Montag, 26. September 2022

Die New York Times tröstet die Inflation der Agenda2010 und beschwert sich über die Verschwörungen der Klimaschützer*innen - Vermischtes 26.09.2022

 

Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Die "Fundstücke" werden mit einem Zitat aus dem Text angeteasert, das ich für meine folgenden Bemerkungen dazu für repräsentativ halte. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten. Dazu gibt es die "Resterampe", in der ich nur kurz auf etwas verweise, das ich zwar bemerkenswert fand, aber zu dem ich keinen größeren Kommentar abgeben kann oder will. Auch diese ist geordnet (mit Buchstaben), so dass man sie gegebenenfalls in den Kommentaren referieren kann.

Fundstücke

1) Inflation Hurts Everyone, But So Does Unemployment

Nevertheless, Furman’s advice is for the Fed to simply push through it. “Fighting inflation should be the central bank's only focus.” Look away as millions of new job entrants and current job seekers get locked out of employment. Do not waver as millions of people who are currently working and supporting their families are thrown into unemployment. Hike and keep hiking until inflation is brought to heel. There is no more urgent economic task. [...] There’s a tendency for people to think of inflation like the flu, where the pain is generalized. It hurts everywhere. With today’s inflation, pretty much everyone has to suffer the “pain at the pump” or feel the sting at the grocery store checkout. In contrast, many people think of unemployment as a sort of localized pain. Sure, it hurts the guy who gets laid off or the woman who struggles to find work but never manages to land a job, but as long as I don’t lose my job… (and I promise you that Jason Furman, Larry Summers, and the authors of that Brookings paper face a near zero probability of job loss as a result of a Fed-induced recession.) This way of thinking about the relative pain associated with inflation versus unemployment helps to legitimize throwing 5 or 6 million (or more) people out of work for the sake of sparing hundreds of millions from higher-than-normal inflation. But it’s also wrong, because unemployment isn’t a localized pain. Not only does the pain of joblessness spill over onto broader society, but new research shows that the pain of inflation actually pales in comparison to the pain of unemployment. (Stephanie Kelton, The Lens)

Ich halte Keltons Punkte hier für sehr bedeutsam und in der Debatte für völlig unterbeachtet. Selbstverständlich ist Inflation nicht geil, aber sowohl die Ökonomiezunft als auch die Zentralbanken fallen gerade wie automatisch auf ihr übliches One-Size-Fits-All-Rezept der Leitzinserhöhungen zurück. Natürlich wird eine Rezession die Inflationsraten drücken, aber eine Rezession ist keine Sache, die man auf die leichte Schulter nehmen sollte. Wie Kelton korrekt beschreibt, hat Arbeitslosigkeit Kollateralschäden, die weit über die direkt Betroffenen hinausgehen.

Das heißt umgekehrt nicht, dass die Inflation einfach ignoriert werden sollte. Aber ich bin in zwei Dingen sehr skeptisch. Einerseits, dass die Orthodoxie, dass Inflation um jeden Preis - auch den einer Rezession - gesenkt werden sollte, hier so vollkommen anwendbar ist. Schließlich ist das keine angebots-, sondern eine nachfrageinduzierte Inflation. Sie kommt vom russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine und die Störungen der Lieferketten durch die Pandemie, nicht durch Gelddrucken. Andererseits, dass die Leitzinserhöhungen überhaupt den erwünschten Effekt haben werden, sowohl insgesamt als auch, vor allem, im richtigen Zeitraum. "Unabhängig" sind die Zentralbanken ohnehin nicht; aktuell reagieren sie geradezu panisch auf die herrschende Stimmung in Elitenzirkeln.

Ich will deutlich machen, dass ich auch kein besseres Rezept habe. Ich bin kein Experte für diesen Kram. Aber als direkt betroffener Person maße ich mir schon das Recht an, zumindest kritische Fragen zu stellen.

