Donnerstag, 25. Dezember 2014

PEGIDA im Substantiv

Wer oder was ist Pegida? Die Frage des grammatischen Substantivs beschäftigt Nachrichtenredaktionen in ganz Deutschland und mittlerweile auch darüber hinaus. Ist es die Mitte der Gesellschaft, die hier protestiert? Ist es eine Versammlung von "Nazis in Nadelstreifen", wie der Innenminister von Nordrhein-Westfalen meint? Ist es eine Gruppierung von Spinnern? Die Demonstranten enziehen sich den üblichen Kategorisierungen von Protestmärschen. Weder ist die Antifa mit den Autonomen und dem Schwarzen Block unterwegs, noch sind des die Neonazis und die ihnen verbundenen Gruppen mit Glatzen. Schwarz-Weiß-Rot und Springerstiefeln. Zusätzlich unscharf wird das Bild durch die Zusammenarbeit der Pegida-Organisatoren mit den Leuten hinter den eher linken "Friedensmahnwachen" und ähnlichen Protestformen, die so überhaupt nichts ins rechte Schema zu passen scheinen - und gekrönt von den schwarz-rot-goldenen Flaggen und den Rufen von "Wir sind das Volk!", die schon bei den Anti-Hartz-IV-Demos von 2004 merkwürdig deplatziert klangen. Wer oder was ist also Pegida?

Das Pegida-Gemisch ist eine sehr potente Mischung. Ihr Organisator hat aus dem Fehlschlag der HoGeSa-Demo gelernt, die in der ordnungsliebenden deutschen Bevölkerung angesichts der offensiv zur Schau gestellten Gewaltbereitschaft und dem Polizei-Großaufgebot kaum positiv gegenüber der Scharade eingestellt sein konnte. Erfolgreich erprobt wurden hier aber bereits die Codes, die für Pegida konstitutiv sein sollten: so war der Protest nicht gegen Ausländer, nicht gegen Muslime, er war gegen "Salafisten" - was auch immer das dann im Einzelnen konkret heißen mag. Bei der Pegida richtet sich der Protest dementsprechend gegen "Islamisten" und "Wirtschaftsflüchtlinge" - ebenfalls bestenfalls unscharfe, auf reine Sicht nicht überprüfbare Kategorien. Man sollte dies aber nicht als eine reine Fassade verkennen, hinter der sich ein übelwollender Rassist versteckt. Zwar mögen die neuen Code-Begriffe für manche Rassisten eine willkommene Deckung sein um sagen zu können, was sie schon immer gesagt haben, nur eben jetzt unter Zustimmung des Bürgertums. Das Gefühl, dass "die Flüchtlinge" eigentlich keine sind und stattdessen nur deutsche Sozialleistungen abgreifen wollen, ist sehr weit verbreitet und hat in den letzten Jahren (seit der großen Kontroverse um die Visa-Politik der Grünen anfangs des Jahrhunderts) schlafend gelegen. Dieses Gefühl ist auch keines, dem durch Fakten oder den Verweis darauf, dass die Leute ja gar kein Asyl bekommen, beizukommen. Solcher legalistischer Unsinn wird wenig helfen, denn dass aktuell niemand nach Syrien zurückgeschickt wird und dass eine Überprüfung der Motive kaum möglich ist ist ja gerade das zutreffende Argument von Pegida.

Auf einer realen Gefahrenlage basiert das Gefühl dagegen nicht, wie bereits unzählige Male festgestellt wurde. Gerade in Ostdeutschland, der Hochburg der Proteste, ist die Zahl der Muslime verschwindend gering. Flüchtlinge dürfte es noch viel weniger geben. Es geht auch nicht um irgendwelche konkreten Flüchtlinge, die jetzt gerade die Festung Europa berennen - die afrikanischen Flüchtlinge, die ständig im Mittelmeer ertrinken oder irgendwann in den Flüchtlingsunterkünften von Lampedusa sitzen, spielen eine auffällig geringe Rolle in den Protesten. Diese setzen "Flüchtlinge" viel mehr mit denjenigen Migranten gleich, die man schon immer nicht im Stadtbild sehen wollte. Auch gibt es aktuell keine besonders hohen oder steigenden Asylbewerberzahlen, wie dies in den 1990er Jahren der Fall war, bevor CDU und SPD von den damaligen Protesten getrieben, die Sorge und Nöte der Bürger ernst nehmend, das deutsche Asylrecht effektiv abschafften.

Der Erfolg Pegidas beruht ja aber gerade auf dem Fakt, dass die Proteste gegen Flüchtlinge und Ausländer nur einen wenn auch wichtigen Teil der Botschaft ausmachen. Pegida ist, was ihre Positionen anbelangt, ein großer Gemischtwarenladen, in dem eigentlich jeder etwas finden kann. Denn die Ausländerfeindlichkeit Pegidas ist nur ein Symptom, kein zentrales Element dieser Bewegung. Sie wird geeint von etwas anderem: dem diffusen und stets vorhandenen Gefühl, abgehängt zu sein vom Mehrheitskonsens in Deutschland, ihm nicht mehr anzugehören und den Kontakt zum eigenen Land zu verlieren. Die Furcht vor der "Islamisierung", so albern sie auch ist, hat ihre Wurzeln in einer wesentlich schwieriger zu formulierenden Furcht vor einer ganzen Reihe von Faktoren, die die moderne BRD bestimmen: Individualisierung, Wertewandel und wirtschaftlicher Wandel.

Die ungeheure Individualisierung, die ihren Katalysator vor allem im Internet findet, aber auch stark durch den wirtschaftlichen Wandel befeuert wird. Immer mehr und mehr kollektive Tätigkeiten werden zugunsten individueller Tagesplanung aufgegeben. Hobbys zerfasern, Interessensgebiete werden spezieller. Freundschaften bestehen über längere Distanzen und sind weniger ortsgebunden als früher. Das Individuum wird viel mehr in den Vordergrund gerückt und muss sich weniger gegenüber der Gesellschaft rechtfertigen. Dies führt zwangsläufig zur Auflösung bisheriger Tabus. Besonders hervor sticht hier die männliche Homosexualität, deren Akzeptanz im Elitenkonsens der neuen BRD die traditionelle Wertewelt der Demonstranten zutiefst erschüttert. Dies geht mit einem gleichzeitigen Angriff auf bisherige traditionelle Geschlechterrollen einher. Toxisch wird diese Mischung dadurch, dass jeder, der sich diesen neuen Werten verweigert - wie übrigens auch dem Lippenbekenntnis zur Integrationsgesellschaft - in der Ecke der "Bösen" steht. Man ist dann Rassist, reaktionär oder patriarchalisch.

Die letzten 20 Jahre haben einen gewaltigen gesellschaftlichen Wandel gesehen. Unter Rot-Grün wurde eine Tradition, die die Menschheit effektiv mindestens die letzten Jahrhunderte pflegte - die Xenophobie - plötzlich in die Ecke des schlechten Geschmacks gestellt. Wer sich nicht veränderte, war plötzlich Nazi - nur wer sich änderte, wer seine Grundeinstellungen revidierte (oder zumindest so tat), konnte weiter am Elitenkonsens teilhaben, der von Politik, Journalismus und Bildungssystem aus definiert wird. Unter der Großen Koalition geriet dann das traditionelle Familienbild unter Beschuss. Das Elterngeld zementierte endgültig die Zielvorstellung einer nicht nur gleichberechtigten, sondern gleich gelebten Partnerschaft zwischen Mann und Frau. Dieser Schwenk der CDU in Richtung Moderne ist für ihr traditionelles Klientel genauso bedeutsam wie für die SPD-Wählerschaft Hartz-IV war, nur hat sie es bisher - auch wegen der klassischen konservativen Beharrungskräfte - besser verkraftet. Wie die Montagsdemos 2004 aber die SPD für ihre Abkehr von den klassischen Werten der gewerkschaftlich organisierten Produktionsindustrie angriffen, so greift nun Pegida die CDU für ihre Abkehr von konservativen Kernbeständen an, wenngleich mit einem deutlich weniger deutlichen Feindbild.

Die AfD ist genauso die Verkörperung dieses Unwohlseins, wie es die LINKE für die von Hartz-IV und der neuen Arbeitswelt überrollten Gesellschaftsschichten 2005 war. Sie verspricht einen Erhalt einer idealisierten "früheren" Welt, in der Werte wie Fleiß und Ordnung mit ökonomischem und familiären Erfolg korrespondieren, so wie die LINKE eine Rückkehr zum gut bezahlten 8-Stunden-Tag "beim Daimler" verspricht, der mit jährlichen Lohnsteigerungen und solider Rente einhergeht. Beide Parteien wie Demonstrationsbewegungen nutzen dabei auch die anderen Strömungen aus, die im jeweiligen ideologischen Bereich zu finden sind - Basisdemokratie und Pazifismus bei der LINKEn, klassische Rollenverteilungen und Ordoliberalismus bei der AfD. Man muss sich nur die Forderungen der Pegida-Bewegung anschauen um die Parallelen zu erkennen, die hier formuliert werden. Das heißt natürlich nicht, dass jeder Pegida-Demonstrant automatisch die AfD wählt. Die Demonstranten gegen Hartz-IV wanderten auch nicht massenweise zur LINKEn. Eine solche parlamentarische Kanalisierung des Protests wäre ja noch demokratisch gesund.

Was bei der Pegida neu ist ist das grundsätzliche Misstrauen in die Protagonisten des Elitenkonsens. Man glaubt der Mainstream-Presse nicht (und weicht stattdessen auf ideologisch einseitig fixierte Medien wie RT Deutschland aus), man vertraut der Politik nicht (nicht dass Politikerverachtung etwas Neues wäre, aber die grundsätzliche Ablehnung des Systems selbst ist etwas Neues) und mann fühlt sich generell nicht ernst genommen. Die Versuche der CDU, mit doppelten Böden und Strohmännern etwas von der Pegida-Wut zu kanalisieren werden ähnlich erfolglos bleiben wie die Versuche der SPD nach 2005, mit Initiativen à la "ALG I für 18 Monate statt für 12" das "abgehängte Prekariat" wieder für sich zu gewinnen. Die Frage ist, ob überhaupt irgendeine Partei in der Lage sein wird, die Pegida-Demonstranten politisch zu vertreten. Nach Lage der Dinge kann diese Lücke einzig die AfD füllen.

Wenn das nicht passiert, wird Pegida enden. Die Bewegung wird an Momentum verlieren, die Demonstrationen kleiner und kleiner, bis irgendwann nur noch 30 oder 40 Leute mit ein oder zwei Transparenten vor der Semperoper herumstehen. Wer wissen will, wie das aussieht, braucht nur auf die Überreste der S21-Demos in Stuttgart schauen. Zurück bleibt das Gefühl der Machtlosigkeit, das durch die Geschehnisse bestätigt wurde. Denn das perfide ist ja, dass die Demonstranten Recht haben. Sie sind abgehängt vom Konsens einer Elite, sie fallen aus der deutschen Mehrheitsgesellschaft heraus, sie verstehen ihr eigenes Land tatsächlich nicht mehr, und sie haben weder in Politik noch Wirtschaft noch Presse irgendwelche Vertreter übrig. Das ist kein gesunder Zustand für eine Demokratie.

Mittwoch, 17. Dezember 2014

Was Atari und iPhone gemeinsam haben

Voraussagen sind schwierig, besonders, wenn sie die Zukunft betreffen. Das klassische Bonmot kann immer herausgeholt werden, wenn man sich im Nachhinein die Voraussagen anschaut, die alle nicht eingetroffen sind (und das sind die meisten). Kürzlich geisterte im Netz ein Artikel der Welt herum, in dem sich die Autoren über die Voraussage der Stiftung Warentest aus dem Jahre 1984 lustig machen, dass dem Heimcomputer keine große Zukunft beschieden sei, da sich keine vernünftigen Anwendungsmöglichkeiten finden ließen. Ho, ho, ho, die Trottel. Wenn man aber genau hinschaut, hatte die Stiftung Warentest jedoch mit ihrer Einschätzung völlig Recht. Um das zu verstehen, müssen wir ihre Prognose genauer anschauen.

Problematisch empfanden die Tester, die "verzweifelt nach Anwendungsmöglichkeiten suchten", nämlich nicht die Möglichkeiten des Geräts per se, sondern seine aktuellen Grenzen. Die schrottigen Eingabegeräte (effektiv unbrauchbare und völlig unergonomische Tastaturen), die grausame Grafikqualität, die teilweise das Lesen unmöglich machte, das Nicht-Vorhandensein von Speicherplatz und vieles andere Mankos machten die damaligen Heimcomputer (nicht zu verwechseln mit den als Arbeitsgeräte gedachten Personal Computern) zu ziemlich teuren technischen Spielzeugen, die damals eine Modeerscheinung wie das erste iPhone 2007 waren. Auch dem wurde keine Zukunft vorausgesagt, weil es letztlich für seinen Preis viel zu wenig Anwendungsmöglichkeiten bot (man denke daran, dass erst das iPhone 2 Apps besaß). 
Ebenfalls auffällig war, dass über die Hälfte der Käufer angab, gerne an den Geräten spielen zu wollen, was für rund 70% der stolzen Besitzer denn auch der Haupteinsatzzweck der Geräte wurde. Nicht gerade das Kompetenzfeld, das die Hersteller mit ihrer Betonung der Büro- und Verwaltungsoptionen immer anpriesen und das, wie die Stiftung Warentest korrekt vermerkte, angesichts der geringen Grafikfähigkeiten der Rechner auch eher ungenügend ausgefüllt wurde. 
Beide Voraussagen waren daher für ihr jeweiliges Produkt korrekt - sofern diese Mankos nicht ausgeräumt wurden, gab es für die breite Mehrheitsbevölkerung eigentlich keinen ernsthaften Grund, sich die überteuerte Hardware zuzulegen. Den Durchbruch auf den Massenmarkt schafften die Geräte daher auch erst, als eben diese Mankos ausgeräumt waren. Dies gelang für die Heimcomputer vor allem durch einfach zu bedienende Betriebssysteme und Programme, allen voran Microsofts DOS und die Office-Anwendungen dazu.
Man würde aber die Stiftung Warentest auffordern, ihr Mandat ziemlich zu missachten, wenn man sie aufforderte, einen Blick in die Glaskugel abzugeben und mögliche zukünftige Produkte einzuschätzen. Was sie bewerteten war das Produkt, das ihnen zur Verfügung stand - und das waren schwer defizitäre, völlig überteuerte Heimcomputer ohne vernünftige Anwendungsmöglichkeiten.

