Mittwoch, 31. März 2021

Bücherliste März 2021

 

Anmerkung: Dies ist einer in einer monatlichen Serie von Posts, in denen ich die Bücher und Zeitschriften bespreche, die ich in diesem Monat gelesen habe. Darüber hinaus höre ich eine Menge Podcasts, die ich hier zentral bespreche, und lese viele Artikel, die ich ausschnittsweise im Vermischten kommentiere. Ich erhebe weder Anspruch auf vollständige Inhaltsangaben noch darauf, vollwertige Rezensionen zu schreiben, sondern lege Schwerpunkte nach eigenem Gutdünken. Wenn bei einem Titel sowohl die englische als auch die deutsche Version angegeben sind, habe ich die jeweils erstgenannte gelesen und beziehe mich darauf. In vielen Fällen wurden die Bücher als Hörbücher konsumiert; dies ist nicht extra vermerkt.

Diesen Monat in Büchern: Europa nach dem Krieg, Geschichtsbild der Preußen, Ministerium der Zukunft, Streit, Furcht

Außerdem diesen Monat in Zeitschriften: Reichsgründung, Stuttgart, Chinakompetenz, Schwarze Null, Bevölkerungsschutz, Antirassismus

BÜCHER

Tony Judt - Postwar (Tony Judt - Geschichte Europas nach 1945)

Tony Judts Monsterwerk über die Geschichte Europas nach 1945 habe ich nun bereits zum dritten Mal gelesen. Das Buch ist zwar mittlerweile bereits leicht angestaubt - es ist 2004 erschienen - aber seine umfassende Betrachtung der Entwicklungslinien in Ost und West hat nichts von ihrer Relevanz verloren. Tatsächlich ist es Judts Hauptverdienst, die Geschichte Europas nicht analog zu den Trennlinien des Kalten Krieges mit dem Eisernen Vorhang zu spalten, sondern die Entwicklung der östlichen Satellitenstaaten Moskaus weiterhin fest in den europäischen Kontext einzubetten. Judt weist selbst wiederholt daraufhin, dass die große Tragik der Blockbildung war, Osteuropa im Bewusstsein der anderen Europäer aus dem Kontinent zu verbannen, quasi den Kontinent analog zu Adenauers Diktum an der Elbe aufhören zu lassen.

Man muss sich natürlich klar machen, dass Judts Werk eine Geschichtserzählung ist. Trotz intensiver Recherchen und einem hervorragenden Auge fürs Detail erzählt er das Große Ganze, macht umfassende Trends aus und ordnet die jeweiligen Nationalgeschichten darin ein. Angesichts der Masse von Themen und Akteuren ist das bei diesem Thema natürlich auch kaum anders vorstellbar, aber die Nähte lösen sich vor allem in den letzten Kapiteln des Buchs ein wenig, wo Judts Versuch der Erstellung eines solchen Narrativs notwendig von den Beschränkungen seiner Gegenwart begrenzt wird.

So ist etwa die Osterweiterung bei ihm ein Gegenwartsprozess, während wir mittlerweile fast 20 Jahre Zeit hatten, ihre Entwicklung zu sehen. Auch steckte er mitten im neoliberalen Reformdiskurs jener Jahre und dem Wandel der Sozialdemokratie, konnte ihren recht unmittelbar folgenden Absturz noch nicht voraussehen, genausowenig wie den Wiederaufstieg der Rechtsextremisten in allen Ländern Europas, der bei ihm allenfalls als entfernte Möglichkeit am Horizont wetterleuchtet. Gleiches gilt für den Brexit oder die große Euro-Schuldenkrise. Darauf mit dem benefit of hindsight zu zeigen ist natürlich leicht, aber es muss gleichzeitig unser Aufmerksamkeit darauf lenken, dass die Narrative der vorangegangenen Jahrzehnte nicht zwingend korrekter sein müssen.

Dieser Vorrede sei damit aber genug, denn zwar ist die Mahnung zur Vorsicht grundsätzlich angebracht; einen konkreten Verdachtsgrund aber habe ich nicht. Das Werk bleibt absolut empfehlenswert. Ich habe eine einzige stilistische Kritik: wann immer Judt über Kulturgeschichte schreibt, neigt er zum selbstreferenziellen Name-Dropping, das zwar seine eigene Bildung unter Beweis stellt, aber ansonsten denjenigen, die die beschriebenen Personen nicht kennen, nichts sagt und denjenigen, die sie kennen, zwar wohl ein wissendes Lächeln ermöglichen, sonst aber nur wenig Mehrwert bieten.

Wer die Epoche in europäischer Geschichte kennenlernen oder wieder auffrischen will, kann aber deutlich schlechtere Quellen finden als Judts "Geschichte Europas", so viel steht fest.

Christopher Clark - Von Zeit und Macht (Christopher Clark - Time and Power)

Das Geschichtsverständnis der preußischen Herrscher ist eher ein Orchideenthema; wie dieses es auf die Spiegel-Bestsellerliste geschafft hat, bleibt auch angesichts der eher sperrigne Prosa Clarks in diesem Band ein Rätsel. Ich würde annehmen, dass das eine Spätfolge Clarks Popularität um 2014 war, als er mit den "Schlafwandlern" dem deutschen Feuilleton eine mehrere Monate andauernde Diskussion über die Kriegsschuldfrage spendierte, die man zuletzt in den 1970er Jahren ähnlich euphorisch diskutiert hatte.

Mit Clarks populäreren Themen aber - die ihm neben den Bestsellern auch eine eigene Doku-Serie "Die Deutschen" im üblich-harmlosen deutschen Fernsehstil bescherten - hat dieses Buch wenig zu tun. Es handelt sich um ein klassisches Werk der historischen Wissenschaft, und so liest es sich auch.

Clark spürt dem Geschichtsverständnis des Großen Kurfürsten, Friedrich des Großen, Bismarcks und Hitlers nach. Dabei versucht er, deren spezifische Sichtweise herauszuarbeiten und in ihrer Zeit zu verorten. Der Große Kurfürst fällt ihm vor allem deswegen auf, weil er Geschichte erstmals (belegterweise) als eine Abfolge von Entscheidungsbäumen betrachtete. Friedrich Wilhelm verortete sich selbst in der Mitte eines Berater- und Ministerkreises, der verschiedene Möglichkeiten der Entscheidungsfindung hatte und diese navigieren musste.

Friedrich II. dagegen betrachtete Geschichte eher philosophisch, sah Wandlungsprozesse in der Gesellschaft eher als grundlegende Kräfte, die sich entfalteten. Paradoxerweise stellte er sich gleichzeitig als absoluten König dar, in völliger Kontrolle der Geschehnisse, und eliminierte Minsisteriale ebenso wie Landstände konsequent aus seiner Geschichtsschreibung, die er mit festem Blick auf die Nachwelt gestaltete. Er betrachtete den Staat als zeitloses Konzept und die Geschichte als Kreisbewegung. Entscheidungen waren für ihn daher kaum relevant; er konzentrierte sich auf den Ruhm, seinen Platz in der Geschichte und die Verwandtschaft mit den römischen Kaisern. Wenig überraschend, dass Hitler sich so geistesverwandt fühlte.

Bismarck hingegen stellt Clark als einen Schachspieler vor, der vor allem in geeigneten Augenblicken und Kräfteverhältnissen denkt. Er betont sowohl die Bedeutung des Schachspiels in Bismarcks Denken als prägende Metapher als auch die Bereitschaft, bestimmte Elemente des Spiels zu opfern, um ein Ziel zu erreichen - wenn sich die Gelegenheit bietet. Zentral ist zudem der Staat als Gedanke und Institution, ihm unterwirft sich Bismarck.

Die Nationalsozialisten zuletzt werden über die Einrichtung der Revolutionsmuseen vorgestellt, in denen sich das Regime als revolutionäre, im Abwehrkampf gegen den "roten Terror" hervorgegangene Kraft in Szene setze.

Kim Stanley Robinson - The Ministry of Future

Ich habe für mein Patreon eine Rezension geschrieben:

I have a chequered history with Kim Stanley Robinson. I tried to read the Martian trilogy and finished "Red Mars", but then I gave up a few chapters in of "Green Mars". I read about the first third of "2312" before I gave that one up. I was tempted by the premises of "New York 2140" as well as "Aurora", but I never quite dared to get disappointed again, even though they intrigued me. I can happily report that I finished his latest book, "The Ministry of the Future".

There is something peculiar about Kim Stanley Robinsons novels. I think it is because they aren't really novels; they lack almost all the characteristic novels usually tend to have. Like plots. Or characters. Or character development. There are actual chapters told from the perspective of what can only be described as forces, like photons, carbon or "the market". Other chapters are written in the style of minutes taken from a meeting (relieving Robinson of the need for actual dialogue) or as oral history, in which someone describes an event or development, usually in the first person plural. Again, Robinson writes masses.

Oh, sure, stuff is happening in these books. And there are people, with names, who talk (at least occasionally). But in reality, the real protagonists are institutions, are masses of people. Whenever it comes to actual people, they are stand-ins. The trauma survivor. The politican. The glacier expert. The physicist. Yes, they have names, genders, ages, nationalities, but these serve only a function of cohesion.

When I say that the real protagonists are institutions and masses of people, this is not necessarily an indictment. It is difficult to tell such stories, and Robinson is a master of this craft. The storyline spans several decades, and while the continuity in personell stretches credulity, it is simply an outflow of him not caring about people. That the same person heads a minstry for 40 years is wildly unrealistic, but since that person isn't really a character anyway but more a moving camera and conduit of ideas, it hardly matters.

The star of the show, umistakably, is Earth itself. It changes a lot. You might say, it is the central protagonist, and therefore, it has a clearly delienated character arc. Viewed like this, it's the villain of the story, or at least an anti-hero, because it gets gradually worse, but of course, this is our fault. The fault of masses of people, of institutions, and, yes, individuals.

The story begins in the late 2020s. The central conceit is that the COP meeting of 2024 created an institution - feckless and ineffectual, but yet, an institution - that became known as the Ministry of the Future and tasked to look at the world from the perspective of people not yet born. It's one of the tenets of climate activists made ministry, basically.