2) Die Kunst des Tröstens

Wie bei so vielen Erziehungsfragen scheint mir auch dieser Paradigmenwechsel der letzten zehn, zwanzig Jahre noch unterschätzt zu sein. Das Verhältnis von Kindern und Eltern hat sich auf vielen Feldern ziemlich massiv verändert, nicht überall zum Guten (dass Kinder heute krass behütet und fast nicht mehr draußen sind (siehe auch Resterampe v) ist so etwas, das mir im Alltag besonders auffällt). Aber gerade bei so Dingen wie Trösten oder der Umgang mit Gewalt (ich hatte darüber geschrieben) haben wir uns massiv verbessert. Und das darf man gerne mal benennen und feiern. Die Zivilisation schreitet voran, und wir werden viele miese Eigenschaften los.

3) Nicht weniger, sondern mehr Klimaschutz sofort

Man kann daher zu Recht sagen, dass Deutschland und die EU nicht nur eine Verantwortung für die Finanzierung von Putins Krieg tragen. Sondern dass sie auch für die tiefe soziale und wirtschaftliche Krise verantwortlich sind, weil sie die ökologische Transformation verpennt haben. Und es ist genau dieser Fehler, der im öffentlichen Diskurs in Deutschland heute fast komplett fehlt. Die Bundesregierung hat drei Entlastungspakete über 95 Milliarden Euro geschnürt, um zumindest einen Teil der Leiden von Menschen und Unternehmen zu lindern. Ihr blinder Fleck ist jedoch auch weiterhin die ökologische Transformation. Fast nichts dazu ist in den drei Entlastungspaketen enthalten. Im Gegenteil, die Erhöhung des CO₂-Preises wird für ein Jahr ausgesetzt – ein fatales Signal. Und auch sonst fehlen viele überzeugende Schritte der Bundesregierung, wie sie die Fehler der vergangenen 15 Jahre korrigieren will. [...] Die Lehre aus dieser Krise kann nicht sein, dass wir jetzt Klimaschutz und ökologische Transformation verschieben müssen. Sondern genau das Gegenteil ist der richtige Schluss: Politik und Wirtschaft müssen noch mehr beschleunigen. Nicht nur um Klima und Umwelt und künftige Generationen zu schützen. Sondern weil es gute Wirtschaftspolitik, kluge Sozialpolitik und solide Finanzpolitik zugleich ist. (Marcel Fratzscher, ZEIT)

Ähnlich wie bei der Inflationsthematik bin ich auch hier hin- und hergerissen. Auf der einen Seite gilt dasselbe wie seit 20 Jahren: wir sollten die Energiewende mit massivstem Einsatz bereits seit gestern betreiben. Auf der anderen Seite haben wir gerade eine ehrlich akute Krise, die uns in Beschlag nimmt. Aber inhaltlich bin ich voll bei Fratzscher. Ich halte die Debatte für völlig schief, weil man sich nur auf die Kosten, nicht aber auf den Nutzen und Gewinn der Transformation des Energiesektors konzentriert. Wir hätten heute unbestreitbar weniger Probleme, hätte man in der Ära Merkel nicht die Erneuerbaren sabotiert.

4) Ein 17 Jahre alter Zombie

Das Innovativste am neuen Bürgergeld ist nicht das neue Etikett (das ist ziemlich unoriginell, weil aus Raider einfach Twix mit 50 Euro mehr Inhalt wurde, wie Markus Feldenkirchen richtigerweise schrieb), nein, das Innovativste ist das andere Menschenbild, das hinter dieser Reform ganz zart durchschimmert – eines, das nicht vom Schlechtesten in jeder Person ausgeht. [...] Aus der Erkenntnis, dass es nicht nur falsch, sondern kontraproduktiv ist, Menschen durch Strafe in eine imaginierte Produktivität hineinzusanktionieren, eröffnet sich eine neue Perspektive: Erst wenn Umstände geschaffen werden, in denen Menschen Entscheidungen nicht aus Bedrohungsangst und Panik, sondern mit Besonnenheit treffen können, wenn es um ihre berufliche Entwicklung geht, kann idealerweise eine sinnstiftende und sinnvolle Arbeitsorientierung erfolgen. Auch im Sinne einer liberalen Argumentation sollte jeder die Möglichkeit auf freie Entfaltung haben, auch und gerade, wenn es um Jobperspektiven geht. Der Staat muss hier nicht als autoritärer Vater oder als naive Nanny fungieren, sondern undogmatisch Voraussetzungen schaffen, die Menschen eine existenzielle Autonomie ermöglichen, gerade in Zeiten kollektiver oder persönlicher Krisen. Und das ist in der Tat eine Verschiebung in der staatlichen Wahrnehmung der Bürger:innen, die auf Sozialleistungen angewiesen sind: Es geht nicht um Fordern und Fördern, sondern um ein Zugeständnis an die Mündigkeit und Eigenverantwortung. (Ja, ich zwinkere hier semantisch tatsächlich in Richtung FDP, die noch so unbedingt an den Sanktionen festhalten möchte.) (Samira el-Ouassil, SpiegelOnline)