Dienstag, 16. Dezember 2014

Am Tor der Finsternis

Ein Kommentar von BILD-Journalist Julian Reichelt hat jüngst die Gemüter erregt:
"Andererseits denken wir an die unbequeme Frage: Was wäre wenn? Was wäre, wenn es bei einer Entführung um das Leben eines Kindes ginge – wie im Fall Metzler? Was wäre, wenn ein Terroranschlag vielleicht verhindert werden könnte? Was wäre, wenn man durch Folter Osama bin Laden auf die Spur gekommen ist? Die Antwort lautet: Es gibt darauf keine Antwort. Es ist ein moralisches Dilemma. Deswegen fürchten wir die Frage, blenden sie aus. Aber genau deswegen beschäftigt diese Frage auch schon immer Rechtsgelehrte und Philosophen."
Reichelts moralisches Dilemma beschäftigt Regierungen schon seit langer Zeit: was ist, wenn wir eine Chance haben, Menschen zu retten, indem wir, nur dieses eine Mal, anderen Menschen ihre Grund- und Menschenrechte entziehen? Weder Reichelt noch sonstwer geht dabei davon aus, dass dies Antwort auf diese Frage legal mit einer carte blanche für Folter beantwortet werden kann. Die Rechtslage ist klar, auch in Deutschland spätestens seit dem BVerfG-Urteil zum Abschuss von Passagierflugzeugen: ein Abwägen von Menschenrechten kann es nicht geben, Punkt aus Ende. Natürlich sieht die Lage immer anders aus, wenn man der arme Tropf ist, der die Entscheidung treffen muss. Der steckt dann nämlich in dem von Reichelt angesprochene "moralischen Dilemma", das der BILD-Mann aus gutem Recht nicht als legales Dilemma bezeichnet, weswegen er seinen Artikel entsprechend abschließt: "Der Rechtsstaat darf niemals zur Folter ermutigen. Wenn er das tut, stößt er die Tore der Finsternis auf." Haben die USA nun also das Tor zur Finsternis aufgestoßen, oder steht der Westen in angstvoller Anspannung zitternd vor der noch verschlossenen Türe?

"Wenn du lange in den Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein", schrieb Friedrich Nietzsche in "Jenseits von Gut und Böse", was vermutlich der Ort ist, an dem sich Dick Cheney aktuell immer noch beheimatet glaubt. In der Panik nach 9/11 - und diese Panik war ein reales Phänomen, falls man das inzwischen vergessen haben sollte - war man der Überzeugung, an einem Abgrund zu stehen und dass jeglicher Schritt weg davon unternommen werden musste und dass jedes Mittel hierzu zwingend gerechtfertigt war. In Dick Cheneys Interview-Äußerungen zeigt sich diese Überzeugung von jeder durch Erfahrung oder Altersweisheit ungetrübter Uneinsichtigkeit: die USA können per definitionem nicht foltern. Das können nur die Bösen. Für Cheney ist das was geschah schlicht keine Folter.

Damit ist er zugegebenermaßen in einer Außenseiter-Position. Die meisten anderen Verteidiger der Folter rechtfertigen diese hauptsächlich mit dem Abwägen des moralischen Dilemmas oder den unklaren Befehls- und Kompetenzstrukturen, die eine klare Abwägung von Richtig und Falsch fast unmöglich gemacht hätten. Tatsächlich haben die Memos aus dem Justizministerium, die die Rechtmäßigkeit der Folter belegen sollten (und die mittlerweile samt und sonders zurückgezogen wurden) dem Ganzen eine Aura der Legalität und Legitimation verliehen, die für den einfachen CIA-Contractor, so es ihn überhaupt interessierte, kaum zu durchschauen gewesen sein dürfte: die Bürokratisierung von organisierter Menschenrechtsverletzung und ihr legaler Deckmantel dürfte für mehr als einen Beobachter ein Echo aus totalitären Systemen in sich tragen, inklusive der "Wir-gegen-Sie"-Mentalität und der Vorstellung, im Kampf für die gute Sache heilige der Zweck die Mittel.

Genau diese Einstellung aber heißt, jenes Tor zur Finsternis aufzustoßen, von dem Reichelt sprach. Es ist faszinierend wie sehr die Abscheu vor der Bush-Regierung jener Tage bereits wieder in Vergessenheit geraten ist, aber tatsächlich, wie uns auch Krugman erinnert, galten Bush und Cheney schon zu ihrer Zeit progressiven Geistern schlicht als Inkarnation des Bösen und als ein Irrweg in die Dunkelheit. Abgesehen von den USA selbst, wo eine Beschäftigung mit den Geschehnissen und ihre Aufarbeitung durch die innenpolitischen Grabenkämpfe völlig verzerrt wird, gibt es in der Öffentlichkeit auch kaum Zweifel an dem, was geschehen ist: die USA starrten lange in den Abgrund, und er starrte zurück. Sie tranken tief aus der Finsternis, die ihnen aus dem Tor entgegen kam. In der Zeit zwischen 2002 und 2009 waren sie ein rogue state, ein Teil jener "Achse des Bösen", zu deren Abwehr sie das Böse selbst beschworen. Debattiert wird eigentlich nur noch die Frage, ob unter Obama das Tor geschlossen wurde oder ob die Drohnenschläge es weit offenhalten.

Relevant wird daher für die weitere Bewertung der Folter-Ära vor allem sein, wie die USA selbst damit umgehen. Ihr Sündenfall wurde von jedem außer ihnen selbst bereits anerkannt. Das moralische Kapital, das sie als "Leader of the Free World" einst für sich in Anspruch nehmen konnten, ist praktisch verspielt, weggeworfen von einer wildgewordenen Neocon-Bande in einer Ära der Konfusion und Furcht. Aber die Veröffentlichung des hunderte von Seiten umfassenden Reports, der vermutlich bei weitem nicht alle Fälle behandelt, muss bereits als ein Zeichen gesehen werden. Bereits dies war hart umkämpft: mit dem Argument der nationalen Sicherheit wurde versucht, seine Veröffentlichung zu verhindern, und es zeigt sich, dass bei weitem nicht alle Konservativen den tiefen moralischen Fall ihres Landes und ihrer Partei ignorieren:


Aktuell steht die Frage an, ob es eine strafrechtliche Verfolgung der Täter geben wird. Der Senatsreport selbst ist letztlich eine Ansammlung von hunderten Seiten Beweismaterial, und die Täter haben ihre Verwicklung sogar selbst zugegeben. Rein rechtlich scheint der Fall klar zu sein: die internationalen Konventionen zur Folter verlangen eine Anklage der Täter. Gleichzeitig ist eine tatsächliche Anklage äußerst unwahrscheinlich. Die meisten nicht-westlichen Staaten werden sich eher zurückhalten, denn wer will schon für die Folter im eigenen Land unangenehme Präzedenzfälle setzen? Die meisten westlichen Staaten werden sich zurückhalten, weil ein direkter Konflikt mit den USA nicht nur sinnlos, sondern auch extrem schädlich ist. Und die USA selbst werden sich ebenfalls zurückhalten, weil eine Anklagewelle für die Vorgängerregierung durch die Nachfolgerregierung eine gigantische Gefahr für die Demokratie ist. So einleuchtend es auf dem Papier scheinen mag, man muss sich nur mit der Geschichte der Römischen Republik und Cäsars Aufstieg zur Macht beschäftigen (oder, wer es gerne näher hat, mit Erdogans Methoden in der Türkei) um zu sehen, wohin die Praxis der juristischen Verfolgung früheren Regierungshandelns führen kann.
Um vorschneller Kritik vorzubeugen, dass solche Argumente im Angesicht von Menschenrechtsverletzungen nichts verloren haben, sei noch einmal darauf hingewiesen, dass das alles nicht im luftleeren Raum stattfindet. Taten können ungewollte Konsequenzen entwickeln, die sich als deutlich verheerender herausstellen als der Schaden, den man eigentlich abwenden wollte. Man muss nur Dick Cheney fragen. Die Idee, man könne mit einigen begrenzten Fällen von "enhanced interrogation" (es geht nichts um Euphemismen, wenn man Menschenrechtsverletzungen bürokratisiert) Schaden vom Land abwenden, kommt jetzt zurück und erweist sich als ungeheuer schädlich. Die Idee, man könne mit jegliche politische Realitäten ignorierender, idealismusgetriebener Empörung den Geist zurück in die Flasche stecken, könnte sich noch als viel üblerer Rohrkrepierer erweisen. Oder glaubt jemand ernsthaft, die Destabilisierung der USA von außen (durch Angriffe ihrer Verbündeten) und innen (durch eine Radikalisierung des politischen Systems) würde künftigen Menschenrechtsverletzungen vorbeugen? In einer geradezu gespenstischen Parallelität hat die Science-Fiction-Serie "Battlestar Galactica", die ich weiterhin uneingeschränkt empfehlen kann, diese Fragestellung bereits 2004 aufgegriffen: was passiert, wenn wir im Kreuzzug für unsere Ideale zu weit gehen und die Realität aus den Augen verlieren?


Letztlich werden sich die USA vor allem an der Aufarbeitung und ihren weiteren Taten messen lassen müssen und nicht an der Frage, ob sie die Täter verfolgen. Deutschland ist auch nicht das Land, das es heute ist, weil es die Auschwitz-Prozesse geführt hat, sondern weil man seither sehr bewusst versucht hat, die Fehler der Vergangenheit zu vermeiden und es künftig besser zu machen. Es ist die Stärke des Westens nicht so sehr, dass er seine Täter in Schauprozessen aburteilt, sondern dass er sich seinen dunklen Momenten stellen kann. Oder glaubt jemand, die Debatte, wie sie aktuell in und außerhalb der USA geführt wird, sei in Russland oder China vorstellbar, oder im Iran? Dort wären vielleicht irgendwelche Sündenböcke abgeurteilt worden, um damit Land und Gesellschaft reinzuwaschen. Dies kann nicht der Weg sein, den wir beschreiten, und er wird es nicht sein. Was wir von den USA erwarten müssen ist daher weniger, Bush und Cheney auf die Anlagebank zu setzen, sondern vielmehr, dass sie sich zu dem begangenen Unrecht bekennen und Schritte unternehmen, dieses künftig zu unterbinden. Nur so wird es möglich sein, das Tor zur Finsternis zu schließen und den Blick endlich vom Abgrund abzuwenden.

Montag, 1. Dezember 2014

Das Internet frisst unsere Kinder!!!11elf!!!!

Cyberbullying über Facebook. Mobbing über Whatsapp. Gehackte Nackbilder, gepostet auf Twitter. Beleidigende Kommentare unter Instagramm-Selfies. Zarte Kinderwünsche, in Google-Algorithmen verwandelt und für einen Judaslohn der Wirtschaft verkauft. Verwaiste My-Space-Profile. Explodierende Kosten für das mobile Internet auf dem Handy des Kindes. Ein peinliches YouTube-Video, das permanent repostet wird. Völliges Verlernen der Fähigkeit, stillzusitzen. Kinder, die beim Familientreffen wie Besessene auf die Bildschirme starren. Ein Tag Handyverbot schlimmer als drei Wochen Hausarrest. Die Liste ließe sich wahrscheinlich endlos fortsetzen. Das Netz ist der Bahnhof Zoo des 21. Jahrhunderts. Wenn man seine Kinder nur in die Nähe lässt, werden sie verrohen, ihre sozialen Fertigkeiten verlieren und zu affektgesteuerten Konsummaschinen werden. Die Ängste sind real, sie treiben Eltern um und befeuern zahllose Kolumnen in dank Zeitungssterben nicht mehr gar so zahllosen Feuilletons.

Die Oswald-Spengler'sche Untergangsstimmung setzt aber an der falschen Stelle an. Berechtigte Ängste werden mit unzureichender Ursachenforschung vermengt, man gibt ihnen eine gute Portion Vorurteile und einen gehörigen Schuss Nostalgie bei und kommt dann bei Ideen wie einer FSK-18-Beschränkung für Facebook oder Prepaid-Karten statt Flatrates bei Smartphones heraus. In Hamburg haben sie jetzt dem Projekt der Schule 2.0 den Stecker gezogen aus Furcht, dass die WLAN-Strahlung diselbene Kinder unklaren Gesundheitsrisiken aussetzt, die Smartphones in der Tasche herumtragen, die ständig nach offenen WLANs fahnden und Signale von den Mobilfunktürmen beziehen. Neo-Ludditentum als Ausweis der Furcht vor einer Entwicklung, die längst jeden als "zu alt" zurücklässt, der die 30 überschritten hat. Oder so.