The ministry is trying to raise awareness of the measures that need to be taken, but of course, taken they are not. We know this from our own experience and news consumption. It's therefore only consistent when Robinson lets India take point. Hit by a deadly heat wave, the Indians are the first to take drastic measures. In Robinson's telling, these measures also spawn a terrorist organization, the "Children of Kali", but more on them later.

We follow how several initiatives are pursued at the same time, and how they fall short. Pumping ice back onto Antarctica isn't feasible, for example. Simultaneously, prevarication and resistance to change shove the achievable further and further away. These parts of the book are coming like an onslaught, a barrage of misery and pessimism. They draw you in like a horror story, because they are. They are in our rather near future, and Robisnon does a stellar job at describing them to us in detail as vivid as it is technocratic, scientifically accurate and detached. It only heightens the force of impact.

This force that the book unfolds, the making apparent and feelable of the often theoretical and abstract forces of climate change, is one of its main draws. It pulled me through the first half of it, keeping me awake far longer than I should have, reading page after page.

Another draw is the ethical dimension of it all. In the face of hundreds of million dying, fleeing their homelands and seeing their lives crash down all around them, is the system itself worth saving? Is capitalism able to cope with the challenges? Should central banks, this unelected earth government, as Robinson paints it, really try to fulfill their old mandate in the face of armageddon? Readers who know Robinson's previous works can easily imagine the conclusion he arrives at.

The most uncomfortable question the book poses, a central dilemma, is terrorism. In short, Robinson poses the question of whether terrorism is not only a sane response to the behavior of bad actors, but also an ethical one. In the story, terrorists bring down planes full of business people, virtually ending commercial air traffic until the arrival of clean dirigibles. They sink container ships, forcing the shipping industry to come clean. They sabotage coal plants and force them shutting down.

Robinson makes clear that without terrorism, the belated changes to the world economy would not have come at all, and mankind would've been lost. And yet, the terrorists kill a lot of people, and it is heavily implied that the ministry's "black wing" is involved as well. Reading the fallout of climate change, one is hard-pressed not to feel righteous anger at "the guilty", a phrase popping up open. It's only on the fringes of the story, but Robinson leaves no doubt that basically all the big industrialists have been murdered by the time the story concludes. It's a main ingredient of saving the Earth. Is it justified? You're certainly excused for having more than a small queasy feeling in your stomach.

Closing off this review, I'd be remiss not to say that the last third of the book is a bit of a drag. The story is essentially revolved around the two-thirds-mark, with human society set on a clear trajectory. Emissions first pleteau and then, thanks to new tech, start to slowly decrease. Humanity is shrinking in number, and in the course of the "Half Earth" - a plotpoint that goes over weirdly uncontroversial - leave half the planet to the rapdily regenerating wildlife.

From then on, we get some stories about how refugees can now settle in any country, thanks to a world citizenship, and what our main character is up to. The last part especially is extremely dull. Robinson has a tendency to dabble in stereotype anyway (all scientists are emotionless, talk on short, detailled sentences and care only for their field, for example), but the main character is utterly uninteresting and without characteristics, so I don't really care about her retirement.

All in all, however, for all the interesting aspects above, I recommend the book.

Ian Leslie - Conflicted: Why arguments are tearing us apart and how they can bring us together

Ich habe mir dieses Buch nach einer glühenden Empfehlung auf Twitter geholt, und ich war schwer enttäuscht. Anstatt vernünftige Hinweise oder Tipps zu bekommen, wie man besser diskutieren und streiten kann, bietet das Buch vor allem einen sehr oberflächlichen Einblick über einen sehr selektiven Ausschnitt der psychologischen Forschung und massenhaft Narrativ als Polster, um auf die Seitenzahl zu kommen, die einen Buchdruck rechtfertigt.

Tatsächlich ist das Ding genau das, was an populärwissenschaftlichen Büchern schlecht ist und ihnen einen so miesen Ruf gibt (der dann, siehe Hewdig Richter, zu dünkelbeladenen Kritiken führen kann). Da werden einige Erkenntnisse aus vereinzelten Studien kurz skizziert, die an sich schon an die Banalität grenzen, um dann in ungemein ausführlichen Narrativen Beispiele zu geben - nicht aber Handlungsanweisungen oder Vorstellungen, wie man die Probleme umgehen kann.

Nur ein Beispiel: ein Kapitel beschäftigt sich mit unterschiedlichen Kulturen als Ursache für Missverständnisse. Soweit, so interessant. Am Beispiel des Waco-Incident von 1994 zeigt Leslie dabei auf, dass die Kultur des FBI (institutionalisiert, rechtsstaatlich) und die der belagerten Kuresh-Anhänger (evangelistisch, fanatisch) dafür sorgten, dass beide Seiten fundamental aneinander vorbeiredeten. Nur - ein Großteil des Kapitels ist den Schilderungen der Belagerung von Kureshs Zuflucht gewidmet, über die ich nun recht gut Bescheid weiß. Wie ich meine eigenen kulturellen Vorurteile erkennen und im Gespräch mit anderen berücksichtigen kann, weiß ich dagegen nach Abschluss des Kapitels immer noch nicht.

Der Rest des Buches gleitet in derselben Struktur dahin. So erfahre ich zwar, was für eine tolle Unternehmenskultur die Fluglinie Southwest Airlines hat, aber nicht, wie sie genau funktioniert und wie ich sie im eigenen Unternehmen durchsetzen könnte. Stattdessen bleibe ich auf dem Niveau eines Glückskeks-Zettels sitzen: die Abteilungen respektieren sich gegenseitig und arbeiten zusammen. Wahnsinn. Bitte nicht so viele Details. Dazu kommt noch der sermonhafte Tonfall, der unendlich auf die Nerven geht. "Wir" können "heutzutage" nicht "mehr" richtig diskutieren (der sozialen Medien wegen, natürlich), weswegen es jemanden braucht, der in baldriangetränktem und völlig unverbindlichem Tonfall erklärt, dass es immer zwei Seiten gibt. Unerträglich. Aber für so was gibt es bei Amazon ja die Rückgabefunktion...

Einzig ein Element möchte ich explizit nennen, das mir eine neue und spannende Einsicht vermittelt hat (wenngleich auch hier die strukturelle Kritik anwendbar bleibt): Das im Alltag leicht zu beobachtende Faktum, dass Frauen in Gesprächen eher auf der emotionalen Meta-Ebene unterwegs sind und Männer auf der inhaltlichen Ebene, dass letztere oftmals die zugrundeliegenden Emotionen nicht verstehen, ist keine Sache, die von der Biologie herrührt, sondern eine von Machtverhältnissen. Männer sind genauso fähig wie Frauen, auf Emotionen zu achten, sie tun es nur nicht. Frauen übrigens auch nicht, wenn sie in Machtstellungen sind. Wie so oft ist das das zentrale Problem; Hierarchien in Geschlechter- und Kommunikationsverhältnissen.

Ira Katznelson - Fear Itself

In seiner Inaugurationsrede verkündete Franklin D. Roosevelt: "Das einzige, das wir fürchten müssen, ist die Furcht selbst." Mit einer gehörigen Portion performativen Optimismus ging er dann daran, mit dem New Deal das moderne Amerika aufzubauen. Ira Katznelson aber fragt nach den Ursachen dieser Furcht, und wie sie die New-Deal-Ära bestimmte. Er gliedert diese Beobachtung grob in drei Teile.

Im ersten Teil befasst er sich mit der großen Systemkonkurrenz zum Faschismus. Vor allem Italien, aber zunehmend auch Nazi-Deutschland forderten mit ihren totalitären Antworten auf die Weltwirtschaftskrise eine Antwort. Katznelson stellt klar, dass die USA trotz einzelner faschistischer Sympathisanten (und noch vereinzelterer kommunistischer Parteigänger) nie in Gefahr war, diesen Pfad zu beschreiten. Die liberale Demokratie musste aber eine Antwort geben, und diese Antwort war der New Deal. Katznelson zeigt anhand vieler Beispiele, wie Planung und Kommandowirtschaft damals als Mittel der Wahl galten und welche Vorbildwirkung gerade das faschistische Italien entfaltete.

Im zweiten und größten Teil geht Katznelson auf die interne Furcht zweier Gruppen ein, die die Geschichte des New Deal maßgeblich mitbestimmten: die Republicans und die Democrats der Südstaaten, die Dixiecrats. Die mit Abstand größte Rolle spielen die Dixiecrats, deren offen gelebter Rassismus die Leitplanken des New Deal bestimmte. Auf ihre Stimmen war Roosevelt angewiesen, und die Abgeordneten stimmten wie ein Block gegen alles, was die Jim-Crow-Ordnung des Südens gefährdete. Die Struktur des New Deal - When Affirmative Action was White, in Katznelsons Titel seines anderen Buchs zum Thema - wurde daher durch sie vorgegeben. Wo immer Bundesgelder direkt in den Süden flossen und von den Südstaaten nach Gutdünken vergeben werden konnten, waren sie dafür; wo immer Regulierungen möglicherweise Schwarzen helfen könnten, waren sie dagegen.

Als der New Deal Ende in den 1940er Jahren zunehmend unter Beschuss geriet, verbündete sich diese Furcht der Südstaaten vor einem Ende der rassistischen Unterdrückungsordnung mit der der Republicans vor Verbesserungen für die arbeitenden Schichten. Bezeichnenderweise kleideten beide Gruppierungen ihre Furcht vor einer Erosion ihrer Privilegien - hier rassistisch motiviert, dort wirtschaftlich - in die Sprache von Verfassung und State's Rights und nutzten die undemokratischen Strukturen des Senats, um Verbesserungen zu blockieren.

Die dritte Furcht ist dann die vor der Atombombe. Im selben Maße, wie der aktive New-Deal-Staat unter der Furcht von emanzipierten Arbeiter*innen und Schwarzen zurückgefahren wurde, entstand in rasantem Maße ein neuer, mächtiger Staatsapparat in CIA und militärisch-industriellem Komplex, unter maßgeblicher Führung derselben Dixiecrats und Republicans, die kurz zuvor noch händewringend vor einem zu mächtigen Staat gewarnt hatten.