Wir hatten die Hartz-Sanktionen und diese Studie über ihre Nutzlosigkeit ja bereits im letzten Vermischten diskutiert, weswegen ich das hier nicht wieder aufwärmen will. Ich stimme aber el-Ouassil zu, dass die liberalen Prinzipien bei Hartz-IV und dem Sanktionsregime tatsächlich wesentlich in den Hintergrund gedrängt werden, weil die von mir beschriebene Lust am Strafen im Vordergrund steht: diese Menschen erhalten Geld von der Gemeinschaft (finanziert aus Steuern) und können dafür keine vernünftige Gegenleistung erbringen, weswegen die von el-Ouassil angesprochene Mündigkeit und Eigenverantwortung gerade eingeschränkt wird. Ich halte das auch für keinen Widerspruch zu liberalen Werten; diese waren im liberalen Verständnis schon immer verdient, ein Privileg, und nicht verschenkt. Der paternalistische, kontrollierende, strafende Nanny-Staat ist geradezu erforderlich, wo Personen nicht im Besitz der liberalen Privilegien sind.

5) A law to defend human attention is an idea whose time has come

It’s not your imagination. Life really is noisier than it’s ever been. [...] The US National Park Service estimates that noise pollution in the US increases two- to three-fold every 30 years. Fire engine sirens – a good proxy for the loudness of surrounding soundscapes – are up to six times louder than they were a century ago. The World Health Organisation estimates that roughly 65 per cent of Europeans live with noise levels that are hazardous to health. And it’s not just auditory noise. It’s informational noise, too. The average person in the United States consumes at least five times more information on any given day than she did a generation ago. Former Google chief executive Eric Schmidt speculated in 2010 that every two days, we create as much information as we did from the dawn of civilisation up until 2003. The leading experts in the science of human attention say we simply can’t process anything near the standard modern levels of mental stimulation. (Justin Zorn and Leigh Marz, The Sidney Sunday Herald)

Bin unsicher, ob das Gesetz für Informationsoverload so viel Sinn macht; die Ursachen sind ja noch sehr umstritten. Aber die Problematik wird ja bereits seit vielen Jahren diskutiert. Ich halte diese Debatte auch für relevanter als etwa die Echokammer-Debatte (siehe Resterampe i)). Nicht, dass ich eine Lösung sehen würde - mein Zugang zu dem Thema ist, dass wir uns als Gesellschaft daran gewöhnen und entsprechende soziale Normen entwickeln werden. Wir erleben durch diese neuen Technologien Nachteile, aber auch Vorteile - wie durch alles andere auch.

Bei Krach sieht die Sache ganz anders aus. Hier wäre es, wie auch bei Luftverschmutzung, schon lange an der Zeit für wesentlich durchgreifendere Maßnahmen, bedenkt man, wie unglaublich schwerwiegend die Folgen sind. Besonders Lärm ist völlig unterdiskutiert. Ich wohnte einige Jahre an der Hauptstraße unseres Ortes - der keine 5000 Einwohnende hat - und die Lärmbelastung war gigantisch. Seit wir umgezogen sind, ist das wesentlich besser.

Bedenkt man die Erkenntnisse der Gesundheitsforschung, sollte hier viel mehr getan werden, sowohl was die Richtwerte als auch, vor allem, ihre Einhaltung eingeht. Denn Schutzgesetze gibt es ja bereits seit Langem, die werden nur kaum überprüft. Technisch ist das gar nicht so schwer, manche anderen EU-Länder haben bereits vor Jahren damit begonnen, neben Geschwindigkeits- auch Lärm-"Blitzer" aufzustellen.