Dabei haben wir es durchaus mit realen Problemen zu tun. Jede Schulklasse hat dieser Tage ihre eigene Whatsapp-Gruppe (Facebook scheint da bereits aus der Mode zu sein). Was in diesen Gruppen geschrieben wird, lässt wegen mangelhafter Syntax und Rechtschreibung nicht nur dem Deutschlehrer die Haare zu Berge stehen, sondern auch den Eltern, die zufällig einen Blick darauf werfen können. Wo dem früheren Opfer von Mobbings durch Klassenkameraden immerhin der schlechte Trost blieb, nach Schulschluss bis zum nächsten Morgen Ruhe zu haben, breitet sich der Terror jetzt 24/7 über die Welt und erfasst dabei Freundeskreise und Peergroups von deren Existenz es nicht einmal vorher wusste. Fragt mal das Star-Wars-Kid.

Was mir immer völlig unklar bleibt ist aber, wie man die Verantwortung so einseitig auf die Technik schieben kann und die eigentlichen Gründe dafür einfach beiseite schiebt. Das Problem ist nicht Whatsapp, das Problem ist, dass die Kinder sich mobben. Die vorhandene Technik verstärkt diese Effekte noch einmal, aber sie schafft sie nicht. Es wird daher auch nichts helfen, ein FSK-16-Schild auf Whatsapp zu kleben, was es als Feigenblatt der Firma ja bereits gibt; das Problem ist, dass Kinder nicht gerade zu den vernünftigsten und verantwortungsvollsten Geschöpfen gehören. Die Verantwortung für den richtigen Gebrauch moderner Medien und sozialer Netzwerke liegt halt nicht nur bei den unter 13jährigen, die sich entgegen der AGB bei Facebook anmelden (die eine Altersgrenze von mindestens 13 Jahren vorsehen), sondern auch bei den Eltern. Und da hapert es gewaltig.

So ist es nicht ungewöhnlich, dass auf Elternabenden völlig schockiert darauf reagiert wird, dass in den Whatsapp-Gruppen gemobbt wird. Auf einer solchen Veranstaltung der zehnten Klasse fragte letzthin ein Elternteil völlig verwirrt, was denn Whatsapp sei. Das ist das Äquivalent dazu, Kinder draußen spielen zu lassen ohne zu wissen, was Straßen und Autos sind und den Kindern vorher beizubringen, dass man da nicht einfach rüberrennt. Genau das passiert aber mit den Medien. Ohne das geringste Verständnis für das Funktionieren der Technik oder die möglichen Apps bekommen Zehnjährige voll funktionsfähige Smartphones in die Hand. Mit derselben Strategie, die sich in den letzten Jahrzehnten als so wirksam gegen Teenieschwangerschaften erwiesen hat, wird dann als einziges Abwehrmittel Enthalsamkeit gegenüber dem Bösen gepredigt. Noch ist es nicht zu spät, vernünftige Strategien im Umgang mit modernen Medien und Kindern zu entwickeln. Der Vogel Strauß ist als Vorbild dafür aber gänzlich ungeeignet.

Freitag, 28. November 2014

Die russische Gretchenfrage

"Sag, wie hältst du es mit Russland?" ist derzeit eine Art politischer Gretchenfrage, die ein jeder deutscher Politiker zur allgemeinen Zufriedenheit beantworten muss. Akzeptiert wird dabei alles, was für ein Adenauer-Reenactment notwendig ist. Worauf läuft das raus? Die Russen verstehen nur die Sprache der Gewalt. Wir müssen Rückgrat zeigen. Man darf Putin nicht vertrauen. Es geht um die Werte des Westens und den Schutz der Freiheit. Nur dass Adenauer im Ernstfall kein Problem hatte, mit Chruschtschow zu trinken, um einen diplomatischen Engpass aufzulösen. Wenn man bedenkt, mit wie viel Häme die der deutsche Journalismus immer den "Cowboy im Weißen Haus" George W. Bush und generell die Machismo-Attitüde der Amerikaner in der Außenpolitik verspottete, verwundert dieser plötzliche Anfall von Russenfresserei durchaus. Zielführend ist er außerdem auch nicht gerade.

Das soll übrigens nicht heißen, dass ich plötzlich auf die Seite der "Putin-Versteher" übergewandert bin. Ich glaube es ist relativ eindeutig, dass Putin in der Ukraine keine Absichten verfolgt, die der Kiewer Souveränität zuträglich sind. Auch die Furcht Polens und der baltischen Staaten ist nicht gerade unbegründet. Das ist etwas, das gerne aus dem Blickfeld gerät, gerade in den Kreisen, die sich dieser Tage aus traditioneller Feindschaft zum "Westen" auf der Seite Putins wiederfinden: dass Polen und die baltischen Staaten wirklich, wirklich nicht zu Russland oder der russischen Einflusssphäre gehören wollen, und dass sie sich genau dort finden, wenn sie keine Sicherheitsgarantien von anderer Seite aus erhalten. Ein Blick auf die Karte reicht, und die russischen Minderheiten, die in den baltischen Staaten leben, dürften nach der Krim-Annexion nicht gerade für Beruhigung in Riga, Vilnius und Tallin sorgen, egal ob sie seperatistische Absichten verfolgen oder nicht.

Und nur, damit da keine Missverständnisse aufkommen: diese Staaten wollen echt definitiv nicht in die Umarmung des russischen Bären zurück. Genau da werden sie aber unweigerlich landen, wenn sie keine Sicherheitsgarantien des Westens erhalten (was auch erklärt, warum Polen problemlos CIA-Foltergefängnisse, Raketenabwehrschirme "gegen den Iran" und Irakkriege duldet und mitmacht oder die baltischen Staaten den Euro so bereitwillig übernehmen, trotz der wirtschaftlichen Probleme, die daran hängen). Das ist natürlich für den Westen kein Grund, die auch zu geben, besonders, wenn es dem Frieden entgegensteht. Solche Sentimentalität erlaubt man sich in der Außenpolitik sonst auch nicht, und die Idee des Versprechens, die NATO nicht über die Elbe auszuweiten, hatte ja damals schon ihren Grund. Angesichts der Verletztheit der Russen scheinen sie die Garantien des Westens sogar geglaubt zu haben. Vermutlich hat er das in den 1990er Jahren sogar selbst.

Nun gab es in der Zeit der NATO-Expansion einige Stimmen, die vor derselben gewarnt haben. Nicht aus moralischen Gründen, nebenbei bemerkt, sondern mit dem handfesten Argument, dass die damalige Schwäche Russlands nicht ewig anhalten werde. Ein Wiedererstarken Russlands musste einfach irgendwann erfolgen, auch wenn seine Form und der Zeitpunkt unklar war. Das Ergebnis ist jetzt ein Antagonismus gegenüber Russland, das den Sicherheitskordon, der ihm nach dem Zweiten Weltkrieg so wichtig war, verloren hat, was in der russischen Diplomatie sicherlich Urängste weckt. Daher ja auch die aggressive Reaktion in der Ukraine. Die Frage ist nun, wie man auf diese geänderte Situation reagiert. Russland hat zum zweiten Mal über Intervention und Destabilisierung eine NATO-Expansion an seinen Grenzen verhindert (wie 2008 in Georgien), und aktuell scheint niemand mehr wirklich Lust auf eine Wiederholung zu haben. Der Tonfall ist defensiver geworden; es geht jetzt um das "Eindämmen der Expansionslust" Moskaus. Die Wahrnehmung scheint zu sein, dass Russland morgen im Baltikum einmarschieren würde. Mir ist allerdings ehrlich gesagt unklar, ob das eine deutsche Phantasmagorie ist oder ob diese Furcht dort aktuell geteilt wird.

So oder so gibt es eigentlich nur eine Aktion, welche die NATO unternehmen kann, falls sie nicht die anderen beiden Optionen lieber mag (Nichtstun und diplomatische Initivativen), die beide definitiv ihre Vorzüge haben. Und das ist die Stationierung von Tripwire-Troops im Baltikum. Von diesen casus belli auf zwei Beinen gibt es bereits einige wenige, es wäre allerdings durchaus vorstellbar, dass die NATO eine Sicherheitstruppe von einigen tausend Mann aus allen Mitgliedsstaaten dort oben stationiert. Immer vorausgesetzt natürlich, dass man das Baltikum tatsächlich militärisch stützen möchte. Die NATO jedenfalls ist gerade in einer dummen Situation, denn was auch immer im Baltikum passiert wird sofort als Testfall für das Bündnis interpretiert werden und setzt, wnen man nicht seinen Bestand aufs Spiel setzen will, harsche Reaktionen voraus. Dies macht die Lage aktuell auch so explosiv und liegt im Herzen des diplomatischen Versagens des gesamten Krisenverlaufs.

Ich muss ehrlich sagen, ich bin völlig darin überfragt, ob das eine gute Idee wäre. Auf der einen Seite befriedigt es als Zurschaustellung militärischer Stärke innenpolitisch die Falken und dürfte die Balten beruhigen. Truppen ohne Abzeichen, die sich mit NATO-Soldaten Gefechte liefern, sind schließlich eine ganz andere Kategorie als in der Ukraine. Auf der anderen Seite wäre ein solcher Zug nicht gerade, was man deeskalierend nennt - woran natürlich die Falken auch keinerlei Interesse haben. Tripwire-Troops haben eine lange Erfolgsgeschichte in Korea, wo sie seit 1953 helfen, unkluge Aktionen Nordkoreas abzuschrecken. Russland ist aber nicht Nordkorea, und Putin ist nicht Kim Il-Sung, Kim Jong Il oder Kim Jong-un.

Montag, 10. November 2014

Kein Mauerfall in den Köpfen

Ich sage immer gerne scherzhaft, dass einen bei dem Nationalcharakter der Deutschen nichts zu wundern braucht, denn alle unsere wichtigen Ereignisse liegen im Herbst, wenn es draußen graut, stürmt und regnet. Was kann aus so einem Wetter schon Gutes kommen? Aber Spaß beiseite, dieses Jahr zeigt sich in den Geschehnissen um den "Gedenktag" des 9. November wieder einmal eine Leerstelle in der BRD auf: ihr fehlt es einfach an einem echten Gründungsmythos, der für irgendetwas steht. Das Feiern des Wirtschaftswunders, das halt auch schlecht auf einen Feiertag eingedampft werden kann, ist nur so halbwegs geeignet. Klar, als fleißig sieht sich der Deutsche gerne, aber Wurst, VW Käfer und Nierentisch als Identifikationsmerkmale herzunehmen ist vielleicht etwas viel verlangt. Einen deutschen Sturm auf die Bastille gibt es halt nicht, und kitischige Mauerfall-Feiern ändern daran wenig. Die BRD hat immer noch ein DDR-Trauma.

Letztlich lebt Deutschland vom Gefühl her immer noch irgendwie in den 1980ern, als man eine kleine, aber aufstrebende Wirtschaftsnation in Europa war. Man ignorierte die NS-Vergangenheit und machte sich daran, das deutsche Wesen in Maschinen und Autos neu zu entdecken. Immer dabei war die Negativfolie "drüben", also der DDR, gegen die man sich immer vergleichen und gut fühlen konnte. Das wurde zwar in der DDR umgekehrt auch immer wieder versucht, gelang aber nur selten. Der schnelle und überraschend widerstandsfreie Zusammenbruch des Ostblocks zwischen 1989 und 1991 wurde von der BRD irgendwie nie richtig verarbeitet. Wie anders ist es zu erklären, dass wir es heute als wichtigste Herausforderung sehen, vor der SED zu warnen? Die Partei ist seit 25 Jahren nur noch ein Schatten ihrer selbst, wo überhaupt noch Kontinuitäten bestehen.

Trotzdem haben wir einen Bundespräsidenten, dessen wichtigstes Anliegen ein Freiheitsbegriff ist, der direkt aus dem Kalten Krieg stammt und sich hauptsächlich darin erschöpft, nicht die DDR zu sein. Und bei einer Gedenkfeier zur nationalen Einheit applaudieren 92% der Anwesenden einem anderen Relikt jener Epoche bei der Ausgrenzung der verbliebenen 8%, anstatt die darauf zu verpflichten, sich ebenfalls in den allgemeinen Konsens hineinzuintegrieren. Schaut her, was wir geschafft haben: die Erben jener Unterdrücker sitzen heute als demokratisch gewählte Abgeordnete in einem gesamtdeutschen Parlament. Es gab keine Gulags, keine erzwungenen Exile, keine Konfiszierungen und keine Morde. So friedlich wurde selten eine Diktatur beseitigt und integriert. Aber alles, was den Leuten eingefallen ist ist es, ein gigantisches Reenactment von 1989 aufzustellen, wie es gefühlt richtig ist: so 8% Bösewichter ("Drachenbrut") und 92% Helden ("Drachentöter"). Im Bundestag findet das Spektakel einer verkitschten Erinnerung seinen Niederschlag, inklusive Hinweis darauf, dass bei Wahlen ja manchmal auch ein Hitler rauskommt, was in dem Zusammenhang zwar nichts zur Sache tut und faktisch ohnehin falsch ist, aber das interessiert zu diesem Zeitpunkt ohnehin niemanden mehr.

