Sonntag, 23. September 2018

Der Verlust der Wirklichkeit

Um 2016 herum war das Wort der "Filterblase" in jedermanns Munde. Immer wieder wurde betont, dass wahlweise Progressive oder Konservative in einer Blase lebten (es kommt immer auf den persönlichen Standpunkt an) und die von der Mehrheitsgesellschaft geteilte Realität nicht mit bewohnten, wodurch es dann zu allerlei schlechten Effekten kommt. Diese an und für sich nützliche Theorie geriet innerhalb kürzester Zeit zum politischen Kampfbegriff der Rechten und ist mittlerweile aus der Mode geraten. Auf der Linken hat er sich nie wirklich durchsetzen können, wird aber unter diversen Synonymen natürlich trotzdem gegen den politischen Gegnern geschleudert. In dem Zusammenhang wurde auch immer wieder darüber gesprochen, wie Soziale Netzwerke und die Struktur unserer Nachrichten zur Bildung solcher Blasen beitragen. Ich denke dass die Degenerierung zum politischen Kampfbegriff uns leider die Sicht darauf verstellt hat, dass die Aufspaltung von Realitäten ein profundes und jegliche ideologische und parteiischen Grenzen überspannendes Problem geworden ist.

Meine These ist hierzu die: es gibt inzwischen effektiv keine Konsens-Realität mehr, weil die beherrschende Stellung der sie schaffenden Akteure in unserer Gesellschaft, die früher für eine allseits anerkannte Realität sorgte, nicht mehr gegeben ist. Das betrifft in erster Linie die Massenmedien, vor allem die Öffentlich-Rechtlichen, und nachgeordnet Personen von öffentlicher Autorität wie Politiker, Pressesprecher, Behördenchefs und Ähnliche.

Was meine ich damit konkret? Niklas Luhmann hat in seiner berühmten Systemtheorie bereits vor Jahrzehnten die Behauptung aufgestellt, dass unsere Realität maßgeblich von den Massenmedien geprägt wird. Vor deren Erscheinen waren es andere Autoritäten, die das Weltbild und die Realität prägten (etwa die Kirche für einen mittelalterlichen Bauern). Jahrzehntelang hatte etwa die Tagesschau in Deutschland eine beinahe sakrale Bedeutung in der Prägung von Realität. Die ernsten, aber ruhigen Sprecher und Sprecherinnen erklärten, was sich an einem Tag an Relevantem ereignet hatte. Spötter stellten schon früher den glücklichen Umstand fest, dass in der Welt immer gerade so viel passierte, dass es 15 Minuten Tagesschau füllte. Aber die Auswahlfunktion der Tagesschau-Redaktion war unabänderlicher Standard, ob etwas geschehen und wichtig war. Berichteten ARD und ZDF am Abend darüber, dann war es relevant. Taten sie es nicht, war es nicht relevant. Eine ähnliche Funktion nahmen überregionale Blätter wie die BILD, SZ und FAZ oder natürlich die Lokalzeitungen ein, wenn es um die Ereignisse um den eigenen Wohnort ging.

Ich verwende das Präteritum, weil die andauernde Medienkrise diese Gegebenheiten hinfällig gemacht hat. Die Lokalzeitungen sind seit spätestens den 1990er Jahren in einem dauernden Niedergang, der mittlerweile selbst solche publizistischen Flaggschiffe wie die BILD erfasst hat, deren Auflage und Wirkungskreis beständig sinken. Die Tagesschau ist mittlerweile ein Medium für Menschen jenseits der 60, und das nicht nur, weil sie sich so anfühlt - die Zuschaueranalysen der Sender sprechen eine eindeutige Sprache.

Doch dieser Zuschauer- und Leserschwund ist nur eine Seite der Medaille. Er ist vorrangig wirtschaftlich relevant: die sinkenden Zahlen bedingen ein geringeres Angebot und einen allgemeinen Qualitätsverfall, weil sich alles auf der Suche nach der größten Abonnentenzahl am kleinsten gemeinsamen Nenner ausrichtet. In den letzten 20, 30 Jahren entstand so das Problem einer großen Einheitsmeinung, der permanenten Großen Koalition, aus der Herdenverhalten wie die unreflektierte Begeisterung für die wirtschaftsliberale Reformpolitik oder die Willkommenskultur 2015 entstand. Gegen diese Entwicklung kämpften erst die Linken - man denke NachDenkSeiten als pars pro toto -, dann die Rechten an. Beide nutzten Begriffe von "Manipulation", "Meinungsmache" und "Lüge" als Frame für diese Einseitigkeit der medialen Palette, ein Framing, das sich nun rächt, weil es zu einem allgemeinen Vertrauensverfall beigetragen hat.

