Samstag, 26. September 2015

One Coup Too Far: Der Rücktritt von John Boehner im Kontext

Der Sprecher des Repräsentantenhauses, John Boehner, hat seinen Rücktritt angekündigt. Unter seinen politischen Gegnern, den Democrats, waren die Reaktionen hierauf eher verhalten. Als Marco Rubio die Nachricht während einer Wahlkampfveranstaltung brühwarm seinen Anhängern unterbreitete, jubelten diese jedoch als ob sie gerade eine Wahl gewonnen hätten. Dabei war Boehner ein Republican, und noch dazu einer, der nicht gerade durch innige Nähe zu Obama aufgefallen wäre. Warum also jubeln die Republicans, wenn ihr eigener Sprecher und effektiver Parteivorsitzender den Rücktritt ankündigt? Es scheint jedenfalls nicht, als ob Boehner mit mehr Liebe auf seine eigenen Leute blicken würde. In einem Interview vor einer Woche erklärte er, dass man alles ertragen würde, wenn man für eine Sache kämpfe, und fügte einen hilfreichen Vergleich hinzu: "Müllmänner gewöhnen sich ja auch an den Gestank von Müll." Nun, das klingt nicht gerade nach einer Liebesbeziehung zwischen ihm und den Abgeordneten, deren Sprecher er ist. Was also ist da passiert?

John Boehner, ein treuer Parteisoldat und verlässlicher Funktionär seit er seine Karriere begonnen hatte, wurde im Januar 2011 im Zuge des Sieges der Republicans bei den Midterm Elections 2010 zum Sprecher gewählt. Es war die große Zeit der Tea Party und des Konflikts um Obamacare, und die Democrats hatten zum ersten Mal seit 2006 die Mehrheit im Repräsentantenhaus wieder verloren (im Senat behielten sie bis 2014 die Mehrheit). Für Obama brachen wegen der starken Gewaltentrennung in den USA, die für effektives Regieren eine Mehrheit in beiden Kammern des Kongresses und die Macht im Weißen Haus erfordert, schwere Zeiten an. Tatsächlich erklärte Boehner auch ziemlich offen, dass er keinerlei Interessen an Kompromissen mit dem Weißen Haus besäße. Das Ziel der Republicans war die Abwahl Obamas 2012 und die Kontrolle über beide Kammern des Kongresses. Boehners Strategie zum Erreichen dieses Ziels war eine totale Obstruktionspolitik - eine Taktik, mit der auch Deutschland seine Erfahrungen hat.

Die Regierung kam denn auch sofort in schwieriges Fahrwasser. Noch 2011 bescherten Boehners Truppen Obama die erste Krise, als sich die Republicans weigerten, eine Routineabstimmung - die Anhebung der Obergrenzung der US-Schulden, das sogenannten debt ceiling - durch den Kongress zu winken. Wäre das debt ceiling nicht zum Stichtag angehoben worden, wären die USA zahlungsunfähig geworden. Boehner hoffte, durch diese Strategie einen Haushalt nach den Vorstellungen der Republicans erzwingen zu können. Das Spiel mit dem Feuer ging glimpflich aus: Obama einigte sich mit den Unterhändlern auf den sogenannten Sequester: so nicht bis zu einem neuen Stichtag ein Kompromiss gefunden wurde, würden im Haushalt automatisch Mittel gestrichen - ein fixer Wert quer durch alle Posten. Das betraf auch Lieblingsprojekte der Republicans wie das Militär, die diese gerne aus dem Deal herausgehalten hatten. Die Voraussage vieler Experten, dass Obamas Regierung durch den Sequester stärker getroffen werden würde als die Republicans, erfüllte sich nicht. Die Regierung überstand die Krise, und das Kriegsbeil wurde schließlich begraben.

Zwar hatte Boehner einen vergleichsweise guten Haushalt für seine Partei herausholen können, aber vielen der 2010 neu gewählten radikalen Republicans erschien der Kompromiss mit Obama als Sündenfall, und das debt ceiling war als Geißel in zukünftigen Verhandlungen nicht mehr zu gebrauchen, da die Republicans offensichtlich nicht gewillt gewesen waren, die Zahlungsunfähigkeit der USA zu riskieren. Für Boehner zeigte sich damit die Dynamik, die ihm in den kommenden Jahren die meisten Probleme bereiten würde: obwohl er nach den normalen Maßstäben des Politikbetriebs große Erfolge erzielten konnte, war dies dem lautstarken und irrationalen radikalen Flügel - etwa ein Drittel der republikanischen Abgeordneten - seiner Partei zu wenig. Zwar war der Kompromiss nie ernstlich in Gefahr, weil Boehner ihn notfalls mit den Stimmen der Democrats hätte durchbringen können, aber das wäre für ihn natürlich das politische Todesurteil gewesen.