Das Bild, das Katznelson zeichnet, ist in höchstem Maße ambivalent. Wer die New-Deal-Ära, die Katznelson völlig zurecht bis zu Trumans Präsidentschaft 1952 nachzeichnet, verstehen will, sollte dieses Buch lesen. Abgeraten werden muss lediglich von der Audible-Version; der salbungsvoll-pathetische Sing-Sang des Sprechers ist schwer zu ertragen.

ZEITSCHRIFTEN

Aus Politik und Zeitgeschichte - Stuttgart

Ich wohne zwar kaum 15km von der Hauptstadt Baden-Württembergs entfernt, aber mit Stuttgart bin ich nie warm geworden. Ich mag diese hässliche Stadt in ihrem Talkessel nicht. Zugegebenermaßen bin ich auch kein Großstadtmensch, vielleicht verschließt sie den Charme, von dem die Autor*innen dieses Hefts so beredt schreiben, auch vor mir. Aber auch die Lektüre dieses Hefts hat wenig daran geändert. Das liegt nicht ausschließlich an den Autor*innen; das erste Essay etwa gibt eine überzeugende Liebeserklärung an die Stadt von einem migrantischen Hip-Hop-Künstler, der mühelos den Bogen von Maultasche zu Protestkultur hinbekommt. Andere Essays allerdings überzeugen weniger.

Die Geschichte der Stadt ist etwa letztlich eine trockene Auflistung von Fakten. Gleich mehrere Essays beschäftigen sich mit der Protestkultur und ziehen bemühte Vergleiche zwischen 2010 und 2020, die aber wenig miteinander gemeinsam haben außer der Tatsache, dass irgendwie Polizei gegen irgendwie Demonstrantierende unterwegs war und es die Landeshauptstadt damit für kurze Zeit in den nationalen Fokus schaffte. Auch die sonstigen Versuche, eine spezifische Stuttgarter Kultur aufzuspüren, sind zwar sicherlich aller Ehren wert, ließen mich aber deutlich kalt.

Aus Politik und Zeitgeschichte - Chinakompetenz

Dass die Bedeutung Chinas in den letzten Jahren rasant gestiegen ist, ist keine rasend innovative Erkenntnis. Es ist aber Grund genug, sich die Frage zu stellen, wie viel Wissen eigentlich über das Riesenreich bekannt ist und woher wir es bekommen. Die Beiträge dieses Hefts befassen sich daher mit der Frage der "Chinakompetenz". Die Bestandsaufnahme ist dabei eigentlich stets die gleiche: In Deutschland gibt es kaum ernstzunehmende China-Expert*innen; stattdessen sind hauptsächlich Berichte aus zweiter Hand und Ableitungen von Klischees vorhanden. Es wäre dringend geboten, hier intellektuell aufzustocken.

So weit, so gut. Die Beiträge des Heftes selbst hätten jedoch von einer deutlich stringenteren Chefredaktion und Lektorat profitiert, denn insgesamt bietet das Heft wenig mehr als meine obige Zusammenfassung, nur sehr ausführlich. Die immer gleiche Problemfeststellung wiederholt sich in den meisten Beiträgen mit latent unterschiedlicher Schwerpunktsetzung. Interessanter waren da eigentlich nur zwei Beiträge: einer, der sich mit der Beziehung von Menschenrechten und Wirtschaftsinteressen in der deutschen Chinapolitik befasst (so war etwa Schröder deutlich ignoranter gegenüber chinesischen Menschenrechtsverletzungen als Merkel, was mir nicht klar war) und einer, der Taiwan als das "andere China" in den Fokus rückt und die Geschichte und Positionierung eines Landes, über das man außer dem "made in" vor dem Namen sonst wenig weiß, in Kürze darzustellen vermag.

Aus Politik und Zeitgeschichte -150 Jahre Reichsgründung

Das 150jährige Jubiläum der Reichsgründung im Januar diesen Jahres hat für ein kurzes Aufflackern von Interesse an seiner Geschichte gesorgt, die einen veritablen kleinen Historiker*innenstreit ausgelöst hat, der in diversen Diskussionsrunden und Twitter-Austauschen verfolgt werden konnte. Dieser fruchtbare Streit, der etwa Hedwig Richter gegen Christoph Nonn oder Jürgen Zimmerer stellte, hat innerhalb von wenigen Wochen mein Verständnis des Kaiserreichs deutlich erschüttert, wovon ich noch lange profitieren werde.

Ein Wetterleuchten dieser Auseinandersetzung über den historischen Platz des Kaiserreichs findet man auch in diesem Heft, wenngleich die meisten Beiträge eng dem eigentlichen Gründungsakt verbunden bleiben und diesen unter die Lupe nehmen. Die konkurrierenden Deutungen Nonns und Richters aber fallen wohl selbst den unbedarfteren Lesenden auf.

Andere Beiträge befassen sich etwa mit der Darstellung des Gründungsakts in der Historienmalerei, eine sehr wertvolle Betrachtung, bedenkt man die Bedeutung, die das berühmte Gemälde Anton von Werners in der öffentlichen Erinnerung (so es eine gibt) hat. Auch die vergleichende Untersuchung der Bedeutung Versailles im historischen Gedächtnis von Deutschen und Franzosen war sehr lesenswert. Insgesamt ein rundes, rundum zu empfehlendes Heft!

Aus Politik und Zeitgeschichte - Schwarze Null

Die Schwarze Null gehört einerseits zu den deutschen Obsessionen unserer Zeit, ist aber andererseits auch ein Beispiel für erfolgreiche politische Werbung par excellence. Es ist daher nur angebracht, die Schwarze Null unter dem Gesichtspunkt der politischen Kommunikation zu betrachten, wie es dieses unbedingt empfehlenswerte Heft tut, und sie weniger als eine kohärente Wirtschaftspolitik anzusehen.

Die Autor*innen spüren hier der Frage nach, welche Rolle die Schwarze Null einerseits und das Konzept des "Sparens" andererseits für die Deutschen haben und wie sie sich in den letzten zwanzig Jahren entwickelt haben. Dabei wird unter anderem herausgestellt, woher die überparteiliche Unterstützung der Schwarzen Null kam - hier die Hoffnung, den Sozialstaat zu beschneiden, dort die Hoffnung, Steuergeschenke für die Reichen zu verhindern - oder welche Rolle die EZB im deutschen politischen Diskurs einnimmt.

Die Wirkmächtigkeit des "Sparens" und der Schwarzen Null ist so groß, dass sie in meinen Augen als beherrschendes Narrativ der letzten Dekaden gesehen werden muss, das wie nichts anderes die deutsche Politik bestimmt hat, noch vor der Flüchtlingskrise 2015 und wohl selbst mehr als die Corona-Pandemie. Die Beschäftigung mit diesem Narrativ - und damit die Lektüre dieses Hefts - seien dringend empfohlen.

Aus Politik und Zeitgeschichte - Bevölkerungsschutz

Es ist offensichtlich, was das Thema Bevölkerungsschutz gerade ein wenig aktueller macht als üblich, aber man wäre schief gewickelt würde man annehmen, dass es in diesem Heft um Corona geht. Tatsächlich drehen sich die Beiträge um Katastrophen und den Schutz vor denselben im Hinblick auf die Strukturen der Bundesrepublik. Da findet man etwa ein Essay, das sich mit der Frage beschäftigt, was eigentlich Katastrophen ausmacht. Ein weiterer Beitrag erklärt detailliert das Katastrophenschutzsystem in Deutschland. Wenig überraschend ist es föderal organisiert und ein wahrer Flickenteppich verschiedener überlappender Kompetenzen und Organisationen.

Für mich als Historiker spannend war die Frage, wie Katastrophenschutz sich nach dem Krieg entwickelt hat. Durch die Lektüre von "Die Stunde der Exekutive" (siehe Bücherliste November 2020) war ich über die Zusammenhänge von THW, Luftschutz und Altnazis schon informiert. Es ist aber immer wieder spannend zu sehen, wie versucht wurde, bestimmte Kriegsstrukturen und Mentalitäten in den Katastrophenschutz zu retten und neu zu framen, und wie umfassend das scheiterte - unter anderem, weil sich das Bewusstsein durchsetzte, dass der Ausbau von Kellern in thermonuklearen Kriegen wenig hilft.

Die Überblicke über die Kompetenzen und Institutionen ist insgesamt etwas dröge, wenngleich informativ. Hervorhebenswert finde ich noch das Essay, das eine Verbindung zwischen der Wahrnehmung von Katastrophen einerseits und der Konstruktion von "Opfern" auf der anderen Seite zeigt. Hier ist die historische Einordnung besonders bemerkenswert, in der aufgezeigt wird, wie über die Jahrzehnte die Ansprüche an die Rettenden, die Opfer tatsächlich am Leben zu erhalten, massiv gestiegen sind. Wo bis in die 1960er Jahre der "Abtransport" der Opfer die Messlatte war, wurde es bis in die 1990er Jahre zunehmend die Frage, ob sie überlebten; heute dagegen geht es vor allem darum, wie gut die Heilung möglich ist.

Aus Politik und Zeitgeschichte - (Anti-)Rassismus

Ein Thema, das gerade in aller Munde ist, ist der Rassismus. Es ist dabei, höflich gesagt, umstritten. Wenig überraschend ist daher, dass das vorliegende Heft versucht, beiden Seiten dieser allzuoft aggressiv geführten Debatte denselben Raum zu widmen und eine gewisse Ambivalenz herzustellen. Das gelingt im Großen und Ganzen auch und ist eine angenehme Leseerfahrung, weil bei der Auswahl der Beiträge anders als in den Talkshows darauf geachtet wurde, dass auch Leute zu Wort kommen, die etwas zu sagen haben und die am Thema interessiert sind.

Besonders auffällig war das für mich in einem Essay-Streit über die Frage, ob der Begriff "Rasse" aus dem Grundgesetz gestrichen werden soll. Ich hatte vorher keine Meinung dazu und habe auch immer noch keine. Beide Essays hatten gute Punkte. So liest man Debatten gerne, und es wäre sehr angenehm, würden mehr Medienschaffende sich ein Beispiel an dieser Ausgabe der APuZ nehmen.