Wie Frank Lübberding bereits in seiner vortrefflichen Kolumne erinnert hat, beklagte Frank Schirrmacher bereits 2009 den Rosamunde-Pilcher-Kitsch, der inzwischen den Mauerfall umgibt. Es ist ohnehin merkwürdig, wie leicht es den genuin westlichen Deutschen gefallen ist, den Mauerfall für sich einzunehmen. Obwohl es sich um eine rein ostdeutsche Angelegenheit gehandelt hat reicht für den Rest des Landes irgendwie das Gefühl eines Vulgär-Hegelianismus: irgendwie war man auf der Seite der Geschichte, und dafür kann man sich ja gut fühlen. Aber genau das ist ja der Punkt: es fehlt der BRD immer noch dieser eine Tag, an dem sie sich selbst feiern und sich ihrer selbst positiv vergewissern kann. Der Tag der Deutschen Einheit ist ein Formalakt, auf ironische Weise als deutscher Feiertag auch wieder angemessen, aber nichts, was einen irgendwie begeistern könnten oder der für mehr steht als die Wiedervereinigung, die nun halt auch schon 25 Jahre her ist. Dass Gerhard Schröder seinerzeit ernsthaft vorschlagen konnte, ihn als wirtschaftsfördernde Maßnahme einfach immer auf den ersten Sonntag im Oktober zu legen zeigt seinen Stellenwert.

Aber auch der 9. November taugt nicht so richtig, nicht nur, wie die FAZ feststellt, wegen all der anderen 9. November, sondern auch deswegen, weil der Mauerfall eben vor allem ein negatives Ereignis ist: man wird etwas los, aber man hat deswegen nichts gewonnen. Den Bewohnern der blühenden Landschaften muss das niemand erklären, den alten Bundesländern scheinbar schon. An Norbert Lammert und denen, die seinem Coup zujubelten, wohl ebenfalls. Die Ereignisse, die am 9. November und 3. Oktober gefeiert werden, sind einmalige Ereignisse, die mittlerweile vergangen sind. Aus ihnen sind keine bleibenden Werte oder Einstellungen hervorgegangen, egal wie oft Gauck von der Freiheit schwadroniert. Der Sturm auf die Bastille ist mittlerweile 225 Jahre her, aber die Franzosen feiern neben dem Ereignis auch stets die Entstehung des Bürgers, des cityoen, und seiner Freiheitsrechte. Dasselbe gilt für die Amerikaner, deren Unabhängigkeitserklärungsunterzeichnung bereits 248 Jahre her ist. Unser gerade 25 Jahre altes Ereignis aber hat keinerlei weitere Bedeutung, und die peinlich-bemühten Versuche es mit einer zu füllen scheitern bisher kläglich, wohl auch weil sie von Leuten unternommen werden, in deren Köpfen die Mauer immer noch steht. Dort oben hat es noch keinen Mauerfall gegeben, auf keiner der beiden Seiten.

Samstag, 8. November 2014

Wolf Biermann und das Smartphone

Bekanntlich hat Wolf Biermann im Bundestag eine Rede gehalten, in der er die LINKE angriff und als glücklicherweise überwundene Reste bezeichnete. Er erinnerte außerdem noch einmal an das Unrecht und die repressiven Maßnahmen in der DDR. Bekanntlich bespitzelte die Stasi zehntausenden von offiziellen und vor allem inoffiziellen Mitarbeitern ihre Bevölkerung. Dies führt einige dazu sich zu fragen, was Biermann eigentlich zur heutigen Überwachung zu sagen hat:
Sorry, Wolf #Biermann, aber Bedrohungen für die Freiheit müssen nicht immer so aussehen, wie Sie sie kennengelernt haben. #Prism #Tempora — Jan Philipp Albrecht (@JanAlbrecht) 8. November 2014
Die Frage kann beantwortet werden - wenig:
Das berührt mich überhaupt gar nicht. Ich halte das für eine hysterische Propaganda-Idiotie. Es wundert mich, dass sich Leute darüber wundern, dass die Amerikaner so viel Informationen wie möglich sammeln wollen. Der Unterschied ist doch, ob ein totalitärer Staat die Menschen bespitzelt oder ob eine Demokratie sich über den Streit in der Welt informieren möchte.
Dabei wird die eigentlich interessante Frage von kaum jemandem gestellt: warum denkt die überwältigende Zahl der Menschen heute ähnlich wie Biermann und lässt sich nicht von der Tatsache beirren, dass sie permanent Mikrophone inklusive Peilsender und Videoüberwachung mit sich herumtragen (Smartphones), während in der DDR die Überwachung für eigentlich alle ein ständig präsenter und einschränkender Fakt war? Nicht umsonst gab es in der DDR den Flüsterwitz, nicht aber heute, und nicht umsonst war man damals vorsichtig, was man sagt, aber nicht heute. Woran liegt das?

Meine These ist, dass es vor allem im Quid-pro-Quo der Überwachungsinstrumente zu suchen ist. Niemand hätte in der DDR freiwillig ein Überwachungsinstrument mit sich herumgetragen (was natürlich nur hypothetisch ist, die Technik der Kommunisten hätte das auch zu einer eher unhandlichen Erfahrung gemacht). Heute tun es fast alle. Der Unterschied zur Überwachung durch NSA und MI6 ist nämlich nicht nur, wie Biermann meint, der des Täters - also dass wir den Amerikanern einfach vertrauen. Angesichts des virulenten Anti-Amerikanismus in der deutschen Gesellschaft scheint diese Erklärung wenig tragfähig, wenngleich natürlich keine sichtbare Repression für politisch nicht genehme Sprüche, Witze und Aktivitäten erfolgt. Nein, für mich ist der Grund ein anderer.

Tatsächlich erhalten wir nämlich im Gegenzug für die Nutzung der Spionagewerkzeuge etwas. Keiner hätte sich freiwillig eine Stasi-Kamera ins Wohnzimmer gehängt, aber niemand hat Probleme, das Internet zu nutzen oder Smartphone und Tablet während eines geselligen Abends eingeschaltet herumliegen zu lassen. Diese Geräte bieten dem Nutzer eine gewaltige Menge Informationen. Hätte die Stasi Geräte ausgeteilt, die zur Überwachung dienen, die Leute hätten sie weggeworfen. Die Vorschläge konservativer Intellektueller in der NSA-Debatte, doch auf das Smartphone zu verzichten und für Gespräche in den Wald zu gehen, erscheinen dagegen einfach nur wirklichkeitsfremd. Wer will auf das Smartphone und das Internet verzichten?

Wir haben uns an diese Technologien gewöhnt, so wir uns an andere gefährliche Technologien wie das Auto, das Flugzeug oder McDonalds gewöhnt haben. Auch deren Gefahren sind uns wohlbekannt, aber sie werden akzeptiert, weil wir uns an die positiven Begleiteffekte der jeweiligen Technologie gewöhnt haben und sie nicht missen wollen. Vermutlich würden wir selbst in einer sozialistischen Diktatur nicht auf Internet und Smartphone verzichten wollen. Angesichts der Innovations- und Wirtschaftskraft jener Diktaturen allerdings ist das wahrlich eine akademische Überlegung.  

Montag, 3. November 2014

Gauck und Thüringen - darf der das denn?

Originalbeitrag auf Deliberation Daily. 

Ja, er darf.

Ok, vielleicht sollten wir etwas spezifischer werden. Bundespräsidenten sind im bundesdeutschen System bekanntlich eine gewisse Kuriosität, etwas, das man sich leistet, das aber keine essenzielle konstitutionelle Signifanz besitzt. Der Anspruch an das Amt ist es, tagespolitische Streitigkeiten zu meiden und stattdessen Deutschland und das deutsche Volk als Ganzes zu repräsentieren - ein demokratischer Nachhall von Kaiser Wilhelm II. "Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche." Im Großen und Ganzen ist das den Bundespräsidenten bislang gelungen. Gauck ist wohl derjenige, der sich seit Theodor Heuss am offensivsten einmischt und dabei auch gerne einmal tief ins Klo greift. Seine Kommentare zu Thüringen und der Frage eines linken Ministerpräsidenten allerdings sind ein Wandel auf einem schmalen Grat, ohne dass Gauck herunterfällt.

Das gilt im Übrigen nicht für seine jüngsten Einlassungen zur Außenpolitik - diese sind tatsächlich indiskutabel. Es kann nicht sein, dass ein Teil der Exekutive einen anderen konterkariert und die BRD so widersprüchliche Signale aussendet, gerade, wenn diese vom formal höchsten Amt im Staate kommen. Das ist im besten Falle unprofessionell und dilettantisch, im schlimmsten Falle extrem gefährlich, gerade wenn es um Russland und die Ukraine-Krise geht.

Auf der innenpolitischen Ebene kann der Bundespräsident daher ohne größere Kollateralschadengefahr unterwegs sein, besonders, weil das Amt tatsächlich als nicht besonders mächtig gilt. Das aber ist kein Argument gegen die sonst übliche Zurückhaltung, denn tatsächlich hat der Bundespräsident sich unparteiisch zu verhalten. Im Falle der Regierungsbildung in Thüringen allerdings hat Gauck es geschafft, die Kurve gerade noch zu kriegen. Zum Einen äußerte er sich dezidiert in seinem Lieblingsthemengebiet, der Freiheit, und aus seiner persönlichen Biographie als Bürgerrechtler im Osten heraus. Es war also mindestens so sehr ein Statement des Privatmenschen Gauck wie das des Bundespräsidenten.

Zudem schaffte Gauck es, in der Formulierung seiner Antwort alles im Konjunktiv zu lassen. Er sprach davon, dass sich "ein Mensch in seinem Alter" anstrengen müsse, um das zu akzeptieren, und dass Teile der LINKEn in ihrer Verfassungstreue Zweifel aufwerfen würden. Er sagte dezidiert nicht, dass dies auf die Führungsriege in Thüringen zuträfe; seine Bemerkungen waren noch halbwegs als allgemeiner Natur einstufbar. Wie gesagt, ein schmaler Grat, aber dieses Mal blieb er gerade noch auf der Seite, die ihm erlaubt ist. In der Vergangenheit hatte er sich schon deutlich schärfer und konfrontativer gegenüber der LINKEn gezeigt.

Es zeigt sich hier einfach einmal mehr, dass die Wahl eines Charakterkopfs in das Amt ein zweischneidiges Schwert ist. Gauck stieß sicherlich mehr Debatten an als Köhler. Er ist mit Sicherheit eine interessantere Figur als Wulff, mit mehr Ecken und Kanten und Persönlichkeit. Aber das heißt halt auch, dass diese Ecken und Kanten, nun ja, anecken. Und dass Gauck das mit Sicherheit mehr am linken als am rechten Spektrum tut dürfte bei seinem Hintergrund nicht verwundern. Verbieten wir Gauck aber, diese Äußerungen zu tun, so verbieten wir es ihm auch, wenn AfD oder NPD in Greifweite der Macht kommen. Und das kann niemand ernsthaft wollen.

Montag, 27. Oktober 2014

Warum ISIS ein Hype ist

Originalbeitrag auf Deliberation Daily. 

Die ISIS (oder ISIL, oder Daash, oder wie auch immer) ist derzeit in aller Munde. In den USA entblöden sich einige Republikaner nicht, vor ihren Kämpfern zu warnen, die über die Grenze via Mexiko in die USA einsickern könnten. Die irakische Armee hat sich in ihrem Angesicht praktisch aufgelöst. Baghad wird angegriffen. Kobane liegt unter Beschuss. Obama will Bomben werfen. Deutschland schickt sechs technische Unterstützer, die in der Türkei hängen bleiben. Was um Gottes Willen ist da eigentlich los? Ist die ISIS nun wirklich gefährlich, oder ist sie nur ein riesiger Hype? Sieht man sich die Lage vor Ort an, so resultieren daraus vorrangig einmal zwei Schlussfolgerungen: erstens, alles ist ziemlich verworren, und zweitens, ja, sie ist ein Hype. Aber der Reihe nach.

Zuerst einmal gibt es die ISIS schon wesentlich länger als die kurze Periode des Hypes, den sie gerade erlebt. Sie war auch nicht einmal eine irakische Organisation; ihr "Kalifat", das zu errichten das erklärte Ziel der Organisation ist, wurde schon an ganz verschiedenen Orten des Nahen Ostens proklamiert und reichlich unzeremoniell wieder eingestampft, wenn der Widerstand zu groß wurde. Gary Brecher von Pando.com erklärte dieses Phänomen physikalisch: Die größte Fähigkeit von ISIS sei es, ein Machtvakuum zu erkennen und dann, den Regeln des Vakuums entsprechend, quasi in dieses hineingesaugt zu werden. Sie ist wie eine Flüssigkeit. Das bedeutet auch, dass ISIS an ernsthaftem Widerstand nicht vorbeikommt - um im Bild zu bleiben, ein Damm. So kämpfte ISIS unter ständig wechselnden Namen bereits in Syrien und Jordanien (und früher auch schon einmal im Irak). Ideologisch hilft ihr dabei, dass das Kalifat, das sie zu errichten gedenkt, ohnehin weltumspannend sein soll und es daher ziemlich egal ist, in welcher Wüste der Welt sie sich aktuell befindet. Ähnlich wie bei allen anderen radikalen Ideologien wird am Ende ohnehin alles ihnen gehören; zeitweise Rückschläge und Ähnliches sind also irrelevant und vermutlich ohnehin Gottes Plan, oder was auch immer. Fakt ist dass die ISIS sich bei Widerstand meist eher zurückzieht und sich andere leichte Ziele aussucht.

