Dienstag, 20. Dezember 2016

Was die Demokratie wirklich gefährdet

Die Demokratie beruht auf Normen. Dieser Satz erscheint ebenso harmlos wie banal. Tatsächlich aber sind die Normen das absolute Fundament auf dem sie ruht, nicht, wie so oft angenommen, die Verfassung. Es ist eine dieser über-lernten Lektionen aus Weimar, dass die Demokratie durch eine ungeschickte Verfassungskonstruktion stolperte. Der Artikel 48 war aber genauso wenig schuld am Fall Weimars wie das Electoral College an Trump. Stattdessen geht es um Normen - und ihre Missachtung.

Verweilen wir für einen Moment beim Beispiel Weimars. Es wird oft gesagt, der Artikel 48 sei ein Fehler gewesen und habe dem Präsidenten zuviel Macht gegeben. Tatsächlich haben Verfassungsrechtler von damals bis heute immer wieder betont, dass die Hindenburg'sche Anwendung gegen die Verfassung verstieß. Nur hat das niemandem gekümmert. Die Rechten und Linken wollten die Republik, je aus unterschiedlichen Motiven, ohnehin fallen sehen. Und die Sozialdemokraten und kläglichen Reste anständiger Bürgerlicher waren dazwischen eingeklemmt und hofften nur noch, Schlimmeres zu verhindern. Der eigentliche Machtkonflikt wurde auf der Straße und in den Hinterzimmern ausgetragen - ein Bruch demokratischer Normen.

Als umgekehrtes Beispiel mag 1968 dienen, als die Große Koalition, mit einer Mehrheit jenseits der 90%, die Notstandsgesetze gegen massive Proteste einführte. Die Befürchtung war eine Wiederholung der Krise von Weimar. Nichts dergleichen geschah, obwohl die Erklärung des Notstands nicht wesentlich größere Hürden zu überwinden hatte als 1925. Das liegt schlicht daran, dass in der BRD demokratische Normen immer noch intakt sind. Kein Bundesverfassungsgericht der Welt könnte eine Regierung aufhalten, die auf den Exekutivapparat gestützt gegen die Verfassung regiert und diese bricht. Alles was zwischen Demokratie und Finsternis steht sind Normen: klein, zart, unauffällig und zerbrechlich.

Das ist die große Gefahr des Jahres 2016: der gigantische Normenbruch um uns herum, der den Boden bereitet für die eigentliche, größere Gefahr.

Ein frappantes wie aktuelles Beispiel hierfür ist, wie könnte es anders sein, Trump. Seine schon fast pathologischen Lügen wurden zur Genüge diagnostiziert. Unter demokratischen Normen aber verstehen wir bei "Lügen" von Politikern etwas anderes, denn normalerweise lügen Politiker nicht im Wortsinne. Einen Politiker bei einer bewussten Falschaussage zu ertappen war und ist höchst selten. Stattdessen verschweigen sie etwas, drücken sich mehrdeutig aus, biegen die Wahrheit, interpretieren in ihrem Sinne, beschönigen, können Versprochenes nicht umsetzen. All das ist stets Teil des Geschäfts, genauso wie das der Presse, sie dabei zu ertappen und in die Ecke zu drängen, und das Geschäft der Opposition, ein gegenläufiges Narrativ zu schaffen.

Wenn aber jemand bei den offensichtlichsten und überprüfbarsten Sachverhalten lügt, und das mehrmals am Tag, bricht das sämtliche Normen. Es existiert schlichtweg kein Mechanismus, um dann damit umzugehen. Stattdessen legitimieren die Normen ihren eigenen Bruch. Ein gängiger Witz besagt, dass wenn die Republicans behaupteten, die Erde sei flach, die New York Times titeln würde, die Parteien seien sich nicht über die Form der Erde einig. Diese Art der Berichterstattung funktioniert für policy-Differenzen. Sie versagt völlig, wenn sich eine Seite nicht an die Regeln hält.

Das soll aber nicht in billige Medienschelte ausarten. Schließlich wurde zurecht darauf hingewiesen, dass es im Wahlkampf nicht an negativer Berichterstattung über Trump mangelte. Der Normenbruch führte aber dazu, dass bei der Masse der Wähler der Eindruck entstand, beide Kandidaten seien gleich schlimm. Auf diese Art bleibt der Normenbruch ungestraft, ja, wird belohnt.

Wir sehen diesem Mechanismus in vielen Ländern rechtspopulistische Strömungen befeuern. Ob AfD in Deutschland, UKIP in England und Wales, Fidesz in Ungarn, PiS in Polen, die frühere Lega Nord in Italien - das Ziel ist stets der kalkulierte Normenbruch, um selbst salonfähig zu werden.

Diese Strategie funktioniert fürchterlich gut. Wenn sich bei den Wahlen erst einmal eine "Schlimmer können die es auch nicht machen"-Mentalität festgefressen hat, kommen Demokratiefeinde erst an die Macht und höhlen dann die Demokratie von innen aus. Denn wer sollte sich hinter Institutionen stellen, die für unzureichend befunden wurden, eine Diagnose, die sich durch den Erfolg ihrer Gegner quasi in eine sich selbst erfüllende Prophezeiung gewandelt hat? An dieser Stelle des Textes sollte so etwas wie eine Lösung stehen. Aber ich weiß keine. Demokratische Normen halten nur so lange, wie die deutliche Mehrheit der Bevölkerung sie zu verteidigen bereit ist. In dem Moment, in dem das "Ja, aber" die Oberhand gewinnt ("Ja, die AfD ist rassistisch, aber", "Ja, Trump lügt und fordert die gefährlichsten Dinge, aber"), schwebt die Demokratie in Gefahr.

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