Montag, 29. März 2021

Ulf Poschardt fährt mit Robert Habeck klimaneutral über die Autobahn und reden übers Impfen - Vermischtes 29.03.2021

 

Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Sie werden mit einem Zitat aus dem Text angeteasert, das ich für meine folgenden Bemerkungen dazu für repräsentativ halte. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten.

1) Ein feministischer Kanzler

Dabei wird nicht nur Baerbock, sondern auch Habeck mit Geschlechterstereotypen drangsaliert – anders als bei ihr wurde das jedoch kaum thematisiert. Das Gerede über ihre angeblich piepsende Stimme ist ähnlich deplatziert wie Bemerkungen zu seiner Frisur oder seinem Dreitagebart. Habeck dürfte in den Augen vieler einen ebenso irritierenden Angriff auf traditionelle Männlichkeitsvorstellungen darstellen wie der unverhohlene Griff Baerbocks nach der Macht. Er ist der beinahe einzige Spitzenpolitiker, der bewusst mit tradierten Rollenmustern bricht und seine Macht eben ganz selbstverständlich mit einer Frau teilt. Sollte Baerbock schließlich an ihm vorbeiziehen und kandidieren, bliebe Habeck auf seinem emanzipierten Männerbild sitzen wie auf einem Berg ranziger Butter. Nicht wenige Männer dürften sich über diese Niederlage freuen. [...] Nicht nur aus feministischer Sicht scheint es mir deshalb kein Widerspruch zu sein, für einen Kandidaten Robert Habeck zu votieren. Er würde das Amt sicherlich progressiver interpretieren als Markus Söder und mit Abstrichen Olaf Scholz. Man könnte sogar sagen: So wie einst Angela Merkel als Frau im Kanzleramt ein Novum für dieses Land gewesen ist, so wäre nun ein Kanzler und Feminist Robert Habeck ebenfalls ein Novum. In gewissem Sinne sogar eine recht zeitgemäße Fortsetzung von Merkel. Ich jedenfalls glaube, dass sich der Feminismus nicht auf den Ruf nach sichtbaren Frauen in Machtpositionen beschränken sollte. So wie es weiterhin wichtig bleibt, auf die massive strukturelle Ungleichheit zwischen den Geschlechtern hinzuweisen und sie zu bekämpfen, ebenso wichtig scheint es mir, die Allianz mit emanzipierten Männern zu suchen. Denn nur mit ihrer Hilfe lässt sich unser Land zu einem wirklich gleichberechtigten verändern. Und Robert Habeck scheint mir ein solch emanzipierter Mann zu sein. (Jana Hensel, ZEIT)

Ich kenne Habeck und Baerboch beide viel zu wenig, um das verifizieren oder falsifizieren zu können. Aber die Perspektive ist auf jeden Fall ganz spannend. Generell schaue ich auf die K-Frage recht entspannt. Egal, welcheR der Kandidat*innen am Ende das Rennen macht - Söder, Laschet, Scholz, Baerbock oder Habeck - die Republik geht davon nicht unter. Die Kehrseite, wie so oft in der deutschen Geschichte seit 2005, ist, dass von keiner dieser Personen in irgendeiner Weise große Verbesserungen zu erwarten sind. Ich wäre mit Scholz oder Baerbock oder Habeck natürlich glücklicher als mit den beiden Unions-Herren, und hielte sie für das Land auch für besser. Aber es ist, anders als etwa in den USA, keine Frage mit tief greifenden Konsequenzen.

2) Fehlermeldung // Tweet

Hinter diesen Zahlen versteckt sich nicht nur die Ablehnung einzelner Politiker und ihrer Entscheidungen, das gewöhnliche Auf und Ab der öffentlichen Meinung. Hier geht es um mehr. Weil die Pandemiebekämpfung eine staatliche Ganzkörperaufgabe ist, bei der Regierende von der kommunalen bis zur Bundesebene ebenso wie Verwaltungen, Behörden und nahezu alle anderen staatlichen Institutionen ihren Anteil an Erfolg und Misserfolg haben, trifft auch die Unzufriedenheit nun das Ganze. Nicht einzelne politische Wettbewerber verlieren aktuell die Stimmen potenzieller Wähler, sondern der Staat droht, das Vertrauen seiner Bürgerinnen und Bürger zu verspielen. Auch und ausgerechnet jener, die sonst mit pauschalem Politikbashing nichts anfangen können, die den Institutionen nicht nur theoretisch vertrauen, sondern sie oft praktisch verteidigen. Früher hätte man von der politischen Mitte gesprochen, heute könnte man diese Leute die staatstragende Schicht nennen. Wie sie mit dieser Erfahrung umgehen, wird entscheidend dafür sein, wie die Demokratie aus der Pandemie kommt. [...] Das ist fatal. Viele Deutsche sind vielleicht nicht stolz auf ihr Land, sie leiden eher unter den Eigenheiten ihrer Mitmenschen, als sich an ihnen zu freuen, aber dass die Dinge hierzulande einigermaßen funktionieren, das finden sie doch ganz schön. Die stille Gewissheit darüber kommt einem (nüchternen) Ersatz für echten Patriotismus noch am nächsten, sie ist prägend für das Selbstverständnis des Landes. Als Angela Merkel vor vielen Jahren gefragt wurde, welche Empfindungen Deutschland in ihr wecke, antwortete sie: "Ich denke an dichte Fenster!" Nun aber: überall Löcher, Unzulänglichkeiten, Verzögerungen. Die meisten werden deswegen nicht gleich zu wütenden Pauschalkritikern der Politik und ihrer Institutionen. Aber sie verteidigen sie womöglich weniger engagiert als sonst. Sie widersprechen vielleicht nicht mehr, wenn im Büro, in der Familie oder im Internet wieder mal wer auf "die da oben" schimpft. Aber ohne solchen Widerspruch, das ist die langfristige Gefahr, kann Politikverachtung hegemonial werden. (Lenz Jacobson, ZEIT)

Jacobsens Perspektive finde ich eine sehr wertvolle. Die Spinner von den Querdenker-Demos sind ohnehin nicht gerade das stabilste demokratische Element. Aber wenn die Mitte der Gesellschaft nur noch Verachtung für die Politik übrig hat, wenn die Aussage "ich weiß nicht wen ich im Herbst wählen soll, sind eh alle gleich" unisono aus allen Richtungen zu hören ist, dann haben wir ein ernstes Problem. Und das hat sich die Politik kollektiv selbst zuzuschreiben, von den Ministerpräsident*innen über die Minister*innenriege bis hinauf ins Kanzleramt.

3) Hier gibt's was umsonst!

Eines lässt sich heute schon sagen: Die nächste Bundesregierung wird ein Geldproblem haben. [...] Damit ist klar: Die anstehende ökologische Transformation lässt sich nicht aus der Portokasse finanzieren. Die nächste Regierung wird eine strategische Entscheidung treffen müssen, wie sie mit diesen Investitionsnotwendigkeiten umgeht, zumal es ja nicht so ist, dass ansonsten nichts los wäre. Die Alterung der Gesellschaft, der Ausbau der Gesundheitsvorsorge im Zuge der Krise – all das wird den Haushalt in den kommenden Jahren belasten. Und zwar nicht zu knapp. Was also tun? Es spricht viel dafür, die historische Dimension des Klimawandels auch finanzpolitisch abzubilden. Das bedeutet: Wenn es um die Rettung des Planeten geht, dann gelten die üblichen Haushaltsregeln nicht. Kein Geldbetrag ist zu groß, um das Überleben der Menschheit zu sichern. Geld verliert als soziales Konstrukt schlicht seine Bedeutung, wenn es die Menschen nicht mehr gibt. Das wirft natürlich das Problem auf, dass die eine oder andere Regel für den Rest des Haushalts durchaus sinnvoll wäre. Es spricht viel dafür, öffentliche Investitionen durch Kredite zu finanzieren, weil Investitionen einen Ertrag abwerfen, der auch den künftigen Generationen zugutekommt. Die Abwendung der Klimaapokalypse wäre ein ziemlich stattlicher Ertrag, der jede Anstrengung rechtfertigt. Die Experten von McKinsey kommen interessanterweise sogar zu dem Ergebnis, dass sich die Klimaneutralität für ein Land wie Deutschland wirtschaftlich rechnen könnte: Unter dem Strich entstünden durch neue Technologien europaweit fünf Millionen zusätzliche Arbeitsplätze (elf Millionen Stellen würden geschaffen, sechs Millionen fallen weg) und die zusätzlichen Ausgaben würden durch höhere Steuereinnahmen in der Zukunft wettgemacht, so die Prognose. Man könne "net-zero emissions" zu "net-zero costs" erreichen, heißt es in der Studie. Ein wenig simpler formuliert: Der Kampf gegen den Klimawandel kostet uns nichts, zumindest wenn man einen der Sache angemessenen Kostenbegriff unterstellt. (Mark Schieritz, ZEIT)

Ich vertraue McKinseys Zahlen ja ungefähr so sehr wie die meisten Impfgegner*innen Christian Drosten, aber vielleicht überzeugt das ja den oder die eine oder andereN überzeugteN WirtschaftsliberaleN. Grundsätzlich haben wir eine ähnliche Argumentation ja bereits bezüglich der Schuldenbremse und dem grünen Wahlprogramm im letzten Vermischten besprochen. Ich bin ziemlich zuversichtlich, dass diese Fragestellungen mehr und mehr auf die politische Agenda drängen werden, und ebenso zuversichtlich, dass sie über kurz oder lang den seit nunmehr fast 50 Jahren unangefochtetenen wirtschaftsliberalen Konsensus brechen werden, der einfach überholt und am Ende seiner Kraft ist. Die Frage ist eher, wie lange das dauert und ob es rechtzeitig geschehen wird.