6) War alles anders?

Nicht allen, die dieses Lagerfeuer radikalisierter Skeptizisten schüren helfen, geht es freilich um die Systemfrage. Und doch gewinnt in der Kakofonie der vielen halbwahren, diffamierenden und sich dem analytischen Diskurs entziehenden Kritik die Erzählung vom radikal unehrlichen oder radikal dämlichen deutschen Staat im Ausgang der Pandemie zu viel Boden – mit einer Konsequenz: Das Zutrauen schwindet, dass ein solcher Staat gerechte Kriege führen oder den Klimawandel wirkungsvoll bekämpfen kann. Darin liegt auch der Reiz für wahre Feinde des Systems: Es bieten sich hier mannigfaltige Möglichkeiten für die Destabilisierung von Demokratie und das Vorbereiten weiterer toxischer Diskurse. Es kann ein Narrativ von Obrigkeit und Eliten gestärkt werden, derer man sich aufgrund fehlender Kontrollmechanismen entledigen muss. Damit es dazu kommt, müssen zwei Behauptungen geglaubt werden: dass in der Pandemie die Obrigkeit willkürlich agiert und die Kontrolle versagt hat. Sich dieser Erzählung entgegenzustellen, ist wahnsinnig schwer – und sie hat gewiss das Potenzial, zur ersten mehrheitsfähigen Verschwörungserzählung Deutschlands zu werden. Umso wichtiger ist es nun, das Feld der Historisierung der Pandemie nicht zu räumen. Noch sind die Erinnerungen an Corona, wie es bis hierhin wirklich war, frisch genug, um auf sie zurückzugreifen. Nicht, indem man jeden – aus heutiger Sicht – Quatsch rechtfertigt, die panischen Outdoor-Abstandsgebote des ersten Lockdowns etwa oder die verbreitete demonstrative Ignoranz gegenüber den Hinweisen auf psychische Gesundheit bis weit ins Jahr 2021. Man muss vielmehr daran erinnern, was man wusste und was man noch nicht wissen konnte, als der Quatsch geschah. Und man muss daran erinnern, dass auch überzogene, unpräzise oder bis heute unzureichend ausgewertete Maßnahmen viele Leben gerettet haben. ( und , ZEIT)

Der Essay ist insgesamt sehr lang und zur Gänze lesenswert, ich zitiere hier nur den Schluss. Eine Sache, die mir in der letzten Zeit vermehrt auffällt, ist der große Überlapp zwischen denjenigen, die kategorisch die Pandemieschutzmaßnahmen - von Testungen über Masken zu Impfungen - ablehnten und denen, die nun die westliche Unterstützungspolitik für die Ukraine ablehnen (die meisten Kommentatoren hier im Blog sind da in meiner Bubble die absolute Ausnahme). Anders ausgedrückt: wer bei der Kategorie "Lieblings-Virolog*in" das Kreuz bei "Streeck" machte, kreuzt wahrscheinlich bei der Ukrainefrage auch "Varwick" an.

Ich finde das nicht sonderlich überraschend. Wer der Überzeugung ist, dass der Staat nicht grundsätzlich das Wohl der Bürger*innen im Blick hat, sondern eine sinistre Agenda verfolgt - ob als Instrument fremder Mächte vom Kapitalismus zum internationalen Judentum und wieder zurück oder einfach aus Machtdrang des "deep state" - wird das nicht thematisch auf ein Feld eingrenzen.

7) Why is motherhood so poorly portrayed in video games?