Die Stärke von ISIS ist dabei nicht zu verachten; ihr gehören um die 10.000 Mann an, was für eine radikal-sunnitische Miliz ein ganzer Haufen ist. Weder für die türkische Armee, noch für die türkischen Milizen, noch - theoretisch gesehen - für die irakische Armee ist ISIS eine reale Bedrohung. In einer offenen Feldschlacht würde sie innerhalb weniger Stunden zu Hackfleisch verarbeitet werden, weswegen ISIS auch keine offenen Feldschlachten schlägt. Die irakische Armee löste sich praktisch komplett auf, als sie ISIS entgegengeworfen wurde, aber nicht unbedingt wegen deren hoher Kampfstärke (sonst hätte sie seinerzeit gegen die US Army noch wesentlich schneller aufgeben müssen), sondern aus innerirakischen Gründen. Der Religionskonflikt zwischen Sunniten und Schiiten etwa spielt eine Rolle, die Unzufriedenheit vieler Irakis mit ihrer Regierung, die ohnehin katastrophale Moral in der Armee, und so weiter und so fort - sie war ein Kartenhaus, das nur eines entschlossenen Stoßes bedurfte, und diese Entschlossenheit hat ISIS, Wagenladungen davon.

ISIS weitere große Fähigkeit neben dem Erkennen von Machtvakuums ist jedoch die Propaganda. All das oben Gesagte sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass ISIS eine barbarische , blutige und unterdrückerische Herrschaft aufrichtet, die auf dem fußt, was die Amateur-Theologen der Miliz als "die Scharia" betrachten, gemixt mit einem ohnehin vorhandenen extremen Radikalismus und den üblichen Verrohungen der Erfahrung von Bürgerkrieg und Krieg im Allgemeinen. ISIS köpft Menschen vor laufender Kamera, filmt Steinigungen junger Mädchen, hackt Gliedmaßen ab, zerstört Lebensgrundlagen und Existenzen und füttert die Maschinerie des Kriegs mit immer neuen Opfern. Kurz gesagt. ISIS ist ein abstoßender Haufen von Irren, den man gar nicht früh genug stoppen kann. Wie eine Biker-Gang ist ISIS zudem auch noch stolz auf all das und, ganz Kind des 21. Jahrhunderts, veröffentlicht das alles auf dem eigenen Youtube-Kanal, um so neue Rekruten anzulocken und die Erfolge gegen die irakische Armee zu wiederholen, indem man den Gegner einschüchtert.

Eine dieser beiden Strategien geht auf: ISIS fließen neue Rekruten zu, gerade auch aus Europa und den USA. Nicht viele, natürlich, wir reden vom niedrigen dreistelligen Bereich, aber propagandistisch ist es für ISIS natürlich grandios, Europäer und Amerikaner für ihren Kampf zu gewinnen. Es unterstützt sie in ihrem Anspruch, den wahren Islam zu vertreten. Das Kalifat war schließlich Zeit seiner früheren Existenz für die muslimische Welt das, was der Vatikanstaat und das Römische Reich lange Zeit für Christen waren. Entsprechend große Bedeutung für den Propagandakrieg in der Region haben daher auch die Angriffe anderer arabischer und muslimischer Staaten gegen ISIS, etwa von Saudi-Arabien, was diesen Alleinvertretungsanspruch untergraben soll. Angesichts der politischen Lage in Saudi-Arabien und der prekären Situation des dortigen Königshauses ist das allerdings keine sonderlich effektive Strategie.

All das führt uns zu der politischen Geographie des Nahen Ostens. Bekanntlich teilt sich die Region, ähnlich dem Christentum, in zwei theologische Hauptrichtungen auf: Sunniten und Schiiten. Der Irak war seit je her zwischen den beiden Richtungen gespalten, ein Produkt der Realpolitik nach dem Erste Weltkrieg, wo die Region irgendwie zwischen Frankreich und Großbritannien aufgeteilt werden musste, denen Ölfelder und definierte Grenzen wichtiger waren als gesellschaftliche Phänomena. Später wurde das Land hauptsächlich durch die harte Hand Saddam Husseins zusammengehalten, eine Bedingung, die indessen weggefallen ist, weswegen die gesellschaftlichen Fliehkräfte praktisch ungehindert das Land auseinanderreißen. Die Kurden im Nordosten sind de facto bereits unabhängig und der Kontrolle der Zentralmacht in Bagdad effektiv nicht mehr unterworfen, und die Sunniten vorrangig im Westen des Landes (und in Baghdad, dazu gleich mehr) fühlen sich von den Schiiten ohnehin in die Ecke gedrängt.

Ein Problem des Irak ist nämlich seine theologische Spaltung: die Mehrheitsbevölkerung ist schiitisch (wie auch der Iran), eine Minderheit sunnitisch. Nur ist diese Minderheit bis zum Fall Saddam Husseins an der Macht gewesen: Hussein selbst war Sunni, und die Elite, auf die er sich stützte, ebenso, während die breite Masse der Armen und Arbeiter Schia war. Seit der US-Invasion hat sich das gedreht. Inzwischen stellen Schiiten die Regierung, und die Sunniten sehen ihre Felle davonschwimmen - zu Recht, denn die schiitische Regierung des Irak kümmert sich nicht besonders um rechtstaatliche und humanitäre Ideale oder versucht einen "Irak für alle" zu schaffen. Stattdessen wird der Staat eher als Beute der nun herrschenden Schia gesehen, die den Sunniten jetzt die Rechnung präsentiert. Da ISIS sunnitisch ist, erklären sich auch die überragenden Erfolge der Miliz im Westen des Irak (dem so genannten "Sunni Dreieck") und ihr nicht vorhandener Erfolg gegen Kurden und Schiiten.

ISIS operiert daher gewissermaßen in einem Stadium des permanenten Heimspiels. Sie versuchte zu Beginn der 2000er die Kräfte der sunnitischen unterdrückten Bevölkerung in Jordanien für einen Putsch zu nutzen, machte sich dann die Unzufriedenheit der Sunniten in Syrien zunutze und greift jetzt im Irak an. Außerhalb überwältigend sunnitisch bewohnter und, vor allem, unzufriedener Regionen hat sie noch nie Erfolge erzielt. Dies erklärt auch wie die Miliz es schafft, seit nunmehr fast einem Jahr sowohl jeden Moment Kobane (in kurdischem Gebiet) als auch Baghdad einzunehmen, ohne es je zu schaffen: an beiden Orten existiert kein Vakuum. Die Vororte von Baghdad waren von sunnitischen Flüchtlingen, die vor Husseins Sturz die Macht in Händen hatten, überfüllt und daher ein leichtes Ziel. Nur, die Gebiete in Baghdad selbst, aus denen sie vertrieben wurden, gehören inzwischen den schiitischen Opportunisten, die kein Interesse an dem Sturz ihrer Regierung haben.

Zumindest in Kobane liegt ISIS effektiv mitten in der Wüste vor der Stadt, ohne gegen die Kämpfer der kurdischen Milizen Erfolge zu erringen. Berichten zufolge ist ihre Taktik so schlecht, dass sie gewaltige Verluste erleiden (so werden etwa von der irakischen Armee eroberte Panzer ohne Infantriedeckung in die Stadt geschickt und, wenig überraschend, schnell ausgeschaltet). In neun Monaten hat ISIS die Stadt an der türkischen Grenze nicht einnehmen können. Gleichzeitig aber wurde ISIS auch nicht geschlagen. Ist also doch mehr dran am Hype, ist ISIS kampfstärker als bisher angenommen? Immerhin 10.000 Mann unterstehen ihr schließlich. Aber: nein. Die Gründe für die erstaunliche Beharrungskraft vor Kobane und Baghdad sind andere. Und sie haben viel mehr mit der Realpolitik der Region zu tun. Es ist realistisch anzunehmen dass wenn die USA oder die Türkei wöllten, die Belagerung von Kobane bereits vorbei und die ISIS-Truppen ein rauchender Haufen Schrott und Leichen wären, ähnlich den Bildern des "Highway of Death" im Golfkrieg 1991. Warum also wollen sie, aller markigen Statements zum Trotz, nicht?

Es hängt mit der völlig verworrenen politischen Situation zusammen. Die irakisch-schiitische Regierung würde ISIS natürlich gerne jederzeit besiegen. Zu diesem Zweck erhält sie bereits massive Hilfen aus Iran, der in den letzten Jahren große Erfolge darin verzeichnete, den Irak zu seiner persönlichen Kolonie zu machen - eine Entwicklung, die den USA als Endergebnis des absurd-teuren Irakkriegs kaum gefallen kann. Ein Sieg gegen ISIS stärkt daher den Iran. Er stärkt aber auch gleichzeitig den syrischen Diktator Assad. ISIS hat Wurzeln und Nachschubbasen im syrischen Kriegsgebiet, wo sich die Miliz bis zur Unkenntlichkeit mit den örtlichen Aufständischen gegen Assad vermischt. Ein Angriff auf ISIS-Nachschublinien und -basen in Syrien stärkt daher Assad, dem man effektiv helfen würde. Schon jetzt gibt er sich als Garant der Stabilität und Vernunft im Kampf gegen die ISIS und präsentiert sich als natürlicher Verbündeter des Westens im Kampf gegen die Terrormiliz.

Die Kurden ihrerseits könnten die ISIS mit ein wenig logistischer und materieller Unterstützung vor Kobane selbst besiegen, nur bekommen sie diese Unterstützung nicht. Während der Westen gerne jeder x-beliebigen syrischen Miliz massenhaft Waffen zur Verfügung stellt ohne zu wissen, ob sich diese später gegen ihn wenden werden, werden die eigentlich verlässlichen Kurden fast gar nicht unterstützt. Das liegt an zwei Gründen. Zum Einen wollen die USA die territoriale Integrität des Irak erhalten, die mit einer aufgerüsteten Kurden-Miliz nicht mehr möglich wäre (weil dann die irakische Armee endgültig keine Bedrohung mehr darstellt), andererseits aber sind die Kurden und die Vorstellung eines unabhängigen kurdischen Staates, auf den die Kurden unzweifelhaft hinarbeiten, Anathema für die Türkei. Und die Türkei ist ein essenzieller NATO-Verbündeter in Region. Die türkische Antipathie gegen die Kurden geht soweit, dass Ankara effektiv einen Waffenstillstand mit ISIS geschlossen hat, sofern diese nur weiterhin die Kurden attackiert - ein Waffenstillstand, in dem die USA zwangsläufig mitgefangen sind, denn gegen den expliziten Willen der türkischen Regierung kann an ihrer Grenze kein Krieg geführt werden.

Würden diese vielen verschiedenen Faktoren nicht an ISIS zerren und drücken und sie so pervererweise an Ort und Stelle halten - die Miliz wäre längst vernichtet. Natürlich ist das nichts, was man auf seinen Youtube-Channel stellt. Stattdessen regieren dort Geschichten von der furchterregenden Überzeugung und Kampkraft der Miliz, eine Illusion, an deren Aufrechterhaltung alle Seiten Interesse haben. Die irakische Regierung will es aufrechterhalten, weil es die Hilfe von Iran und USA nötig macht. Für Assad ist es wichtig, damit er als Verbündeter akzeptiert wird. Für die Kurden resultiert ein Gegner, den man heldenhaft aufhalten kann, während die Türken NATO-Hilfen in Anspruch nehmen können. In allen beteiligten Ländern eignet sich ISIS als greifbarer Feind, um die Heimatfront zu mobilisieren. Und der ISIS selbst fließen immer neue Rekruten zu. Win-Win. Sobald einer dieser Faktoren wegfällt, wird ISIS wie das Kartenhaus, das sie ist, in sich zusammenbrechen. Aber bis dahin sind sie der böse schwarze Mann unter dem Bett, vor dem alle Angst haben. Ein klassischer Hype, erkauft mit dem Blut all derer die das Pech haben, unter der barbarischen Knute der Vakuum-Experten von ISIS zu leben.

Montag, 20. Oktober 2014

CBD Öl: legale Alternative für medizinisches Marihuana

Ein Gastbeitrag von Anne Friederich.

Disclaimer: Dieser Artikel stammt nicht vom Autorenteam des Oeffinger Freidenker.



In Deutschland gibt es keine legale Möglichkeit, an legales Cannabis zu kommen. Nur in seltenen Fällen darf von Ärzten Cannabis an Schmerzpatienten verschrieben werden, doch auch das ist meist synthetisch produziert. Eine legale alternative für alle, die nicht mehr weiter mit ihren Schmerzen und Leiden kämpfen wollen, könnte sich aber eventuell schon bald im CBD Öl zeigen. Das sogenannte Cannabidiol (CBD abgekürzt) ist der Wirkstoff neben dem THC, der in der Planze am effektivsten gegen Erkrankunken wirkt.

Samstag, 4. Oktober 2014

Ich lag falsch (5): Don't tell me who I am

Originalbeitrag auf Deliberation Daily.