4) Portugals Wunder - deutsches Versagen

Premierminister Costa entschuldigte sich - und er reagierte: Es gab einen Lockdown, der den Namen verdient: keine Schule, keine Kita, kein Restaurant - dazu eine SMS an jeden im Land: "Bleibt zu Hause!" Nur wer unbedingt musste, durfte zur Arbeit, das Reisen zwischen Kommunen war untersagt, die Landgrenzen nach Spanien wurden geschlossen, am Wochenende flogen Helikopter über die Strände und kontrollierten die Ausgangssperre. Doch was am wichtigsten war: Die Menschen waren ausreichend erschrocken über die schlimme Lage - sie hielten sich an alle Maßnahmen, übererfüllten sie sogar. Auch, weil die Regierung die Bürger als Partner sah und ihnen nicht drohte, sondern mit ihnen zusammen die Zahlen senken wollte. [...] Genau deshalb hängt Deutschland seit November in einem halben "Lockdownchen", müssen Gastronomen, Händler, Hoteliers, Künstler längst um ihre Existenz bangen - und ein Ende ist nicht in Sicht. Dass Mitte April alles wieder aufgemacht wird - wer glaubt noch daran? Es ist ein Lockdown ohne Ende - und die Zahlen werden weiter steigen, weil mehr getestet wird, aber auch, weil die Bürger so müde sind. Portugal aber macht die Dinge weiter richtig: Die Bürger haben geliefert, und nun werden die Einschränkungen zurückgenommen: Festgelegte Öffnungsschritte im Zweiwochenrhythmus, bis 3. Mai werden auch alle Restaurants und Kultureinrichtungen sogar wieder innen öffnen dürfen. So hat jeder Bürger und jeder Unternehmer eine Perspektive, kann sich orientieren und durchhalten. Während hier noch immer nicht klar ist, wann dieser Alptraum endet. Mit Verweis auf eine Mutante, die sich in den Griff kriegen lässt - das kleine Portugal hat es bewiesen. (Alexander Oetker, NTV)

Die Kritik ist völlig berechtigt. Ich kann die Lage in Portugal nicht beurteilen, vielleicht haben irgendwelche Lesenden da mehr Ahnung und möchten in den Kommentaren Bezug nehmen. Aber die Endlosigkeit der Maßnahmen in Deutschland ist das zentrale Problem. Von meiner Warte aus ist der größte Kritikpunkt, dass nicht einfach einmal ein vernünftiger Lockdown kam, sondern immer dieser Wischi-Waschi-Blödsinn dazwischen; ich weiß aber, dass das diverse Leute hier anders sehen. Das soll gar nicht mein Thema sein, denn andere Ansätze (wie sie, korrigiert mich wenn ich falsch liege, ja unter anderem Jens und R.A. vertreten haben) hätten ja mental ungeachtet ihrer Wirksamkeit den gleichen Effekt gemacht, wenn man sie denn nur stringent verfolgt und kommuniziert hätte. Hat man aber nicht, stattdessen hat man das Schlechteste aus beiden Welten gewählt. Und entsprechend Murks bekommen. Ich wollte aus Markus Feldenkirches Kommentar "Multiples Politikversagen" eigentlich ein eigenes Fundstück machen, aber ich wiederholte mich nur und lass es euch daher zum Lesen da.

5) Die reichsten Amerikaner verstecken ein Fünftel ihrer Einkünfte

Mittwoch, 24. März 2021

Churchill regiert mit Biden in Koalition von Junger Union und Ampel und kümmert sich um Maskenbeschaffung - Vermischtes 24.03.2021

 

Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Sie werden mit einem Zitat aus dem Text angeteasert, das ich für meine folgenden Bemerkungen dazu für repräsentativ halte. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten.

1) Zum Regieren gezwungen

An dieser Stelle also zurück zur besagten Ampel-Option und der doppelten Zwangslage der Liberalen. In dem nicht ganz unwahrscheinlichen Szenario, dass nach der nächsten Wahl sowohl eine rechnerische Mehrheit für Schwarz-Grün als auch für eben jene Ampel bestünde, wäre die Lage für die FDP weniger komfortabel, als es gerade noch scheint. Denn würde sie sich abermals der Macht verweigern, liefe sie Gefahr, sich selbst auf unbestimmte Zeit die Regierungsfähigkeit abzusprechen. Wer die FDP bislang noch wählte, weil er darauf hoffte, dass sie die eigenen Interessen in der Exekutive vertritt, käme dann vermutlich schwer ins Grübeln. Andererseits: Würde die FDP mit der SPD und den Grünen eine Regierung bilden, liefe sie wiederum Gefahr, jenen rechtsmittigen Teil ihrer Wählerschaft zu verlieren, der gewiss nicht begeistert wäre, wenn der Eindruck entstünde, die FDP verhelfe zwei linken Parteien zu einer Mehrheit. Man kann sich im Übrigen fast sicher sein, dass Paul Ziemiak und Markus Blume ihre ganze Generalsekretärhaftigkeit darauf verwenden würden, diesen Umstand liebevoll herauszumeißeln, und aus der FDP einen, wie es dann vermutlich heißen würde, "Steigbügelhalter für eine Linksregierung" oder so ähnlich zu machen. Die SPD und die Grünen sollten ihrerseits diese Lage der FDP genau kennen. Denn beide brauchen die theoretische Möglichkeit einer Ampel-Regierung noch ein bisschen dringender als die FDP selbst. Die Grünen, damit sie sich gegen den linken Vorwurf wehren können, eine Koalition mit der Union sei für sie schon ausgemacht. Und die SPD, weil es für sie überhaupt die einzig realistische Machtoption ist. Und weil Koalitionsoptionsberichterstattung ohnehin ein Geschäft des gut gelaunten Konjunktivs ist, hier noch ein weiterer: Sollte im Bund tatsächlich einmal über eine Ampel verhandelt werden, käme es für SPD und Grüne ganz besonders darauf an, der FDP ihren eigenen Raum zuzugestehen. Als Kraft der ordnungspolitischen Vernunft, der maßvollen ökologischen Reform, des habituellen Jetzt-mal-halblang. Aus den realen, sagen wir, zehn Prozent der FDP müssten machtpolitische zwanzig Prozent werden, damit der Zwang zur Macht für die FDP stärker ist als die Sorge um einen Teil ihrer Wählerschaft. (Robert Pausch, ZEIT)

Eine Ampel ist eine attraktive Option, weil sie neue Pfade beschreitet und, vor allem, die CDU nach sechzehn Jahren in die wohlverdiente Opposition senden würde. Das aber sind alles Meta-Gründe. Die große Frage, die in allen Ampel-Debatten auftaucht, ist, warum um Gottes Willen diese drei Parteien zusammengehen sollten. Was ist ihr Projekt? Haben sie genügend Themen, die sie umsetzen könnten? Die Streitpunkte sind reichlich offensichtlich, und die Gefahren für die FDP, mit SPD und Grünen eine Koalition einzugehen, sind es auch. Auf der anderen Seite würde die FDP mehr Profilierungsraum und unter Umständen sogar Gestaltungsspielraum bekommen, als dies in einer klassischen schwarz-gelben Koalition der Fall wäre. Ich verstehe jedenfalls die Bauchschmerzen, die Lindner und der Rest der FDP-Führung mit dieser Koalitionsidee hat. Genauso wie übrigens auch die der Basis der anderen beiden potenziellen Partner, aber für SPD und Grüne gilt, dass beide die Chance sofort ergreifen würden.

Ich möchte zum Thema auch auf meinen Artikel zur Ampel als verpassten Chance hinweisen; die Grundsätze daraus gelten ja noch. Ich zitiere mich einfach mal selbst: Grundsätzlich hätte sich die Ampel wohl als ein sozialliberales Bündnis begreifen müssen: die FDP hätte ihr Profil als Partei von Rechtsstaatlichkeit und Bürgerrechten hervorgehoben und sich auf der anderen Seite als Korrektiv für die SPD und Grünen inszeniert (insbesondere was Energiewende und Agenda2010 anging), während SPD und Grüne ihrerseits die damalige Marktradikalität der FDP gezügelt hätten. Die Parteien hätten sich zudem, ähnlich dem Lindner-Wahlkampf 2017 und dem SPD-Wahlkampf 1998, hinter einem generellen Modernisierungsbegriff sammeln können, der durchaus das Internet und den Bildungsbereich hätte umfassen können. Eine Art großes „Deutschland zukunftsfähig machen“-Projekt, das den Status Quo auf dem Arbeitsmarkt unangetastet lässt.

2) Why can't Britain handle the truth about Winston Churchill?

Even before it took place, the discussion was repeatedly denounced in the tabloids and on social media as “idiotic”, a “character assassination” aimed at “trashing” the great man. Outraged letters to the college said this was academic freedom gone too far, and that the event should be cancelled. The speakers and I, all scholars and people of colour, were subjected to vicious hate mail, racist slurs and threats. We were accused of treason and slander. One correspondent warned that my name was being forwarded to the commanding officer of an RAF base near my home. The college is now under heavy pressure to stop doing these events. [...] It’s ironic. We’re told by government and media that “cancel culture” is an imposition of the academic left. Yet here it is in reality, the actual “cancel culture” that prevents a truthful engagement with British history. Churchill was an admired wartime leader who recognised the threat of Hitler in time and played a pivotal role in the allied victory. It should be possible to recognise this without glossing over his less benign side. [...] Even his contemporaries found his views on race shocking. In the context of Churchill’s hard line against providing famine relief to Bengal, the colonial secretary, Leo Amery, remarked: “On the subject of India, Winston is not quite sane … I didn’t see much difference between his outlook and Hitler’s.” Just because Hitler was a racist does not mean Churchill could not have been one. Britain entered the war, after all, because it faced an existential threat – and not primarily because it disagreed with Nazi ideology. Noting affinities between colonial and Nazi race-thinking, African and Asian leaders queried Churchill’s double standards in firmly rejecting self-determination for colonial subjects who were also fighting Hitler. (Priyamvada Gopal, The Guardian)

Wie bereits im letzten Vermischten angesprochen ist die britische Erinnerungskultur eine völlige Katastrophe. Eine überzogene Empire-Nostalgie, verbunden mit einer völligen Fantasieversion des Zweiten Weltkriegs, vermischt sich zu einem Mix, der Selbstzufriedenheit und Blindheit antreibt. Im Zentrum steht der vor allem in den letzten Jahren massiv angewachsene Personenkult um Winston Churchill, der inzwischen geradezu als Säulenheiliger verehrt wird. Es ist vergleichbar mit der albernen Überhöhung Ronald Reagans bei den Republicans, nur dass im Fall Churchills fast das ganze Land völlig besoffen von dieser Version zu sein scheint. Der bisherige peinliche Höhepunkt ist sicherlich die Selbstinzenierung Boris Johnsons als eine Art Westentaschen-Churchill. Die AfD kann noch so oft und laut "Schuldkult" schreien; die deutsche Erinnerungskultur ist bei all ihren Schwächen einfach den meisten anderen Ländern um Längen voraus.