And games, you may be startled to discover, are not too great at portraying motherhood – though they seem to have fatherhood all figured out. Did you know that once you have a daughter you suddenly become aware that women are people, too? Who could have seen that coming? This modern phenomenon, known as the “dadification of games”, has largely come about through game designers and writers growing up, becoming parents and having all these feelings about protectiveness and caring that they want to express through their chosen medium. See The Last of Us, BioShock Infinite and The Walking Dead among others. Meanwhile, due to the fact that not a lot of senior game designers are women, and because many of the ones that are women are often forced to choose between career and family – because sexism is bullshit – the motherhood stories just don’t get told. [...] If everything I learned about motherhood was from games, a large part of it would be “you die roughly five minutes after giving birth, surviving just long enough to leave a memento or a letter that will later serve as the motivation for your child to do some big quest”. You are less a nurturing, sentient human being, more a plot device. The statistical probability of this happening is worrying on a pandemic scale: (Kate Grey, Guardian)

Eltern in der Fiktion sind ein merkwürdiges Feld, aber die Videospiele spiegeln hier nur eine Entwicklung, wie sie aus der Literatur mindestens seit Homer bekannt ist. Mütter sind entweder idealisierte und distanzierte Behälter für irgendwelche Werte, wie Frau Ute aus dem Nibelungenlied, oder - wesentlich häufiger - sterben recht früh in der Geschichte, weil ihre Präsenz als Ballast für die Entwicklung des Protagonisten oder der Protagonistin empfunden werden würde. Man denke nur an Bambi.

Umgekehrt passen Väter einfach wesentlich besser in viele traditionelle Narrative, weil sie ihrer gesellschaftlich zugedachten Rolle nicht so sehr zuwiderlaufen wie Mütter. Oft genug werden Eltern einfach komplett um die Ecke gebracht, damit eine Mentorfigur übernehmen kann, aber gerade in letzter Zeit ist das "Dadsploitation"-Genre sehr beliebt geworden. Es nahm seinen Anfang mit "Taken" mit Liam Nesson in der Hauptrolle, aber "The Last of Us" ist sicherlich das Äquivalent im Videospielsektor. Und die "Lone Wolf and Cub"-Stories gibt es ja auch schon seit Ewigkeiten.

Lange Rede, kurzer Sinn: die Reduzierung von Müttern ist kein Merkmal von Videospielerzählungen, sondern von Erzählungen, period. Das deckt sich mit den gesellschaftlichen Erwartungen an Mütter, die eher unsichtbar sein sollen: ihre Arbeit gehört in den Privatbereich der Familie und des Heims und soll gut, aber unauffällig durchgeführt werden. In dieser Aufopferungsrolle gibt es wenig Raum für interessante Narrative.

8) Lost Hope of Lasting Democratic Majority

Today we wish a belated and maybe not-so-Happy 20th Birthday to “The Emerging Democratic Majority,” the book that famously argued Democrats would gain an enduring advantage in a multiracial, postindustrial America. [...] It fueled conservative anxiety about America’s growing racial diversity, even as it encouraged the Republican establishment to reach out to Hispanic voters and pursue immigration reform. The increasingly popular notion that “demographics are destiny” made it easier for the progressive base to argue against moderation and in favor of mobilizing a new coalition of young and nonwhite voters. All of this helped set the stage for the rise of Mr. Trump. [...] The authors said the “key” for Democrats would be in “discovering a strategy that retains support among the white working class, but also builds support among college-educated professionals and others.” But the book did not contain a road map to pulling it off. It said, “They can do both.” The optimism was rooted in the assumption that Clinton-Gore had already solved the problem. [...] In retrospect, gun control and environmental issues were harbingers of one of the major themes of postindustrial politics: White working-class voters were slowly repelled by the policy demands of the secular, diverse, postindustrial voters who were supposed to power a new Democratic majority. [...] Perhaps this is the book’s greatest shortcoming. It assumed that the transition to a new postindustrial, multiracial society would come without anything like the conflict, unrest and reaction that accompanied industrialization. Indeed, the book failed to imagine the basic contours of political conflict in the postindustrial era — let alone why the Democrats would be well positioned to guide the nation through those challenges. Instead, it assumed a peaceful, prosperous and content nation, one where centrist Democrats offering small solutions to small problems might fend off stolid Reagan-era Republicans in perpetuity. It didn’t turn out that way. (Nate Cohn, New York Times)