Boehner verlegte sich in der nächsten Zeit auf eine unauffälligere Obstruktionsstrategie, die aber Mitt Romney nicht retten konnte, der 2012 die Wahl verlor. Zwar hielten die Republicans mühelos ihre Mehrheit im Repräsentantenhaus, konnten aber auch 2012 den Senat nicht erobern, so dass Obama besonders bei der Ernennung wichtiger Verwaltungsposten noch relativ viel Freiraum besaß. 2013 aber konnte er die Radikalen nicht mehr unter Kontrolle behalten - sie erzwangen den Shutdown der Regierung (siehe Deliberation Daily damals), indem sie sich weigerten, einen Haushalt zu verabschieden. Obama hatte aus den Jahren 2011 und 2012 die Lehre gezogen, dass ein Kompromiss mit den Republicans sinnlos war - egal wie weit er ihnen entgegen kam, sie würden ihm nichts dafür geben und weiter mit den härtesten Maßnahmen drohen. Boehner meinte seine Strategie, die er bereits 2011 erklärt hatte, ernst, auch wenn er ein Gegner von theatralischen und sinnlosen Zuspitzungen wie dem Shutdown war. Obama nutzte die Auseinandersetzung und gab nicht nach. Nach rund zwei Wochen gaben die Republicans auf. Die Grenzen der Obstruktionspolitik wurden offensichtlich, und Obama begann in verstärktem Maße - besonders ab den Midterm Elections 2014, bei denen die Democrats den Senat verloren - um den Kongress herumzuarbeiten und die exekutiven Machtmittel stärker zu nutzen. Gleichzeitig gewann Boehner mit dem Senat zwar mehr Rückhalt, aber auch dort schwangen sich die Radikalen auf häufig unangenehme Art ins Scheinwerferlicht, etwa in Gestalt des texanischen Senators Ted Cruz.

Anfang 2015 sah die Bilanz Boehners aus republikanischer Sicht damit gemischt aus. Die meisten Rebellionen der Radikalen im Kongress hatte er abwehren können, sowohl der debt-ceiling-Streit von 2011 als auch der Shutdown von 2013 - die öffentlichsten Auseinandersetzungen mit Obama - waren verloren gegangen. Gewonnen hatte Obama allerdings in beiden Fällen nichts, seine Siege waren nur defensiver Natur. Boehner kann damit für sich in Anspruch nehmen, den Kongress effektiv lahmgelegt zu haben. Er erreichte dies vorrangig, indem er die meisten Gesetzesvorschläge gar nicht erst zur Abstimmung freigab und damit die Lesungen, Ausschüsse und Debatten neutralisierte. Tatsächlich sind die Kongresse unter Boehner unter den unproduktivsten der US-Geschichte überhaupt. Es hängt wohl vom parteipolitischen Standpunkt ab, wie man diese Errungenschaft bewertet. Eines aber war mittlerweile überdeutlich geworden: die Radikalen seiner Partei hassten ihn und die Tatsache, dass er gelegentlich eben doch das Notwendige tat und nicht irgendwelche symbolischen, aber erfolglosen Gesten wie den Shutdown übte. Sie warfen ihm vor, zu nachgiebig zu sein. Der konstante Druck, den Boehner so erfuhr, hinterließ seine Spuren. Kommentare wie der Müllmänner-Vergleich zeigen dies allzu deutlich. So hoffe Boehner, 2015 sein Amt an einen handverlesenen Nachfolger übergeben zu können: Eric Cantor, einen anderen klassischen Republican, der weniger den radikalen Evangelikalen der Tea Party als den Interessen des Großen Geldes zugetan war. Doch völlig überraschend verlor Cantor 2014 die Vorwahlen für seinen Senatssitz gegen einen Tea-Party-Rebellen und ging als Lobbyist in die Wirtschaft. In den letzten Wochen drohten die Radikalen zudem, den Kongress wie bereits 2013 zu einem Shutdown der Regierung zu zwingen.

Boehners Rücktritt ist vor diesem Hintergrund zu sehen. Er hat keine Lust mehr, bis 2016 weiterzumachen. Als lahme Ente in das Wahljahr 2016 zu gehen ist auch keine Option. Für Boehner ist es zudem wichtig, die destruktiven Tendenzen der Tea Party einzudämmen, weswegen er ihnen bei der Bestimmung seines Nachfolgers so wenig Raum wie möglich gewähren darf. Daher sein überraschender wie kurzfristiger Rücktritt, der seinen Gegnern nur wenig Zeit lässt, sich hinter einem Kandidaten zu sammeln. Wie so häufig in radikalen Bewegungen wissen die Tea-Party-Anhänger zwar, wogegen sie sind, können sich aber nur schwer auf etwas einigen, für das sie sind. Dies ist auch in den Vorwahlen zu beobachten, wo die Kandidaten der radikalen Rechten steigen und fallen während die Kandidaten des Establishments stabil bleiben. Es ist daher wahrscheinlich, dass ein Abgeordneter wie Steven McCarthy aus Kalifornien, der vor allem durch seine guten Funktionärseigenschaften aufgefallen ist, der nächste Sprecher wird. Andererseits sollte man nie die destruktive Kraft der Tea Party unterschätzen. Dafür muss man nur John Boehner fragen.