3) Die Trophäen der Jungen Union

In mehreren Landesverbänden der JU berichten Frauen über Benachteiligungen, Vorurteile, ein antiquiertes Rollenverständnis und auch über sexuelle Belästigung. Man werde gefördert, „solange man keine Meinung hat und nicht sonderlich auffällt“, sagt eine JU-Frau aus Hessen. „Sobald man den Mund aufmacht, wird’s schwierig.“ Viele in der JU hätten „ein Problem mit allen Minderheiten, die nicht weiße Männer sind“, sagt eine weitere Frau aus Hessen. Da herrsche die Meinung: „Wenn die Mädels mal mitmachen wollen, geben wir denen mal ein Pöstchen.“ Doch seien weibliche Führungsleute in der JU meist „Schaufensterfrauen“. Eine eigene Meinung zu haben werde eigentlich nicht erwartet. Wenn man als Frau aufsteigen wolle, sei meist nicht das Können entscheidend, sondern ob man mit den Jungs abends ein Bier trinken gehe. Da sei man dann gezwungen, „Körbe“ zu verteilen – was sich dann politisch bemerkbar mache. [...] Mehrere noch in der JU aktive Frauen aus Hessen beklagen Sexismus in der Organisation. Es heiße, Frauen seien nicht für Führungsaufgaben geboren. Es gebe JU-Veranstaltungen, da rieten sich die Frauen gegenseitig, keinen kurzen Rock zu tragen, „sonst denkt jeder, wir sind Freiwild“. Es herrsche bei einigen in der JU die Meinung, Frauen dürfe man „nicht ins Gesicht schlagen, aber zur Züchtigung auf den Po“, sagt eine der Frauen. [...] Auch Frauen aus anderen Landesverbänden schildern, dass sie die Stimmung als belastend empfunden haben. „Auf den Veranstaltungen der Jungen Union waren einfach nur Männer. Wenn man als Frau einigermaßen normal aussah, wurde man angegafft oder immer wieder angemacht”, erinnert sich eine Frau. „Viele schienen die Veranstaltungen wie den Deutschlandtag der JU als eine Art Singlebörse zu begreifen“, sagt sie. „Ein Nein wurde nicht akzeptiert.“ Mehrere Frauen schildern anhaltende anzügliche Bemerkungen von Funktionären, die erst ein Ende nahmen, als ein anderer Mann intervenierte. (Julian Steib/Timo Steppart, FAZ)

Auch hier der Verweis auf das letzte Vermischte und die Debatte über die Rolle von Institutionen und den ihnen eigenen Kulturen. Wie man in den Wald hineinschreit, so kommt es heraus; man erntet, was man sät. Das gilt für Organisationen wie die JU auch, ob sie nun stromlinienförmige Korruption in Form eines Philipp Amthor produzieren oder massiven Sexismus reproduzieren. Es ist eben alles eine Frage der Anreize. Wenn eine bestimmte Unternehmensstruktur, corporate identity oder wie auch immer man das nennen will (ernsthaft, gibt es für solche institutionellen Normen ein griffiges Wort?) vorherrscht, werden sich die jeweiligen Mitglieder danach richten. Fische stinken immer vom Kopf her, völlig egal, um welche Art von Institution es geht.

4) Bureaucrats are terrible. The alternatives are worse.

For much of human history, societies have been unapologetically organized to benefit those in positions of political power. Practically speaking, this meant that patronage was the rule. Whether you and your family personally benefitted from the distribution of social and economic goods — land, work, trade, and so forth — was a function of what party, faction, or class you belonged to, and whether its members controlled the political levers of power. [...] The reason that clientelism stands out to us is that the liberal democracies of the West have worked very hard over the last century or so to replace this way of organizing society with an alternative based on bureaucratic norms. Bureaucrats allocate and distribute benefits and goods based not on who you know, what class or party you belong to, or which official you're willing to bribe, but based instead on officially sanctioned standards of fairness and merit. And the bureaucratic adherence to these standards is assured by insulating those who work in them, as much as possible, from political influence. (That's how we get "unelected bureaucrats.") All things being equal, this is a huge improvement over the clientelistic baseline. It institutionalizes the rule of law, regularizes what government does, makes it more likely that citizens will get treated equally, and minimizes the ability of those who win elections from using their power to benefit themselves and their supporters at the expense of other members of the political community. [...] Somewhere between the extremes of bureaucratic sclerosis and the free action of unbound public officials lies the ever-elusive mean of good government. (Ryan Cooper, The Week)

Man sollte hier wie so häufig die ideologische Scheuklappen beiseite lassen und die Vor- und Nachteile von Bürokraten und Bürokratie erkennen. Es ist ja auch kein auf den Staat beschränktes Phänomen; hier haben diese Leute nur wegen der hoheitlichen Aufgaben eine Sonderstellung. Aber jedes Unternehmen hat seine eigene Bürokratie. Um nur ein Beispiel zu nennen: die internen Verwaltungsabläufe bei Bosch stehen an Komplexität, absurden Regeln und dem Beharren auf die Einhaltung zigtausender kleiner Vorschriften keinem Bürger*innenamt etwas nach. Bürokratie hat die nützliche Funktion, Abläufe zu vereinheitlichen und berechenbar zu machen. In einer Demokratie ist das essenziell; ohne Bürokratie keine Demokratie. Aber auch Unternehmen kommen ohne nicht aus. Bürokratie hat aber genau wegen dieser Vorteile natürlich den eklatanten Nachteil, in diesem einmal festgelegten System gefangen zu sein und keine Handlungsoptionen (oder -vorstellungen) außerhalb dieses Systems zu besitzen. Deswegen müssen Bürokratien immer wieder reformiert werden, was sehr aufwändig und schwierig ist und wegen der Beharrungskräfte dieser Bürokratien oft auch scheitert. Es ist quasi ein beständiger Zyklus von Erneuerung (wenn alles chaotisch ist und nichts richtig läuft) und Sklerose (wenn alles schon viel zu lange im festgefahrenen Muster läuft). Die Zeit zwischen diesen beiden Punkten entfaltet das volle Potenzial einer Bürokratie, und gute Führungskräfte müssen erkennen, welche Zeit gerade herrscht und welche Anforderungen das mit sich bringt.

5) "Niemand muss sich rechtfertigen, dass er rassistisch denkt, sondern nur, wenn er nichts daran ändert" (Interview mit Aladdin el-Mafaalani)

Zündfunk: In Ihrem Buch „Das Integrationsparadox“ hatten Sie die These, dass wir deshalb so viel streiten, weil es schon so gut funktioniert. Das ist jetzt drei Jahre her. Ist die Integration heute noch besser geworden, weil wir noch mehr streiten?

Aladin El-Mafaalani: Ich glaube, wir sehen die Dinge jetzt deutlicher. Man sieht auch, dass meine These, die 2018 noch sowas von provokant war, heute fast schon Mainstream, fast schon langweilig ist. Und das liegt daran, dass es in einem Tempo sichtbar wurde, das ich selber nicht gesehen habe. Es liegt daran, dass Minderheiten heute ihre Interessen artikulieren können, wie sie es früher niemals hinbekommen hätten. Und dass sie das heute in einer Weise hinbekommen, wie ich das erst in fünf oder zehn Jahren vermutet hätte. Das was passiert, ist das, was passieren muss, nämlich, dass das Konfliktpotenzial steigt, weil mehr Interessen in den Diskurs eingespeist werden und weil Dinge in Frage gestellt werden. Am Anfang geht es darum mitzumachen. Und heute können die Leute schon sagen: Hey, ihr seid privilegiert. Eure Deutungshoheit stellen wir in Frage. Und das führt dazu, dass auch die anderen Widerstände leisten.

Überrascht Sie die Vehemenz, mit der das im Moment passiert?

Nein. Die Vehemenz ist ja im Übrigen noch moderat. Im Vergleich zu anderen Ländern haben wir eigentlich noch einen anständigen Diskurs. Einer, der ziemlich regelhaft zu sein scheint. [...]

Und wie soll man dann damit umgehen? Von heute auf morgen lässt sich die Sache ja nicht mehr ändern.

Naja, man muss es akzeptieren, dass Rassismus da ist. Das haben alle empirischen Studien gezeigt. Das sollte man also nicht so schrecklich finden, es ist kein Versehen und nicht irgendwas anderes. Wenn man das begreift, dann kann man gelassen sein. Ich würde sagen, das Prinzip, womit wir am besten weiterkommen heißt: Niemand muss sich dafür rechtfertigen, dass er rassistisch denkt, sondern nur, wenn er ab morgen nichts daran ändert. Wer Ahnung hat, aus welcher Gesellschaft wir kommen, der kann doch eigentlich gar nicht mehr durchdrehen. Vor allem, wenn man ein bisschen informiert ist über die Geschichte. [...]

Wie könnten wir besser diskutieren und unsere Streitkultur auch verbessern?

Das wird sehr lange dauern. Ich glaube, es gibt keine Streitkultur, die man aus dem Bücherregal holt und sich durchliest. Das muss im Diskurs entwickelt werden. (Bärbel Wossagk, DLF)

Die auch in der Überschrift hervorgehobene These habe ich ja in meinem Artikel "Rassismus ist wie Brokkoli" auch schon prominent vertreten. Vorwürfe, jemand sei rassistisch, führen wegen der Binarität des Vorwurfs nicht sonderlich weiter. Was man braucht ist die Erkenntnis, dass einzelne Akte es sein können, die Einsicht, dass sie es sind und dass man sie begangen hat, und die selbstkritische Auseinandersetzung damit. Auch wenn Aktivist*innen gerne mal nervig sind, erfüllen sie doch die zentrale Rolle, diese Prozesse anstoßen zu können und neue Perspektiven zu bieten.