Der Aufstieg der Sozialen Netzwerke auf der einen Seite, der Konsumenten von den von Niklas Luhmann noch als systemisch entscheidend begriffenen Massenmedien unabhängig gemacht hat, und der allgemeine Vertrauensverlust auf der anderen Seite sorgen dafür, dass es keine Institution mehr gibt, die eine allgemein gültige Realität definieren kann. Egal welche politische Ausrichtung man selbst vertrat, wurde früher im Allgemeinen nicht gezweifelt, dass die Tagesschau die Realität wiedergab. Man stritt zwar um die Interpretation oder die Priorität (sprich: Beitragslänge), den diese jeweiligen Realitätsbeschreibungen hatten, aber nicht darüber, ob Dinge tatsächlich passiert waren.

Das ist aber heutzutage zunehmend der Fall, und das sorgt dafür, dass es immer schwieriger wird, einen gemeinsamen Referenzrahmen zu bilden. Das ist für jemanden, der ein engagierter Parteigänger der jeweiligen Frage ist, erst einmal kein Problem. Bin ich etwa ein überzeugter Sozialdemokrat, so muss ich mir keine Sorgen darüber machen, welche Ereignisse wie einzuordnen sind - Johannes Kahrs und Andrea Nahles werden es mir mitteilen, und ich muss den Frame nur übernehmen. Alexander Gauland und Alice Weidel übernehmen diese Funktion bei der AfD, und so weiter. Aber nur ein kleiner Teil der Bevölkerung sind engagierte Parteigänger, die in der Lage sind den Nachrichten und deren Einordnungen so zu folgen, dass sie alle Wendungen mitmachen können. Bin ich zum Beispiel engagierter SPD-Parteigänger, so änderte sich meine Realität bezüglich des Verfassungsschutzes innerhalb einer Woche viermal. Erst hatten wir einen kompetenten Chef, der von der Opposition angegriffen wurde, dann wurde er untragbar und musste weg, was meine Partei heldenhaft einforderte, dann gewann Andrea Nahles einen erfolgreichen Deal, dann war der Deal aber schlecht und musste neu verhandelt werden. Verfolge ich als Parteigänger die Nachrichten aufmerksam und bekomme das Framing geliefert, kann ich diese Schwünge einerseits mitmachen und mich andererseits gegen konkurrierende Narrative immunisieren.

Tue ich das aber, wie die Mehrheit der Deutschen, nicht, so prasseln völlig widersprüchliche Narrative auf mich ein. Verfolge ich zudem - erneut wie die Mehrheit der Deutschen - die Nachrichten nur gelegentlich und bruchstückhaft, so erhalte ich diese Narrative nur in verstümmelter und völlig inkohärenter Form. Anstatt ein parteiideologisch geschlossenes Weltbild formen zu können, bleibt reines Chaos. Der einzige Eindruck, der sich dann aufdrängen kann, ist der, dass niemand irgendetwas Genaues weiß. Und das ist ein neues Phänomen. Hätte vor 20 Jahren die Tagesschau erklärt, dass es eine Hetzjagd in Chemnitz gegeben hätte, hätte dies eine Realität konstituiert. Heute erklären dagegen konkurrierende Kanäle wahlweise, dass das Video überhaupt nichts derartiges zeige, dass es nur ein Nacheilverhalten zeige oder dass vorher auch schlimme Dinge passiert seien oder was auch immer. Als nur mäßig interessierter Beobachter ist es mir unmöglich, eine klare Realität zu bilden. Der Eindruck ist, dass niemand Genaues sagen kann. Und das ist tödlich.

Seit mittlerweile über einem Jahr fahre ein ein Selbst-Experiment zu diesem Thema. Ich lese praktisch keine Nachrichten über die Mueller-Ermittlungen gegen Trump und sein Wahlkampfteam wegen des Verdachts auf russische Einflussnahme im Wahlkampf 2016. Ich habe nicht die geringste Ahnung, wie es um die Ermittlungen aktuell steht, welche Leute wegen welchen Verbrechen angeklagt sind und wie die jeweiligen Parteien zu den Detailfragen stehen. Angesichts dessen, dass ich täglich viele Nachrichten über verschiedene Kanäle konsumiere, bekomme ich natürlich über Nachrichtenosmose - Erwähnungen in themenfremden Artikeln, Überschriften, etc. - trotzdem Dinge mit. Aber ich beschäftige mich nicht aktiv mit dem Thema.