Geschlechterrollen gibt es schon seit Ewigkeiten. Bereits bei Adam und Eva waren sie klar verteilt: "Der Mensch gab Namen allem Vieh, den Vögeln des Himmels und allen Tieren des Feldes. Aber eine Hilfe, die dem Menschen entsprach, fand er nicht." Woraufhin Gott ihm die Frau als Hilfe zur Seite stellte. Gemacht war sie aus einem Teil des männlichen Menschen, ihre Identität war ihm zur Seite zu stehen. Aber nicht einmal das bekam sie hin, denn sie verriet ihn aus Naivität an die böse Schlange. Diese Geschichte, die auch heute noch fleißig gepredigt wurde, diente Christen über Jahrhunderte zur Rechtfertigung ihrer Herabwürdigung von Frauen. Nicht, dass heidnische Gesellschaften besser gewesen wären. Es gibt wohl nur wenige, in denen Frauen einen so schlechten Status hatten wie im Römischen Reich. Dagegen war die christliche Misogynie geradezu ein Segen. Auch bei den alten Griechen war man nicht gerade auf der Seite des Fortschritts, was Geschlechterrollen anging.

Argumentiert wurde dabei eigentlich fast immer gleich: Der Mann wurde, mit unterschiedlichen Begründungen, als dominanter Teil gezeigt, dem die öffentliche Sphäre unterlag und der für Schutz und Versorgung von Frau und Kindern zu sorgen hatten, die rechtlich häufig auf derselben Stufe standen. Natürlich war dies auch für den Mann nicht ganz ohne Nachteile, oblag es doch ihm, in die zahllosen Kriege zu ziehen, die für die menschliche Geschichte so kennzeichnend sind. Da jedoch zu allen Zeiten Armeen sich nicht auf das Töten gegnerischer Kombattanten beschränkt haben, ist das nur ein sehr schwacher Trost.

Es gehört mit zu den in der Einführung angesprochenen Blindheiten, dass ich mich bei der Betrachtung von Geschlechterrollen immer nur auf die politische und rechtliche Gleichstellung beschränkt habe. Selbstverständlich gilt auch weiterhin meine Aussage, dass sowohl Männer als auch Frauen im überwiegenden Teil der Geschichte sehr wenig bis nichts zu sagen hatten. Das ändert aber nichts daran, dass jenseits der politischen Enrechtung der Mann deutlich mehr Rechte als die Frau genoss. Nicht nur, dass er häufig über die Frau als Eigentum verfügte (was in zahllosen Kulturen auch zeremoniell bestätigt wird); oft war er auch alleiniger Verwalter des Hausstands und einziger legaler Vormund der Kinder. Scheidungen waren fast immer nur für den Mann möglich, und die Frau zu schlagen oder anderweitig zu misshandeln galt nicht als Verbrechen, sondern als Prärogativ des Mannes. Bis 1997 (!) war es in der Ehe für eine Frau nicht möglich, ihrem Ehemann sexuelle Dienste zu verweigern. Mir ist es inzwischen unbegreiflich, wie ich diese Fakten einfach unter den Tisch kehren konnte, aber ideologische Verblendung hilft da wohl.

Legitimiert werden diese Rollenbilder häufig mit "Tradition" beziehungsweise "Kultur" auf der einen oder biologischen Faktoren auf der anderen Seite. Natürlich bestreitet niemand, dass Frauen und Männer durch ihre biologische Disposition voneinander getrennt werden: nur eines der beiden Geschlechter kommt in den zweifelhaften Genuss von Schwangerschaft und Entbindung und produziert danach nahrhafte Muttermilch. Daraus jedoch eine fundamentale Schieflage in den Rechten zu konstruieren ist mehr als nur gewagt. Es fügt zum Schaden auch noch den Spott dazu. Genau das aber geschieht ständig. Frauen werden mit Mutterschaft und Versorgung assoziiert, was sie an Heim und Herd bindet. Eine gleichzeitige Assoziation mit Frauen war und ist grundsätzlich "Schwäche" ("das schwache Geschlecht"), sowohl im Sinne körperlicher als auch psychischer Kraft. Frauen wird unterstellt, emotionaler zu sein als Männer und nicht zu den gleichen Denkleistungen imstande zu sein. Generell wird "weiblich" mit "schlecht" assoziiert, auch wenn das nicht immer explizit ausgesprochen wird, während "männlich" meist "gut" bedeutet. Nivea hat dies für eine Werbekampagne grandios aufgearbeitet:

Das Zurschaustellen von "männlichen" Verhaltensweisen wird für Frauen meist nicht akzeptiert. Dies sieht man häufig bei Politikerinnen oder Unternehmensführerinnen, wenn man ihnen aggressives oder machtgieriges Verhalten vorwirft, das für Männer problemlos akzeptiert wird. Auch hier wirkt sich das Rollenmodell auch für Männer schädlich aus: stellen sie ihre Gefühle zur Schau, gilt dies als "weibisch" oder "schwach". Diese Rollenmodelle reduzieren daher die Palette gesellschaftlich akzeptabler Verhaltensweisen für Männer. Gleichzeitig gelten Zorn und Gewalt für Männer als akzeptierte Gefühlsvehikel (etwa um Trauer auszudrücken), für Frauen nicht. Dass solche Zuschreibungen zu einer Schieflage in der Akzeptanz von häuslicher Gewalt führen, die erst seit kurzer Zeit als Thema erkannt und bekämpft wird, ist nur eine der vielen negativen Auswirkungen dieser Rollenbilder. Für Männer führt dies umgekehrt dazu, dass sie in den selteneren Fällen weiblicher Gewalt über keinerlei eingeübte Konfliktlösungsmechanismen verfügen, da man diese immer nur den Frauen zuschrieb und antrainierte, während sie vor allem kompetitive Strategien kennen.

Das perfide an allen Rollenbildern ist, dass sie, gerade weil sie sich aus einer langen Tradition her begründen, praktisch unsichtbar sind. Wir sind sie gewohnt, sie wurden uns von Geburt an anerzogen. Kleine Jungs werden ermutigt, ihre Grenzen auszuprobieren, während Mädchen eher beschützt werden. Mädchen helfen eher als Jungs bei der Hausarbeit, man gibt ihnen Puppen statt Autos, statt zum Judo gehen sie zum Ballett. Es ist gerade das omnipräsente der Rollenbilder, das sie so mächtig macht, und das den Kampf gegen sie mit einem so großen Backlash kommen lässt - einer heftigen Gegenreaktion der Gesellschaft selbst. Frauen sind hier keinesfalls ausgenommen. Einer der großen Irrtümer des Feminismus war schon immer anzunehmen, dass alle Frauen automatisch auf seiner Seite sind (ebenso wie der Irrtum der Sozialisten war, alle Arbeiter müssten automatisch zu ihnen stehen), und jede Abweichung davon als Verrat wahrzunehmen. Lebenslang antrainierte Verhaltensweisen wieder abzulegen, selbst wenn sie schädlich sind, ist nicht gerade eine kleine Leistung. Für Männer kommt noch hinzu, dass die trotz aller Schäden, die selbst durch das System erleiden, immer noch Netto-Profiteure sind.

Die Versuche des Aufbrechens von Rollenbildern sind daher fast zwangsläufig ein Elitenprojekt. Nur wo das kritische Reflektieren von Denkmodellen eingeübte Routine ist, kann eine Erfolgschance bestehen. Dass der Urboden des Feminismus die Universitäten sind, überrascht daher nicht. Die Gefahr hier besteht hauptsächlich darin, dass die Diskussion in den abstrakten Welten der universitären Welt bleibt. Das Aufkommen einer neuen Generation von Feministinnen, die die erlernten Theorien auch auf bisher als zu profan abgelehnte Wirkungsbereiche anwenden (gerade die Popkultur) und ihre Analysen publikumswirksam und verständlich zu verpacken wissen, könnten hier Wunder wirken.

Doch auch die eher akademischen Diskussionen enthalten wertvolle Ansätze. So mag das Gender Mainstreaming zwar einige extreme Verrennungen in Sackgassen hervorgebracht, ist aber in seiner grundsätzlichen Richtung zu begrüßen. Auch die Ansätze zu einer geschlechtergerechten Sprache, wie sie etwa von Anatol Stefanowitsch vertreten werden, sind trotz ihrer bisher eher mangelhaften Alltagstauglichkeit ein Schritt auf dem richtigen Weg. Was es hier noch braucht sind die Mittler, die die wissenschaftlichen Erkenntnisse aufgreifen und wirkungsvoll verankern können - in einer Art und Weise, die für die breite Bevölkerung auch akzeptabel ist. Bisherige Versuche wie das Binnen-I und seine Geschwister (Asterikse, Unterstriche, etc.) sind nur Krücken und für den Alltag unbrauchbar.

Das Ziel muss es also sein, klassische Geschlechterrollen aufzulösen und die volle Bandbreite an Möglichkeiten für beide Geschlechter zugänglich zu machen. Das heißt explizit nicht, wie von vielen Kritikern befürchtet, die Unterschiede zwischen den Geschlechtern völlig aufzulösen. Das ist selbstverständlich eine biologische Unmöglichkeit. Das Ziel muss es sein, sie komplett irrelevant zu machen. Es sollen daher nicht Röcke, Ohrringe und Makeup verboten werden oder gleich utopische (oder dystopische) Vorstellungen einer Welt ohne Geschlechtsverkehr und Babys aus der Retorte gepflegt werden. Es geht darum, die akzeptablen Verhaltensweisen, Ziele, Rollen und Möglichkeiten jedes Geschlechts auch auf das andere auszuweiten. Jungs sollen weinen dürfen und Mädchen sich aktiv behaupten, um es plakativ auszudrücken. Und von diesem Ziel sind wir noch weit entfernt.

Dienstag, 30. September 2014

Ich lag falsch (4): Misogynie im Alltag


Dieser Post erschien ursprünglich auf Deliberation Daily.

Ein häufig unterschätztes Problem ist, wie sehr frauenfeindliche und Frauen benachteiligende Faktoren in unserem Alltag verwurzelt sind. Sie finden sich an Orten, wo man sie gar nicht vermuten würde und wo sie uns auch gar nicht auffallen, weil wir an ihren Anblick von klein auf gewohnt sind. Nichts trägt so sehr zur Konstruktion von Genderrollen und verwurzelten Stereotypen, wie wir sie noch einmal im letzten Teil der Serie betrachten werden bei wie die Konstruktionen, denen wir im Alltag begegnen. Wir finden sie auf den Schachteln von Nahrungsmitteln und Spielzeug. Sie begegnen uns in der Werbung allgegenwärtig. Wir sehen sie auf Schildern in Piktogrammen. Sie durchsetzen unsere Freizeitgestaltung in allen Medien. Selbst unsere Sprache ist davor nicht gefeit. Macht man sich diese Dinge erst einmal bewusst, sieht man es überall. Es ist, wie auf Aufforderung für fünf Minuten nicht an Eisbären zu denken.

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Nicht für mich gemacht.
Beginnen wir mit unschuldigen Babyprodukten. Wenn Elternteile neben den glücklichen, properen Babys abgebildet sind, sind es weit überdurchschnittlich Frauen, die sich mit den kleinen Rackern beschäftigen und ihnen den verschmierten Po abwischen. Auch Kinderspielzeug zeigt sehr häufig spielende Mütter mit ihren Kindern (es sei denn, es ist genderkodiertes Jungen-Spielzeug, aber dazu gleich mehr). Auf einer Packung Kindernahrung von Milupa findet sich allen Ernstes die Hotline für die "Mütterberatung". Väter haben offensichtlich nie Fragen zur Kindeserziehung. Die Hotline ist übrigens auch "Von Mamas für Mamas". Auf diese Art und Weise werden Tätigkeiten von vornherein mit einem bestimmten Geschlecht assoziiert. Gleiches gilt etwa auch viel zu häufig auch noch für Waschmittel. Auf der anderen Seite des Spektrums finden sich gerne Männer auf Packungen von Werkzeug und Autozubehör, weil Frauen ja bekanntlich nicht einmal Nägel in die Wand schlagen können.
Dieser ungute Trend setzt sich beim Spielzeug fort. Exemplarisch ist er bei Produkten der Lego-Familie zu betrachten, wo das Zielpublikum klar vorgegendert ist. Während die überwältigende Mehrheit der Produkte klar für Jungs beworben wurd (mit einem Fokus auf kämpferischem Wettbewerb und dem Prozess des Bauens) ist eine Produktlinie ("Lego Friends") explizit für Mädchen beworben und, natürlich, in Pastellrosa gehalten. Im Umkehrschluss bedeutet dies auch, dass der Rest der Lego-Produktpalette nicht für sie ist - ein Fakt, das die Werbung unterstreicht. Auch bei Duplo und anderem Spielzeug, das eher für Kinder zwischen ein und drei Jahren gedacht ist finden sich bereits klare Gendererwartungen formuliert. Anita Sarkeesian hat in einer Serie von drei sehenswerten Youtube-Videos diese Mechanismen am Fall Lego analytisch dekonstruiert (hier, hier, hier).