Gleiches gilt für den Begriff des Privilegs. Niemand muss sich dafür entschuldigen, in einer privilegierten Lage zu sein, aber das darf man durchaus anerkennen und entsprechende Schlüsse für die Bewertung der eigenen Position einerseits und der Position anderer andererseits ziehen. Konkret: Vielleicht bin ich in meiner privilegierten Lage nicht (nur), weil ich der geilste Typ auf Gottes weitem Erdboden bin, und vielleicht sind andere nicht nur in einer schlechten Lage, weil sie halt irgendwie Versager*innen sind. Aber dazu muss man eben manchmal aus der eigenen Komfortzone treten.

6) "Dumm und dämlich verdient"

Die Verteilaktion der FFP2-Masken über Apotheken sollte, so verkündete es Spahn, den besonders Gefährdeten über die Weihnachtstage etwas Erleichterung verschaffen. Im Januar und Februar gab es in den Apotheken gegen Vorlage von Coupons weitere Gratis-Masken - eine Aktion, die den Steuerzahler am Ende mehr als zwei Milliarden Euro kosten dürfte. Dabei hatten sich Spahns Beamte frühzeitig gegen die Verteilaktion ausgesprochen. Das geht aus internen Unterlagen hervor, die NDR, WDR und „Süddeutsche Zeitung“ (SZ) mit Hilfe des Informationsfreiheitsgesetzes erlangten. Sie zeigen, dass Spahn die Aktion gegen das Votum der Beamten persönlich durchsetzte. Bereits Anfang November warnte das Fachreferat demnach den Minister vor "gravierenden Finanzwirkungen" und wies daraufhin, dass viele Anspruchsberechtigte "durchaus in der Lage sind",  die Masken "selber zu finanzieren". Acht weitere Referate zeichneten das klare Votum ausweislich der Unterlagen mit: "Verzicht auf die Verordnungsfähigkeit von FFP2-Schutzmasken". Doch mit grünem Stift notierte Spahn handschriftlich auf die Vorlage: "Nein, bitte um kurzfristige Erarbeitung eines ÄA". Das Kürzel steht für "Änderungsantrag". Und das Wort "kurzfristig" hatte Spahn extra unterstrichen. [...] Stattdessen legten die Beamten einen komplizierten Weg fest: Die Abgabe von 15 Masken pro Person wurde in drei Phasen unterteilt. Im Dezember konnte jeder und jede über 60 Jahren drei Masken in der Apotheke gratis abholen. Der Bund ging davon aus, dass 27,3 Millionen Menschen in Deutschland anspruchsberechtigt seien: 491,4 Millionen Euro, die der Bund somit einfach an den Apothekerverband überwies, der das Geld wiederum an die Apotheken verteilte. Egal wie viele Masken sie abgaben, sie erhielten einen festen Anteil aus Bundesmitteln: Im Schnitt gab es mehr als 25.000 Euro für jede Apotheke in Deutschland. (Lena Kampf/Markus Grill/Moritz Börner/Arnd Henze, Tagesschau)

In dieser Episode finden sich wie unter dem Brennglas so viele Probleme der deutschen Pandemiepolitik. Das Gesundheitsministerium operiert entgegen jeglichem Expertenrat auf rein politischen Maximen, die aber wiederum dann in die Behördenlogik gegossen werden. Aus der eigentlich ja sinnvollen Einschätzung, dass Masken im Eigenkauf recht teuer sind und es wünschenswert wäre, dass große Teile der Bevölkerung geregelten Zugang haben und die Masken regelmäßig wechseln, wurde dann eine Blanko-Auslieferung auf der einen Seite - viele Betroffene könnten sie ja wirklich selbst finanzieren - die dann aber ihrerseits wieder in die bürokratische Monstrosität (siehe Fundstück 5) gegossen wurde, wie sie nur ein deutsches Ministerium produzieren kann, anstatt dass man sich eine Scheibe aus den USA abeschneidet und einfach zum gleichen Preis die Masken an alle in der Post verschickt. Schade, dass die FDP nicht an der Regierung ist, da wäre wenigstens ein müder Apotherkerwitz dabei herausgekommen.

7) Warum sich die Grünen bewusst dem politischen Gegner ausliefern

Das Programm lebt damit von Voraussetzungen, die es nicht selbst schaffen kann. Das ist mutig, weil sich die Grünen damit dem politischen Gegner ausliefern. Weil es bedeutet, in den Wahlkampf zu gehen mit einem Programm, von dem man selbst nach erfolgreicher Koalitionsverhandlung für große Teile noch nicht versprechen kann, dass sie umsetzbar wären. [...] Die Parteispitze setzt darauf, dass die Schuldenbremse selbst unter Ökonominnen und Ökonomen keinen guten Ruf mehr hat, und darauf, dass die anderen Parteien sich schon darauf einlassen, wenn die Argumente nur gut genug sind und sie auch profitieren, etwa als Verantwortliche in den Kommunen, die investieren müssen. [...] Damit manövrieren sich die Grünen in eine Zwickmühle: Gehen sie auf Risiko, können sie scheitern. Wenn sie auf Sicherheit gehen, wenn sie nur das Machbare versuchen, sind sie aber erst recht gescheitert. Die Analyse lautet, dass es trotzdem nötig ist. Die Wette, dass es sich lohnt. [...] Vielleicht sind die Grünen nur viel besser als andere Parteien darin, eine Geschichte zu erzählen, von sich als Gestalterinnen einer neuen Epoche. Dadurch, dass sie mit einer Reform der Schuldenbremse kalkulieren, hinterlegen sie aber ein ordentliches Pfand. Sie gehen in Risikovorleistung. Genug, um vorläufig davon auszugehen, dass das Versprechen mehr sein könnte als nur Polit-PR. (Jonas Schaible, SpiegelOnline)

Jonas' Wahlprogramm-Analysen sind allesamt in ihrer Gänze lesenswert; hier sind nur Auszüge. Ich finde seine Fragestellung interessant, weil ich das in diesem Framing bisher ehrlich gesagt noch nicht gelesen habe. Man könnte es ja schließlich auch einfach als eine ohnehin unerfüllbare, aber die Seele der Parteibasis streichelnde Forderung im Wahlprogramm abtun, so was wie "Deutsch ins Grundgesetz" bei der CDU. Fordert man gerne, wird nie kommen.

Nur ist das eben hier kein identitätspolitisches Versatzstück (Veggieday, ich hör dich trapsen) sondern steht als Frage im Kern jeder zukünftigen Finanzpolitik. Wie in Fundstück 1 beschrieben sehe ich keine Möglichkeit, dass die FDP sich einer Abschaffung der Schuldenbremse öffnen würde. Aber auf deren Stimmen kommt es auch nicht wirklich an. Letztlich führt hier kein Weg an der Union vorbei. Warum die das machen sollte, ist allerdings nicht wirklich klar.

Die Schuldenbremse erfüllt damit genau die Funktion, vor der ihre Gegner*innen immer gewarnt haben: durch ihren Grundgesetzrang bindet sie alle zukünftigen Regierungen auf eine bestimmte politische Richtung fest. Das ist demokratietheoretisch ohnehin bedenklich, aber angesichts der großen Herausforderungen, vor denen wir stehen, ist es auch sachlich ein riesiges Problem. Es ist gut, dass die Grünen das im Wahlprogramm so explizit ansprechen. Mir ist ehrlich gesagt nicht bekannt, wie sich die SPD da aktuell positioniert, aber ich würde mal nicht annehmen, dass die einer Änderung im Wege stünden, wenn aus welchen Gründen auch immer CDU und Grüne gemeinsame Sache machten.

8) Biden Needs to Fight His Own Culture War

It is worth remembering that President Franklin Delano Roosevelt, who came to power in 1933 with a small and unflattering reputation, reshaped, during his 12 years in power, not just the politics and economy of the U.S. but its culture. FDR succeeded because he saw the birth of a spacious moral imagination as vital to his task — and recognized that his own rhetorical gifts, though impressive, were not strong enough to achieve it. [...] It was not until the 1980s that the tremendous spell of the New Deal was broken by another concerted ideological and cultural effort, this time by a Republican party under Ronald Reagan committed to redistributing upwards. [...] In 1996, Clinton campaigned on a promise to “end welfare as we know it.” The New Republic, once the American flagbearer of progressive liberalism, supported him with a cover depicting the welfare queen of Reagan’s dog whistle: a black woman smoking while holding a baby. It is this landscape fundamentally altered — ravaged, some might say — by nearly four decades of unchallenged right-wing hegemony that Biden seeks to reshape with an FDR-like vision of government as the protector of ordinary citizens. [...] And the examples of his hegemonic predecessors — Reagan as well as FDR — confirm that Biden can win the battle for the soul of America only by waging a long culture war on his own terms. (Pankaj Mishra, Bloomberg)

Ich stimme dem Artikel inhaltlich völlig zu, aber der Begriff des "culture war" scheint mir hier ziemlich deplatziert. Es geht ja eigentlich nur um vernünftiges Framing. Dass die Progressiven darin so schlecht sind, ist hausgemacht. Die Konservativen sind um Längen besser darin, ihre politischen Präferenzen zu kommunizieren. Ich habe über den Erfolg Reagans und Thatchers ja selbst geschrieben. Sie waren für Jahrzehnte prägend; ihr Erfolg ebenso total wie der des New-Deal-Konsens' zuvor.

Bezüglich Bidens progressiver Meriten mahnt Kevin Drum übrigens völlig zurecht zur Vorsicht und dämpft die Euphorie. Ich denke, Biden profitiert gerade vom Vergleich mit Trump einerseits (bei dem man echt nur gewinnen kann) und von einer deutlichen Überperformance der sehr geringen Erwartungen an ihn andererseits. Er erlebt gerade einen honeymoon. Die Herausforderungen stehen vor ihm.