Es ist eine spannende Rückschau, deren Lektüre ich durchaus zur Gänze empfehle, auch weil Cohns Schlussfolgerungen für mich richtig klingen. Ich muss bei dieser Thematik immer wieder an die lakonische Feststellung eines Freundes von mir, der für YouGov arbeitet, denken: "Some people don't want to be part of a multicultural coalition." Da können Linke noch so sehr für den Mindestlohn und bessere Arbeitsbedingungen sein; wenn das Gesamtpaket nicht stimmt, übernimmt etwas anderes. Ich habe deswegen auch wenig Geduld für die ewige "sie stimmen gegen ihre wirtschaftlichen Interessen", was dann etwa von den NachDenkSeiten ständig mit Manipulation erklärt wird (weil wer mal so schlau wie diese Linken ist, muss zwangsläufig wie sie denken, oder so). Wir wählen nicht nach unseren wirtschaftlichen Interessen, zumindest nicht nur oder auch ausschlaggebend.

9) Red love, for all

If we begin by abolishing our kitchens, what else might we get a taste for destroying, and for creating? A bit of self-governance here, some collectively organised childcare there: begin with the kitchen, and we might end up with a whole new society. This is the premise of the revolutionary politics of family abolition. [...] The family, Lewis and other abolitionists and feminists argue, privatises care. The legal and economic structure of the nuclear household warps love and intimacy into abuse, ownership, scarcity. Children are private property, legally owned and fully economically dependent on their parents. The hard work of care – looking after children, cooking and cleaning – is hidden away and devalued, performed for free by women or for scandalously low pay by domestic workers. Even the happiest families, in the words of the writer Ursula Le Guin, are built upon a “whole substructure of sacrifices, repressions, suppressions, choices made or forgone, chances taken or lost, balancings of greater or lesser evils”. If we abolish the family, we abolish the most fundamental unit of privatisation and scarcity in our society. More care, more love, for all. [...] Family abolition asks us to take seriously the idea that children are everyone’s responsibility – not just that of their parents. [...] Lewis acknowledges, too, that there is something psychically challenging about family abolition. As with all abolitionist politics, family abolition calls into question some of our most deeply held notions of ourselves: about kinship, belonging, identity; about what we consider natural, about what can be lived differently. (Erin Maglaque, The New Statesman)

Die hier dargestellte Utopie (oder Dystopie, je nach Standpunkt) ist sicher eine Extremversion, aber die Gedanken finde ich grundsätzlich sehr spannend. Die heutige Verabsolutierung der Familie und ihrer absoluten Bestimmungsmacht über die zugewiesenen Bereiche der Erziehung ist eine relativ neue Entwicklung, und ich finde diese ziemlich faszinierend. Inzwischen ist das Eintreten für diese Art von Familienstruktur konservativ, aber das war vor einigen Jahrzehnten noch anders. Die Idee, dass die Gesellschaft als Ganzes eine größere Rolle in der Erziehung der Kinder hat, war etwa zentraler konservativer Glaubensbestandteil. Man wollte die Kinder den Eltern im Gegenteil entziehen, etwa für die Kirchen, entsprechenden Vereine, etc.

Ich habe auch selbst schon öfter dafür argumentiert, wieder stärker eine gesamtgesellschaftliche Verantwortung für Kindeserziehung, Pflege etc. zu begreifen. Der alte Spruch "it takes a village to raise a child" ist leider in Vergessenheit geraten. Die ständige Überforderung, die Eltern heutzutage (völlig zurecht) empfinden, die völlig uneinlösbaren Ansprüche, hängen auch damit zusammen, dass man sie weitgehend damit allein lässt. Das können staatliche Ausgleichszahlungen und Hilfsangebote nur eingeschränkt kompensieren. Es braucht die Gesellschaft als Ganzes.