Nun verbietet natürlich niemand Mädchen, sich mit den Lego-Produkten der Reihe "Ninja-Go" zu beschäftigen und sich gegenseitig floureszierende Chips an den Legomännchenkopf zu schießen, und ich würde auch nie fordern, diese Produkte nicht zu produzieren. Viele Mädchen werden die Genderkodierung auch ignorieren und sich das Material trotzdem kaufen. Ein anderer Faktor, der leider auch von Sarkeesian und anderen Feminstinnen nicht oft genug bemerkt wird ist, dass diese Stereotype auch für Jungs und Männer schädlich sind. Nicht nur blockieren sie eine ganze Reihe von erfüllenden oder nützlichen Funktionen für Männer (putzende Männer werden immer noch gerne ironisierend in der Werbung eingesetzt, und ein Spielen mit Barbies ist immer noch undenkbar). Während Mädchen und Frauen - glücklicherweise - immer mehr aufgefordert werden, die ihnen zugedachten Rollen aufzuweichen und zu durchbrechen, gibt es für Jungen und Männer noch keine vergleichbare Bewegung. Auch hier kann ich wieder mit Beispielen aus meiner eigenen Erfahrung aufwarten: Als es auf Arbeit darum ging, einige Regale an der Wand zu befestigen, musste ich zu meiner Schande gestehen, nicht gerade ein Gott an der Bohrmaschine zu sein. Kommentar der Chefin (!): "Was bist denn du für ein Mann?" Exakt dieselben Reaktionen bekommt meine Frau, wenn sie gesteht dass sie nicht nähen kann, ein Job, der bei uns mir zufällt. Purer Unglaube ist das Resultat.

Man beachte die Frauen im Hintergrund. Spaß für die ganze Familie!
  Auch in den Medien, die wir für unsere Unterhaltung benützen, finden wir diese Rollenbilder und Vorurteile ständig wieder und bekommen sie serviert. Hauptcharaktere in Filmen, die nicht explizit für ein weibliches Publikum gemacht sind, sind in überwältigender Mehrheit männlich (und weiß, aber das ist noch einmal ein ganz anderes Thema). Noch immer bestehen dramatisch viele Filme den Bechdel-Test nicht. Ihre Problemlösungsstrategien sind häufig sehr gewaltorientiert, was problematischerweise besonders häufig mit klassischer Männlichkeit verbunden wird. Besonders auffällige Delinquenten sind hier machoistische Gewaltphantasien wie die Serie "Sons of Anarchy" (meine Artikel dazu hier) oder das gesamte Genre der Rache-Geschichten, das in Filmen wie "96 Hours" seine Entsprechung findet. Frauen werden hier fast immer auf die Rolle des passiven Opfers reduziert, worauf es an dem Mann ist, für diese Ehrverletzung Rache zu nehmen (und häufig genug die alleine völlig hilflosen Frauen zu retten). Zwar sind die Täter auch in 99% der Fälle männlich; ihre Bosheit besteht aber aus der körperlichen Gewalt, die sie Frauen antun (und die gleichzeitig als Ausrede für billigen Gewalteinsatz dient). Ohne diesen Faktor sind sie dem Hauptcharakter selbst unangenehm ähnlich. So findet "Sons of Anarchy" nichts dabei, die Helden ein Pornostudio betreiben und Frauen anbrüllen zu lassen - die bösen Jungs bedienen sich Zwangsprostituierter und schlagen ihre Frauen. Hier reden wir aber nur noch über Gradunterschiede. Der beständige Rückgriff auf dieses uralte Muster der "Damsel in Distress" wurde von Anita Sarkeesian ebenfalls in zahlreichen Videos dekonstruiert (hier, hier, hier, hier). Für an der Debatte Interessierte habe ich hier und hier ebenfalls Stellung genommen.

Die Gamer-Kultur, die dieser Tage unter dem Stichwort #Gamergate so sehr in die Schlagzeilen geraten ist (sogar SpOn hatte was dazu) ist wohl das offensichtlichste Beispiel dafür, dass es noch weit verbreiteten Frauenhass gibt. Sarkeesians Kritik wurde von massiven Hass- und Drohungskampagnen begleitet, die so heftig waren, dass sie aus ihrem Haus flüchtete und Polizeischutz beantragte. Noch heute kann sie problemlos die "Hass-Mail des Tages" veröffentlichen; ihre Auswahl ist offenkundig groß genug. Drohungen sie zu vergewaltigen und zu töten erinnern auf ungute Art und Weise an die aktuellen Exzesse in Indien, wo die von den örtlichen Autoritäten legitimierte Vergewaltigung als probates Mittel der Züchtigung von Frauen gilt, die aus ihrer Rolle fallen und sich - in den Augen der Männer - zu viel herausnehmen. Auch der Skandal um die gestohlenen Nackt-Selfies von Popkulturgrößen wie Jennifer Lawrence offenbarte Abgründe, in denen den Frauen - wie in der missratenen Vergewaltigungs-Awareness-Kampagne der britischen Regierung - die Schuld gegeben wurde. Im Englischen wird dieser Prozess als "slut-shaming" bezeichnet. Er stellt ein jahrhundertelang erprobtes Mittel der Frauenunterdrückung dar: den Frauen einzureden, sie seien an ihrem Schicksal selbst schuld und nicht die Täter und sie sogar zu Komplizen im üblen Spiel zu machen (mehr dazu im letzten Teil der Serie).

Der Kampf gegen festgefahrene Stereotype und Rollenklischees hat sich zu lange nur auf einige wenige Teilbereiche der Gesellschaft bezogen. Mit Ausnahme des Schmutzboulevards (etwa Fox News) haben die Medien sich genauso wie die Politik einem beeindruckenden internen Säuberungsprozess unterworfen und vermeiden tendeniziöse Berichterstattung. Auch in der Politik (und zunehmend der Wirtschaft) ist offener Sexismus inzwischen praktisch unmöglich geworden. Im Privaten oder Semi-Privaten (Meinungsäußerungen im Internet lassen sich nicht mehr wirklich klar einordnen) aber fühlt man sich bisweilen immer noch wie im Dschungel.

Das perfide an all diesen Beispielen ist, dass sie für sich genommen nicht schlimm sind. Wer sieht nicht gerne Liam Neeson zu, wie er böse Mädchenentführer erschießt? Darf man nicht daran Spaß haben, wenn sich Motorradgangs gegenseitig über den Haufen schießen? Muss ich aufhören, GTA V zu spielen? Kriegt mein Sohn nun doch kein neues Lego-Flugzeug, sondern das Barbie-Set? Das ist natürlich Quatsch. Auch gibt es selbstverständlich auch positive Gegenbeispiele. Es gibt Filme und Spiele mit weiblichen Hauptfiguren, die sich nicht um Shoppen und Backen drehen. Die Welt ist nicht schwarz und weiß. Aber noch immer ist eine viel zu große Mehrheit der Produkte in unserem Alltag von Sexismus - in beide Richtungen! - durchsetzt, der uns in alten Genderrollen festhält. Von den historisch gewachsenen Rollenvorstellungen und ihren Beharrungskräften ganz zu schweigen. Aber die beschäftigen uns im nächsten und letzten Artikel der Reihe.

Montag, 29. September 2014

Ich lag falsch (3): Warum Gleichstellungspolitik an den Familien ansetzen muss

Dieser Post erschien ursprünglich auf Deliberation Daily. 

Es gibt ein Sprichwort, das das grundsätzliche Dilemma jeder Gleichstellungspolitik illustriert, das gleichzeitig in der öffentlichen Debatte weitgehend ignoriert wird: "Biology as fate, pregnancy as a life sentence." Der große Graben zwischen Männern und Frauen ist und bleibt ihre Biologie, die den Frauen ihre wohl schwerste Benachteiligung überhaupt entgegenstellt: die alleinige Fähigkeit, Kinder auszutragen, zu gebären und in ihren ersten Lebensmonaten zu ernähren (Ersatznahrung ist und bleibt ein schwieriges Substitut). Da fast alle menschlichen Gesellschaften noch immer um eine Kernfamilie aus Mutter, Vater und Kindern herum zentriert sind und eine Mehrheit der Menschen noch immer einen Kinderwunsch hat, ist eine Schwangerschaft im Leben einer Frau ein statistisch zu erwartendes Ereignis. Schwangerschaften aber haben, neben den gesundheitlichen Implikationen und Fragen des Komforts, immer auch die Eigenschaft, Frauen für eine Dauer von mindestens 14 Wochen aus dem Erwerbsleben zu katapultieren, in der Realität aber oft deutlich länger. Pausen im Erwerbsleben aber sind Gift für jegliche Karrierewünsche, und die Begeisterung von Vorgesetzten für Schwangerschaften ihrer Angestellten hält sich meist auch in engen Grenzen. Bisher aber überlässt der Feminismus dieses Feld viel zu sehr konservativen Reformern, anstatt selbst tätig zu werden.

Diese Zurückhaltung hat lange Tradition. Der Feminismus entstammt einer Tradition, die klassischen Geschlechterverhältnissen ohnehin eine Absage erteilt hat (man denke nur an das unheilvolle Dogma Alice Schwarzers, das den Geschlechtsverkehr zwischen Mann und Frau als grundsätzlich verwerflich ablehnt) und hat sich daher mit dem klassisch-bürgerlichen Familienbegriff nur als Antipoden befasst, was durch das beständige Besetzen des Begriffs durch die CDU in Deutschland nicht leichter wird. Tatsächlich ist Familienpolitik in Deutschland seit 2005 eigentlich immer CDU-Politik. Das Elterngeld, eine der größten Expansionen des Wohlfahrtsstaats zugunsten von Frauen aus der Mittelschicht, geht auf sie zurück. Dass der Feminismus sich eher bei Grünen, Linken und in Maßen der SPD heimisch fühlt, führt diese Spaltung nur noch weiter.

Das ist verheerend, denn die Familie ist immer noch die Wunschlebensform der überwältigenden Mehrheit in Deutschland. So wünschenswert andere Sozialformen für den Feminismus und die Linke generell auch sein mögen, so können sie allenfalls ferne Zukunftsziele sein. In der Praxis der deutschen Wohnzimmer ist es immer noch so, dass die Frauen den überwältigenden Anteil von Hausarbeit und Kindeserziehung übernehmen, während die Männer eher für die Versorgung zuständig sind. Selbst wenn beide Ehepartner arbeiten, bringt häufig der Mann den größeren Anteil des Familienvermögens ein, und wenn nur ein Ehepartner arbeiten kann (etwa, weil ein kleines Kind zu versorgen ist), dann bleibt in der überwältigenden Mehrzahl der Fälle die Fraue zu Hause. Dies ist zum Teil der Struktur des Elterngelds geschuldet (das per default den Frauen 12 Monate bezahlt, die bei Beteiligung des Mannes um mindestens zwei Monate auf maximal 14 Monate ausgeweitet werden können), aber zu einem größeren Teil Traditionen und Rollenbildern sowie, erneut, der Biologie geschuldet sind: zwar ist es theoretisch möglich, dass die Frau Muttermilch abpumpt und Papa über den Tag das Kind füttert. In der Praxis aber ist dies den meisten zu viel Umstand. Aber auch veraltete Rollenbilder führen dazu, dass Frauen immer noch in die Rolle der Hausfrau und Mutter gedrängt werden. Ein Beispiel aus meiner eigenen Erfahrung: seit ich 2012 Vater geworden bin hat mich noch nie - wirklich nie - jemand gefragt, wie ich eigentlich die Belastungen eines Vollzeitjobs mit einem Kind vereine. Hätten wir für jedes Mal, wenn meiner Frau diese Frage gestellt wurde, 10 Euro bekommen, könnte ich den kompletten und nicht unerheblichen Windelbedarf des Juniors damit decken. Warum werde ich nicht implizit dafür angegangen, dass ich mein Kind zugunsten der Arbeit vernachlässige (es geht in die Kita), meine Frau aber schon? Für Leute, die behaupten wir hätten die alten Rollenmodelle überwunden, habe ich seit ich Vater geworden bin nur noch ein müdes Lächeln übrig. Und ich bin wahrlich nicht ein Musterbeispiel für die gleichberechtigte Aufteilung von Hausarbeit, wie ich gestehen muss.

Diese Faktoren führen dazu, dass Frauen - vielleicht auch unbewusst - bei der Studien- und Karrierewahl Berufszweige meiden, in denen lange und unflexible Arbeitszeiten die Regel sind. Wollen sie trotzdem erfüllende und ansprechende Berufe haben, landen sie beinahe natürlich im öffentlichen Sektor (wie ich hier ausführlich beschrieben habe). Dies trägt zu dem eklatanten Mangel von Frauen in Führungsetagen und in naturwissenschaftlich und ingenieurstechnischen Berufen bei, in denen lange Arbeitszeiten die Regel sind. Für viele Frauen wird damit bereits von Beginn an ein erheblicher Anteil von Optionen ausgeschlossen, was noch wesentlich mehr als überkommene Rollenbilder oder Unsinn von "natürlichen Begabungen" erklären hilft, warum weibliche Gymnasiastinnen zwar durchschnittlich bessere Noten als ihre männlichen Mitschüler haben, an den Universitäten aber in den "harten" Fächern wie Maschinenbau, Informatik oder Physik unterrepräsentiert sind (teilweise in Verhältnissen von 8:1 oder 9:1), dafür aber in "weichen" Fächern wie Lehramt, Erziehungswissenschaft oder Kunst überepräsentiert sind.

