sozialisten regierten (wie im Frankreich Mitterands) war diese Restauration in den 1980er Jahren in vollem Schwunge. Wie die Konservativen in den späten 1940er und den 1950er Jahren blieb den Sozialdemokraten wenig anderes übrig, als entweder auf den Zug aufzuspringen und zu versuchen, das Ganze ein wenig abzufedern - wie es Mitterand tat - oder zu versuchen, die Entwicklung durch schiere Willenskraft aufzuhalten, wie es Labour, die Democrats und die SPD taten und damit kolossal scheiterten.

Weltweit war die Sozialdemokratie in den 1980er Jahren auf dem Rückzug. Der New Deal war beendet, und es schien, als ob er ein Relikt der Geschichte werden würden. Die konservativen Regierungen meißelten an den Rändern herum, beschnitten Programme, beendeten Leistungen und widmeten Gelder um. Doch trotz aller Rückschläge für die Progressiven wurde deutlich, dass sich die Geschichte nicht zurückdrehen ließ. Sowenig die New Dealer in der Lage gewesen waren, tabula rasa zu machen und einen neuen, sozialdemokratischen Staat zu schaffen, selbst aus der Asche der größten Wirtschaftskrise der modernen Welt, so wenig waren die Konservativen in den 1980er Jahren in der Lage, den New Deal komplett oder auch nur grundlegend zurückzudrängen. Die Rhetorik Thatchers, Reagans und Kohls war immer wesentlich schärfer als die reale Politik, die dann hinter dieser Rhetorik folgte. Es waren die 1990er Jahre, in denen die Republicans, und die 2010er Jahre, in denen die Tories sich an ihrer eigenen Propaganda so sehr besoffen, dass sie sie selbst zu glauben begannen - einen Fehler, der sich klassischerweise eigentlich eher auf der Linken findet.

Die Diaspora der Sozialdemokratie dauerte allerdings nicht ewig, genausowenig wie die Diaspora der Konservativen ewig angehalten hatte. Waren letztere rund dreißig Jahre, von 1935 bis 1965, völlig marginalisiert gewesen, dauerte die sozialdemokratische Marginalisierung nur rund 20 Jahre, etwa von 1972 bis 1992. Genauso wie auf der Rechten entwickelte sich das Lösungsrezept für ihre Probleme am Rand, aus einer Gruppe heraus, die in der Bewegung schon lange existiert, aber nie an die Macht gekommen war. Die conservatives hatten, bevor Reagan und Thatcher sie an die Macht führten, zahllose innerparteiliche Kämpfe der Republicans und Tories verloren, und genauso erging es denjenigen, die nun den Ausweg aus der Krise der Sozialdemokratie fanden.

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