10) This Threat to Democracy Is Hiding in Plain Sight

But Mr. Trump’s attempts to subvert the election also revealed the system’s vulnerabilities, and his allies are now intently focused on exploiting those pressure points to bend the infrastructure of voting to their advantage. Their drive to take over election machinery county by county, state by state, is a reminder that democracy is fragile. The threats to it are not only violent ruptures like the Jan. 6 attack on the Capitol but also quieter efforts to corrupt it. [...] Mr. Trump and his allies have set about removing and replacing these public servants, through elections and appointments, with more like-minded officials. [...] Installing election deniers as top election officials is just one element of this plan. Much less visible, but just as important, is the so-called precinct strategy, in which Trump allies are recruiting supporters to flood the system by signing up to work in low-level election positions such as poll workers. [...] In some parts of the country, this is already happening. [...] The real threat to America’s electoral system is not posed by ineligible voters trying to cast ballots. It is coming from inside the system. (The Editorial Board, New York Magazine)

In diesem Artikel ist nichts Neues für regelmäßige Leser*innen dieses Blogs; ich finde das Bemerkenswerte eher, dass das Editorial Board der NYT es als notwendig empfindet, das aufzuschreiben. Es ist mehrere Jahre überfällig, und es wird sie nicht davon abhalten, weiterhin alles zu bothsiderisieren, aber man wird ja noch hoffen dürfen. Es ist jedenfalls gut zu sehen, dass selbst die ehrwürdige NYT langsam endlich mal anerkennt, dass es in den USA nur noch eine demokratische Partei gibt.

Resterampe

a) Guter Punkt zu Hubertus Heil als effektivem Minister.

b) Sascha Lobo nimmt die SPD-Weigerung, Panzer in die Ukraine zu schicken, auseinander.

c) Alexa darf künftig Fragen mit Werbung beantworten.

d) Wolfenstein 3D ist nun offiziell ab 16 freigegeben. Bis 2019 war das Spiel noch bundesweit beschlagnahmt. Ein schönes Artefakt, das zeigt, wie völlig überzogen der Jugendschutz bei Videospielen noch bis weit in die 2000er Jahre agierte.

e) We really, really don't need a big recession. Und passend dazu.

f) Interessante Analyse der Anti-Inflationspolitik.

g) Ebenso interessant zur Biologie in der Trans-Frage.

h) Ich verlinke hier noch einmal den Beitrag, warum das "Aber China"-Argument Blödsinn ist.

i) Die so beliebte Theorie der Echokammern, in die wir angeblich aufgetrennt sind, wird in diesem Paper als Mythos entlarvt.

j) Dass religiöse Fanatiker ihre eigene Religion nicht kennen, ist wahrlich kein neues Phänomen. Bei Islamisten ja auch nicht anders.

k) Saying the quiet part out loud.

l) Die CSU in Erlangen lehnt Solaranlagen ab, weil "man die ja sieht". NIMBY bis der Planet brennt.

m) Die Ungleichheit in USA und UK wird ja gerne angezweifelt, daher hier mal wieder neue Zahlen von der FT.

n) Mal wieder was zum Thema Autosubventionen und Autopolitik.

o) "The most BaWü thing imaginable" ist in meinen Augen genau das Erfolgsrezept der Grünen hier. Wer wissen will, wie die CDU die Macht im Ländle verlor, muss sich nur das anschauen.

p) Guter Punkt zum Wissenschaftsbetrieb in Deutschland.

q) Für den ökonomischen Analphabeten Lindner fördern hohe Zinsen Investitionen. Glaubt der den Mist eigentlich selbst? Er kann ja gerne zur Inflationsbekämpfung dafür sein, aber dass eine geldpolitisch induzierte Rezession Investitionen fördert ist wirklich Bockmist.

r) Bei der BILD läuft mal wieder offener Rassismus.

s) Anlässlich der getürkten Referenden in der Ostukraine hat Hedwig Richter einen Thread zur Geschichte solcher "performativer Unterwerfungsakte".

t) Bamm.

u) Diese Geschichte zeigt mal wieder schön, dass ganz viele moral panics überhaupt nur durch Medienberichterstattung entstehen.

v) Wenig überraschend hat die Pandemie den Bewegungsmangel bei Kindern verschärft.

w) Auch so Formulierungen, bei denen sich einem die Zehennägel aufrollen: "Studierende sollen möglichst wenig leiden", im Hinblick auf das Heizen im Winter. Brrrrr.

x) Schopper bezieht Stellung im Konflikt zwischen GEW, Philologenverband und dem Streit um Gesamtschulen.

y) Sehr interessante Analyse der westlichen Afghanistanbilder.

z) Das sollten sich viele Linke merken.

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