Noch viel problematischer als die eigentliche Berufswahl aber ist der eklatante Mangel an Betreuungsmöglichkeiten. Will eine Frau nach der Geburt gleich wieder arbeiten (der Mutterschutz währt derzeit 8 Wochen), so ist ihre einzige Chance, eine Tagesmutter oder eine vergleichbare Fachkraft anzustellen - was für die deutliche Mehrzahl der Haushalte unbezahlbar ist. Kindertageseinrichtungen nehmen in den seltensten Fällen Kinder auf, die jünger als ein Jahr sind, und die Mehrzahl beginnt ihre Gruppen immer noch erst mit zwei oder sogar drei Jahren. Dazwischen ist eine Lücke, die von irgendjemandem gefüllt werden muss. Wenn die eigenen Eltern dann nicht schon Rentner sind und zufällig in der Nähe wohnen, bleibt eigentlich keine andere Chance als selbst zuhause zu bleiben, bis ein Platz in einer Kindertageseinrichtung verfügbar wird - und diese Einrichtungen bieten oftmals auch nur halbtags Betreuung an. Und in der überwältigenden Mehrzahl der Fälle ist es die Frau, die zuhause bleibt. Den Bedarf gibt es übrigens klar - bereits über die Hälfte der Kita-Kinder in Deutschland sind länger als 35 Stunden pro Woche dort, Tendenz rasch steigend.

Nun könnte man die Frage stellen, warum nicht einfach der Mann zuhause bleibt. Das würde das Problem der Benachteiligung von Frauen ja lösen. Oder man macht es 50:50. All das sind valide Punkte. Tatsächlich sollte es Standard werden, dass sich beide Partner deutlich mehr Gleichheit in der Kindeserziehung zugestehen. Im Falle einer 100%-Beschäftigung ist es aber unrealistisch anzunehmen, dass dies möglich ist. Teilzeitmodelle aber, die beiden Partnern eine Teilnahme am Erziehungs- und Hausarbeitsprozess ermöglichen, sind gerade in den Jobfeldern, die klassisch mit Karriereoptionen assoziiert werden, derzeit völlig illusorisch - erneut, auch hier mit der bemerkenswerten Ausnahme des Öffentlichen Dienstes, wo beispielsweise seit Kurzem explizit die Möglichkeit eingeräumt wurde, dass sich zwei Personen den Direktorenjob in einer Schule teilen, um mehr Frauen diesen Karrierepfad zu ermöglichen. Vermutlich aber sind sie sogar generell eine Illusion, wie ich hier argumentiert habe, weil Führungsaufgaben einfach die vollständige Person fördern und für Familien- und Privatleben außerhalb der Wochenenden (wenn überhaupt) nur wenig Raum lassen.

Was also folgt aus alledem? Wer eine breite Mehrheit von Frauen emanzipieren und ihnen dieselben Teilhabemöglichkeiten am wirtschaftlichen, politischen und sozialen Leben wie Männern einräumen möchte, der kommt nicht umhin, die Familien weiter zu stärken. Das heißt nicht, dass das Ehegattensplitting weiter als die heilige Kuh betrachtet werden muss (obwohl es sicher nicht die Wurzel allen Übels ist). Stattdessen braucht es flächendeckende Ganztagsbetreuungsmöglichkeiten für Kinder auch unter einem Jahr, großzgügige Teilzeitmodelle für Eltern, die es beiden (!) Partnern erlauben, im Job kürzer zu treten um sich der Familie widmen zu können und, vor allem, einen Wandel in tradierten Denkmustern, die beiden Geschlechtern bestimmte Rollenmodelle vorschreiben (eine Problemstellung, der wir uns im nächsten Teil widmen werden). Die Gleichstellungspolitik seit 1957 hat ihr Ziel, den Frauen die Hindernisse für das Verfolgen ihrer Karriere- und Selbstverwirklichungswünsche aus dem Weg zu räumen, weitgehend erreicht. Woran sie noch scheitert ist, der Mehrheit der Frauen das Wahrnehmen dieser Möglichkeiten zu erlauben. Es mag vermessen klingen zu fordern, dass wir effektiv die Beschränkungen der weiblichen Biologie per Gesetz beseitigen oder zumindest dämpfen müssen. Aber genausowenig wie permanente Enthalsamkeit der richtige Weg gegen Teenagerschwangerschaften ist eignet es sich, um Frauen in der Gesellschaft gleiche Rechte zuzugestehen.

Freitag, 26. September 2014

Ich lag falsch (2): Warum rechtliche Gleichstellung nicht ausreicht


Frauen wurden in Deutschland schon oft gleichberechtigt. Die Weimarer Verfassung von 1919 relativierte dies mit einem "grundsätzlich", ein Vorbehalt, der 1949 im Grundgesetz fallengelassen wurde. Als man bemerkte, dass das Grundgesetz ohne Folgegesetze irgendwie auch nur Papier ist, kam 1957 das Gleichberechtigungsgesetz dazu, das so gut war, dass es bis 1959 auf Aufforderung des Bundesverfassungsgerichts mehrfach korrigiert werden musste. 1974 wurde Frauen das Verfügungsrecht über den eigenen Körper in den ersten zwölf Wochen der Schwangerschaft zugesprochen. 1977 wurden Frauen dann erneut gleichberechtigt, als die männlichen Eheprivilegien aufgehoben wurden. 1980 wurden die Frauen dann am Arbeitsplatz gleichberechtigt. 1985 wurden die Unversitäten verpflichtet, die Benachteiligung von Frauen zu beseitigen, 1991 begann die Öffnung der Bundeswehr für Frauen. 1994 wurde die Erfolgsgeschichte des Gleichberechtigungsgesetzes durch das "Zweite Gleichberechtigungsgesetz" bestätigt. 2001 wurde die Elternzeit beiden Geschlechtern zugestanden. 2006 schützte man Frauen vor Stalking und führte das "Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz" ein. Letzteres sprach nicht mehr von Gleichberechtigung, denn mittlerweile hatte sich bis in den Bundestag vorgesprochen, dass gleiche Rechte auf dem Papier längst nicht einer gleichen Behandlung in der Praxis entsprechen müssen - eine Erfahrung, die sonst auch Minderheiten gerne machen. Offensichtlich besteht also eine Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit. 

Doch woher kommt diese Diskrepanz? Sie liegt daran, dass Theorie und Praxis eben oftmals auseinander fallen. Rollenbilder, denen wir uns im vierten Teil der Serie verstärkt widmen wollen, lassen sich nicht durch einen arkanen Gesetzestext ändern, dem keine reale Entsprechung zugrunde liegt. Als die Verfassungsväter (plus vier Verfassungsmütter) die Gleichberechtigung im Grundgesetz verankerten, war noch überhaupt nicht klar, was damit eigentlich gemeint war. Die Mindestinterpretation bestand darin, dass vor Gericht Frauen und Männer wegen der gleichen Straftat auch gleich behandelt würden. Es sagte aber noch recht wenig darüber aus, ob Gesetze Wirkungskraft nur für Männer oder Frauen haben dürften. Und hier lag die Crux, denn die untergeordnete Stellung der Frau war zu jener Zeit noch in Gesetzen und Regularien festgeschrieben, die letztlich eine jahrzehntelange patriarchalische Ordnung wiederspiegelten: so war der Mann 1949 nach wie vor berechtigt, eine Arbeitsstelle der Frau fristlos zu kündigen, hatte das alleinige Erziehungsrecht für die Kinder und durfte als einziger eine Ehescheidung beantragen. Zudem stand nur ihm das Recht zu, das gemeinsame Vermögen zu verwalten, selbst wenn es von der Frau in die Ehe eingebracht worden war. 

Diese Zustände wurden erst 1957 bis 1959 langsam eingeschränkt oder beseitigt, blieben aber in der Praxis oftmals bestehen: viele Frauen brachten nicht sonderlich viel Vermögen in die Ehe ein; wie auch, wenn sie vorher nicht arbeiten konnten? Die immer noch weit verbreitete Aussteuer bestand vorrangig aus Gebrauchsgütern des Haushalts, die sich verschleißten und kaum als Vermögen zu betrachten oder im Falle einer Scheidung einfach mitgenommen werden konnten, sofern man nicht vor Gericht um jeden Topf streiten wollte. In der Praxis blieben die männlichen Vorrechte daher meist bestehen; die Kluft zwischen dem gesetzgeberischen Anspruch und der Realität blieb bestehen und wurde erst mit dem Beginn der Frauenbewegung und der generellen Ablehnung des Adenauer-Muffs ab den 1960er Jahren langsam geschlossen. 

Nun liegen diese düsteren Zeiten hinter uns, und Frauen genießen unzweifelhaft deutlich mehr Rechte als in jenen Hochzeiten des bürgerlichen Lebenswandels. Trotzdem bestehen auch heute noch teils krasse Diskrepanzen zwischen Anspruch und Wirklichkeit, die ihren Ausdruck in den Missrepräsentationen von Berufen und Hierarchien finden. Ein Teil davon lässt sich auf die in Teil 4 angesprochenen Rollenbilder zurückführen, aber ein Teil hat auch mit den gesetzlichen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen zu tun. Ein in einem Gesetz formulierter Anspruch muss, soll er nicht lediglich bloßer Anspruch bleiben, durch konkrete Regulierung und Ausführungsbestimmungen ausgestaltet werden. Artikel 14 des Grundgesetzes kann da ein Lied davon singen. 

Warum aber bleibt die Gleichstellung bislang immer noch unerfüllt? Es gibt einige Gebiete, auf denen sie mittlerweile sehr weit vorangeschritten ist und in dem es nur noch eine Generationenfrage ist, bis sie vollständig erreicht ist (eine neue Generation, in der mehr Frauen die ihnen eröffneten Möglichkeiten nutzen, muss erst noch die volle Spanne des Erwerbslebens durchlaufen). Diese Generationenfrage wird gerne unterschätzt, denn die Führungspositionen, in denen man die Frauen gerne sehen will, werden vielfach erst im Alter von 50 oder mehr Jahren erreicht. Die entsprechenden gesetzlichen Regelungen gehen auf die 1990er Jahre zurück, was erwarten lässt, das in der nächsten Dekade der Anteil von Frauen in Führungspositionen stark zunehmen wird. Einen solchen Effekt können wir in der Politik, wo sich fast viele Parteien Quotenregelungen unterworfen haben, bereits beobachten, wenngleich den Frauen dort immer noch vorrangig "weiche" Ressorts zugedacht werden (und die CDU merkwürdigerweise Spitzenreiter im Abschaffen dieses stillen Konsens' ist). 

Am durchschlagendsten war der Erfolg des politisch organisierten Feminismus aber vermutlich am Ort seiner Empfängnis: den Universitäten. Hier gibt es die strengsten Regeln, die angepasstesten Ordnungen (man denke nur an den Streit um die Verfassung der Hochschule Leipzig) und die konsequenteste Begünstigung von Frauen in Bewerbungs- und Einstellungsverfahren. Am wenigsten Erfolg hat der Feminismus dagegen in den unteren Schichten der Gesellschaft, im Bereich von Niedriglöhnen, alleinerziehenden Müttern und 450-Euro-Jobberinnen. Warum gerade in diesen Bevölkerungsschichten so wenig Rückhalt für die feministischen Projekte besteht, ist eigentlich nicht schwer zu verstehen. Es liegt daran, dass der Feminismus letztlich ein Elitenprojekt war und über weite Teile immer noch ist, wie ich im Geschichtsblog dargestellt habe. Ob künftig 40% der Vorstände eines DAX-Konzerns weiblich sein sollen oder nicht, ist für eine Kassiererin bei Aldi eine genauso akademische Frage wie Steuervorteile für den Firmenwagen für einen männlichen Kanalarbeiter. 

Die realen Probleme dieser Bevölkerungsgruppe gleichen sich für Männer wie Frauen, sind aber aus noch anzusprechenden Gründen für Frauen schwieriger zu bewältigen als für Männer. Diese Probleme werden vom Feminismus aber immer noch nicht wirklich angesprochen. Besonders der universitäre Feminismus ergeht sich in durchaus relevanten Fragestellungen (mehr dazu in Teil 4), die aber von der Lebenswirklichkeit der Bevölkerungsmehrheit sehr weit entfernt sind. Folglich werden diese Frauen von der feministischen Befreiungsutopie nicht wirklich mitgenommen, genausowenig wie sich etwa der Liberalismus um sie schert (außer im sehr abstrakten, weil sein ultimativer Sieg das vollendete Utopia für alle herbeiführt). 

Letztlich gibt es einen großen Faktor, der sich durch kein Gesetz der Welt beseitigen lässt und der der realen Gleichberechtigung immer wieder in den Weg läuft: die Biologie. Einzig und allein Frauen können schwanger werden, und eine Schwangerschaft stellt einen schwerwiegenden Einschnitt in das Leben jeder Person dar, überproportional aber in das der Frauen. Der Feminismus umgeht dieses Problem häufig durch das Propagieren eines männerfreien Lebensstils oder dem ideologischen Überhöhen der Alleinerziehenden, aber beides läuft der Lebenswirklichkeit gerade weniger gut situierter Frauen konträr entgegen. Frauen sind auch heute noch massiv benachteiligt, weil sie immer noch den mit Abstand größten Teil der Bürde der menschlichen Fortpflanzung schultern und diese Bürde ihnen unsichtbare Folgekosten auflastet, die in ihrer Tragweite immer noch weit unterschätzt werden. Dies ist zwar mit Sicherheit nicht die einzige Quelle ihrer Benachteiligung, aber so wichtig, dass ihr der zweite Teil unserer Artikelserie gewidmet werden soll.