Der Eindruck, der sich dann unweigerlich aufdrängt, ist der einer konstanten Lawine von immer neuen Enthüllungen. Ich kann inzwischen nur zynisch auflachen wenn in meiner Timeline progressive Journalisten zum x-ten Mal von den "entscheidenden" oder "alles verändernden" neuen Enthüllungen schreiben. Die gibt es zuverlässig alle ein, zwei Wochen, ohne dass sich ostentativ etwas wahrnehmbar ändert. Angesichts der gewaltigen Menge an ständig neuen Nachrichten gibt es aber nur zwei Möglichkeiten, diese einzuordnen:

a) Es ist was dran, und Trump hat (von mir undefinierbaren, weil Detailwissen mangelnden) Dreck am Stecken.

b) Das Ganze ist ein riesiges, schmutziges, politisches Spiel seiner innerparteilichen Gegner.

Ob ich Variante a) oder b) anhänge hängt nicht auch nur im Geringsten daran, welche Qualität die Nachrichten und Enthüllungen haben. Sie hängen daran, welchem politischen Stamm ich mich zugehörig fühle. Denn Progressive und Konservative teilen keine gemeinsame Realität. In den USA ist das wesentlich weiter fortgeschritten als in Deutschland: FOX News etwa berichtet über die meisten dieser Enthüllungen nicht einmal; in der konservativen Filterblase finden sie schlicht nicht statt. In der progressiven Blase, auf der anderen Seite, ist jede dieser Enthüllungen von erderschütternder Bedeutung und zeigt einmal mehr die bodenlose Bosheit der GOP auf. Mir als uninformiertem, uninteressierten Zuschauer ist völlig unklar, was die Wahrheit ist (so es denn eine gibt); ich falle also auf mein normales Framing zurück und gehe davon aus, dass a) korrekt ist.

Eher unfreiwillig habe ich dasselbe Experiment im Falle Maaßen mitgemacht. Aus persönlichen Gründen war ich gerade an den zwei, drei Tagen, als die Geschichte mit dem Chemnitz-Video lief, nicht in der Lage der aktuellen Nachrichtenlage jenseits der gröbsten Überschriften zu folgen. Die atemlose 24/7-Berichterstattung ging mir also raus. Seither geht sie aber davon aus, dass ich ihr gefolgt bin. Dieses Loch im Kontext macht es mir unmöglich, eine vernünftige Meinung auf Basis irgendwelcher "Fakten" zu bilden. Ich habe es dann auch gar nicht versucht und nicht einmal das eigentliche Video geschaut. Meine Überlegung war, dass es keinen Sinn macht. Aus der Nachrichtenlage schien mir offensichtlich, dass ein allgemein anerkanntes Bild der Geschehnisse ohnehin nicht existierte. Wo ernsthaft darüber diskutiert wird, ob nun eine Hetzjagd oder ein Nacheilverhalten sichtbar sind, braucht man auf so etwas nicht zu hoffen. So investierte ich die kognitive Energie erst gar nicht sondern fiel einfach auf mein progressives Framing zurück: Der Verfassungsschutz ist ohnehin nicht vertrauenswürdig, Seehofer sowieso der Feind, ergo ist Maaßen der Bösewicht und versucht den Rechten zu helfen, in deren großen politischen Plan das Ganze eh passt. Das spart mir viel Mühe und Ärger und führt letztlich zu dem für mich wahrscheinlichsten Ergebnis.

Das ist natürlich nur anekdotisch. Aber ich wäre nicht verwundert, wenn es vielen Menschen ähnlich geht. Normalerweise werden wir in unseren Überzeugungen nur sehr selten erschüttert und prüfen diese daher nicht. Das gilt für die Machenschaften des Verfassungsschutzes ebenso wie für die Frage, ob Gender-Identitäten angeboren oder anerzogen sind. Ohne eine allgemein anerkannte Institution, der die Mehrheit der Menschen soweit vertraut, dass diese eine gemeinsame Realität konstituiert, werden wir uns zwangsläufig in Parallelrealitäten aufspalten. Der Plan der AfD etwa, ein eigenes Nachrichtennetz zu schaffen - FOX News und RT stehen offensichtlich Pate - ist da nur folgerichtig. Für die Demokratie ist das eine lebensbedrohliche Situation. Einen Ausweg kann ich aktuell nicht erkennen.

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