9) Biden oder Bismarck

Nach der Wahl Donald Trumps 2016 erklärten einige Medien Angela Merkel vorschnell zur Führerin der westlichen Welt. Tatsächlich war sie bestenfalls eine Reichsverweserin. Merkel genoss ihre moralische Überlegenheit gegenüber Trump (und Putin), doch, wie in anderen Politikfeldern, beschränkte sie sich auf die Verwaltung des Status quo. Es ist nicht bekannt, dass die Kanzlerin sich für meinungsstarke Russlandexperten interessiert. In Deutschland wird das Amt des Russlandbeauftragten nach Parteienproporz ausgewählt und die Ostpolitik des Auswärtigen Amtes beruht nach wie vor auf den Prämissen von 1970. Aus Trägheit und Gewohnheit überließ Berlin dem Kreml in den vergangenen Jahren die Möglichkeit, seine Politik der Provokation und des Regelbruchs gegenüber Deutschland und der Europäischen Union ungehindert fortzusetzen. Auch im Ukrainekonflikt engagierte sich Berlin in den vergangenen Jahren nicht, die Protestbewegung in Belarus erfuhr nur eine lauwarme Unterstützung. Wir sollten uns eingestehen: Kein sicherheitspolitisches Problem ist in den vergangenen Jahren zusammen mit Moskau gelöst worden und es ist an der Zeit zu konstatieren, dass der Kreml auch häufig gar kein Interesse daran hat. Der demütigende Besuch des EU-Außenbeauftragten Josep Borrell in Moskau hat gezeigt, in welche Sackgasse eine Ostpolitik im Gestus der Unterwerfung führt. [...] Berlin hat sich in seiner Russlandpolitik verrannt. Tonangebend bleibt die Bundeskanzlerin mit ihrer Bismarckschen Prämisse, gute Beziehungen zu Moskau seien Deutschlands primäres Interesse. Alles andere wird diesem Ziel untergeordnet. Für die kleineren Verbündeten in Osteuropa, für Polen oder die Ukraine, hat sie nur wenig übrig. [...] So könnte die transatlantische Partnerschaft wiederbelebt werden. Deutschlands Politik bekäme mit amerikanischer Rückendeckung wieder mehr Gewicht. Dazu müssten wir aber bereit sein, mit dem Merkelschen Dogma eines Primats Russlands zu brechen. (Jan C. Behrends, Salonkolumnisten)

Deutschland war noch nie wirklich ein transatlantischer Partner, nicht in dem Sinne, wie es Großbritannien ist. Deutschland geriert sich außenpolitisch eher wie Frankreich, nur ohne die Konsequenz und die Mittel, diese Ansprüche auch wirklich durchzusetzen. Sich unter den Fittichen der USA zu verstecken ist nicht dasselbe wie eine transatlantische Partnerschaft.

Davon abgesehen bin ich, wie hinlänglich bekannt, völlig auf Behrends' Seite. Ich halte die Idee einer Schaukelpolitik zwischen Ost und West für ein absolutes Relikt. Es hat Deutschland nie gut getan, und seine machtpolitische Basis ist schon lange dahin. Aber die SPD und mit ihr ein Großteil der deutschen Bevölkerung können von dieser Illusion einfach nicht lassen.

10) "Seid vorbereitet!" (Interview mit Olivier Blanchard)

ZEIT ONLINE: Was passiert dann?

Blanchard: Wenn alles gut läuft, dann kann die Wirtschaft diese Gelder absorbieren. Die Unternehmen können mehr Leute einstellen und mehr Waren produzieren. Die Arbeitslosigkeit sinkt auf ein sehr niedriges Niveau und allen geht es besser. Ein solches erfreuliches Szenario ist nicht völlig ausgeschlossen. Wenn es so kommt, dann wäre ich der Erste, der sich darüber freut, und ich würde einräumen, dass ich mir unnötig Sorgen gemacht habe.

ZEIT ONLINE: Sie glauben aber nicht, dass es so kommt?

Blanchard: Meine Befürchtung ist, dass die Wirtschaft zu heiß läuft: Die Arbeitslosigkeit geht so stark zurück, dass es nicht mehr genug Arbeitskräfte gibt, die bereit sind, eine Stelle anzunehmen. Dann steigen die Löhne, die Unternehmen müssen die Preise ihrer Waren anheben, um die höheren Lohnkosten aufzufangen, und im Ergebnis zieht die Inflation an. Dann muss die Notenbank Federal Reserve mit höheren Zinsen reagieren. [...]

ZEIT ONLINE: In den vergangenen Jahren haben Ökonomen oft vor einer Rückkehr der Inflation gewarnt. Dazu ist es aber nie gekommen. Warum sollte das jetzt anders sein?

Blanchard: Wir haben ein solches Ausmaß an Überhitzung einfach noch nicht gesehen. Der Zusammenhang zwischen Inflationsrate und Arbeitslosenquote – die sogenannte Phillipskurve – ist historisch betrachtet nicht sehr stabil. Ich befasse mich seit sehr vielen Jahren mit diesem Thema. Immer, wenn man das Gefühl hatte, man hat ihn erfasst, passiert irgendetwas und man muss wieder von vorn anfangen. [...]

ZEIT ONLINE: Viele Ökonomen sagen: Wir haben aus der Geschichte gelernt, wenn die Inflationsrate ansteigt, dann können wir sie wieder unter Kontrolle bringen.

Blanchard: Wenn man sich Umfragen anschaut, dann sieht man: Es sind vor allem Ältere, die einen Anstieg der Inflation fürchten. Leute aus meiner Generation. Wir erinnern uns an die Zeit der hohen Inflationsraten. Wir erinnern uns daran, dass der Anstieg der Teuerung in den Siebzigerjahren zwar unter Kontrolle gebracht werden konnte, aber der Preis dafür eine schwere Rezession war, ausgelöst durch die straffere Geldpolitik. Wenn man heute unter 50 ist und in einem Industrieland lebt, hat man so gut wie keine Erfahrung mit hohen Inflationsraten gemacht. Das kann schon dazu führen, dass man die Risiken unterschätzt. (Marcus Gatzke/Mark Schieritz, ZEIT)

Ich finde dieses Interview absolut faszinierend. Es zeigt zum einen, wie unglaublich offen die Volkswirtschaft als Disziplin eigentlich ist - offen in dem Sinne, als dass offen ist, welche Prämissen, die von den Volkswirtschaftler*innen gerne im Duktus höchster Sicherheit vorgetragen werden, eigentlich richtig sind. Zum anderen enthüllt es aber auch ein sehr problematisches Mindset einiger dieser Entscheider.

Blanchard verweist auf seine Erfahrungen mit der Inflation der 1970er Jahre. Wie er völlig zurecht sagt, haben Menschen, die das Renteneintrittsalter noch nicht erreicht haben, diese Erfahrungen nicht. Das liegt eben daran, dass wir seither keine mehr hatten. Nur warnen gerade deutsche Volkswirtschaftler*innen unter dem (traumatischen) Eindruck dieser Erfahrungen permanent vor einer Inflation, die aber nie kommt.

Es mag natürlich sein, dass sie - dieses Mal wirklich! - direkt um die Ecke ist, in welchem Falle Blanchard wie ein sehr weiser Mahner erscheinen würde. Ich halte es aber mindestens für genauso wahrscheinlich, dass die Prämissen, auf denen Blanchard und viele andere ihr komplettes Weltbild aufgebaut und ihre Theorien modelliert haben, einfach nicht mehr richtig sind. Mein Eindruck ist, dass Blanchard (pars pro toto) einer jener sprichwörtlichen Generäle ist, die den letzten Krieg kämpfen und die für die gegenwärtigen Herausforderungen überhaupt keinen Blick haben.

11) What is Europe's problem with the AstraZeneca jab?

This kind of ass-covering can happen in less cynical ways, too: once one government has decided to pause the vaccine rollout – whether for good reasons or bad – other governments have an incentive to do the same. Making a bad decision as part of a pack is politically much safer than risking being the lone standout on a good decision. When in doubt, herd. All this is exacerbated by the high rates of vaccine hesitancy and outright anti-vaccine sentiment in many European countries. Once several countries had suspended AstraZeneca, Macron may have felt in France, with almost 50% vaccine hesitancy, he had no choice but to follow suit. Critics, though, might note that by doing so Macron has validated those rules and will make his eventual task of vaccinating the public even harder still. Pander today, pay tomorrow. A final bit of context for this is Europe’s – and especially the EU’s – supposed hyper-caution on technology and science. The bloc has a long history of framing inaction as sensible prudence, of confusing ass-covering with the precautionary principle. To take just one example – and to leave the thorny issue of genetically-modified foods out of it – the hypothetical dangers of nuclear power, especially since the Fukushima disaster ten years ago this month, were used to keep coal power plants online in Germany – indirectly contributing to thousands of air pollution deaths. Europe has a long record of prioritising hypothetical dangers over real ones. Given that history, letting people die of coronavirus to ‘save’ them from vaccines their own regulators say are safe, is grimly unsurprising. And die they will: these delays will have a measurable cost in lives. European countries are battling yet another wave of coronavirus re-emerging, and many countries are having to introduce stricter lockdown measures yet again – an inevitable result of reopening with an unvaccinated population. (James Ball, The New European)

Ich mag der rundum empfehlenswerten Kritik Balls (der Artikel ist noch viel länger und ausführlicher) vollumfänglich zustimmen. Sie ist auch deswegen relevant, wiel sowohl der New European als auch Ball überzeugte Pro-Europäer sind; wenn einer wie er zu einer solchen Generalkritik an der EU ansetzt, ist das noch einmal etwas anderes, als wenn es, sagen wir, in den Wirtschaftsseiten der Welt passiert.

Genauso wie beim deutschen Föderalismus erleben wir im Augenblick in aller Klarheit die Nachteile des institutionellen Arrangements, das zu Kompromiss und Konsens zwingt und stets auf den kleinsten gemeinsamen Nenner setzt. In Deutschland im Kleinen wie in Europa im Großen sorgt es dafür, dass Trippelschritte durchgeführt und vor allem aufschiebende, beinahe verwaltungstechnische Schritte genommen werden. Mit all den furchtbaren Konsequenzen, die das hat.