Donnerstag, 24. September 2015

Warum niedrige Leitzinsen wirklich gefährlich sind

Als die USA ihren Unabhängigkeitskrieg gewonnen hatten, gründete sich das junge Gemeinwesen nicht auf die Verfassung, die wir heute kennen - mit ihren Wahlmännern und -frauen, dem Kongress und der Erlaubnis zum privaten Waffenbesitz - sondern auf die so genannten "Articles of Confederation", eine Verfassung die so unpraktikabel war dass sie noch im selben Jahrzehnt durch eben diese Verfassung ersetzt wurde. Damit waren damals nicht alle glücklich, und die Verfassungsväter nutzten das ganze Repertoire ihrer Tricks, um die Eliten des Landes auf ihre Seite zu ziehen. Einer dieser Tricks war die Übernahme der horrenden Schulden der Einzelstaaten, die noch aus dem Unabhänigkeitskrieg herrührten, durch die neue Bundesregierung. Wie zuvor das moderne Großbritannien entstand der amerikanische Staat durch die Einrichtung einer Staatsschuld, die (kurz darauf) von einer semi-autonomen Zentralbank gesteuert wurde.

Die Zentralbank legt bekanntlich die Leitzinsen fest. Sind diese niedrig, ist es günstig, Geld zu leihen, was allgemein das Wachstum ankurbelt (weil Investitionen leichter sind), aber auf der anderen Seite Blasen begünstigt und inflationstreibend sein kann. Sind sie hoch, ist es teuer, Geld zu leihen, was allgemein das Wachstum senkt (weil nicht investiert wird), was Blasen unwahrscheinlicher macht und inflationshemmend sein kann. Sowohl die USA als auch - in etwas geringerem Ausmaß - der Euro-Raum erleben gerade eine ungewöhnlich lange Periode ungewöhnlich niedriger Zinsen, ohne dass es zu der befürchteten Inflation kommt. Sowohl die amerikanische Fed als auch die EZB verfehlen gerade regelmäßig das festgelegte Inflationsziel von 2%, und eine Blase ist gerade auch nicht in Sicht. Trotzdem warnen vor allem konservative bis liberale Kreise beständig vor der drohenden Inflationsgefahr, auch wenn sich ihre bisherigen Warnungen allesamt als falsch herausgestellt haben. Teilweise sind die Warnungen nur noch bizarr. Warum haben diese Leute so viel Angst vor niedrigen Leitzinsen?

Eine Antwort darauf finden wir im Rückgriff auf die eingangs erzählte Geschichte von der amerikanischen Revolution. Die Bundesregierung hat die Staatsschulden nicht aus reiner Nächstenliebe, sondern aus knallhartem Kalkül übernommen. Die Wirtschaft war in der Zeit der "Articles of Confederation" in einem katastrophalen Zustand und das Land in einem desaströsen Handelskrieg mit Großbritannien gefangen, der seine Expansionschancen deutlich hemmte. Besonders die wohlhabenden Pflanzer und Geschäftsleute (die während des Unabhängigkeitskriegs in die Milizen der einzelnen Staaten investiert hatten, indem sie die jeweiligen bonds kauften) fragten sich damals, ob die unabhängige Republik wirklich eine gute Idee war oder ob man nicht unter britischer Herrschaft oder vielleicht einem autoritäreren System besser fahren würde. Durch die Übernahme der Staatsschuld in die neue Bundesregierung wurden die bisherigen Investments, die man bereits fast abgeschrieben hatte, plötzlich wieder stabil und wertvoll und warfen eine sichere, stabile Rendite ab. Mit diesem Schritt band die amerikanische Regierung die reichen Eliten an das junge politische System, eine enge Verklammerung, ohne die eine Demokratie einen schweren Stand hat - man sehe nur nach Weimar, wo ein ähnlicher Mechanismus fehlte und die reichen Eliten ihr Heil mit bekannten Folgen bei autoritären Systemen suchten.

Und genau hier liegt die tatsächliche Gefahr von niedrigen Leitzinsen, solange keine Inflation oder Blasen drohen: niedrige Zinsen mögen das Wachstum ankurbeln und Arbeitsplätze schaffen, aber sie sind schlecht für die Rentiers und ihre Rendite. Wenn diese Gruppen glauben, dass eine demokratische Regierung ihre Interessen massiv gefährdet, kann dies zu ernsthaften Verschiebungen im politischen System führen. Da sich diese Interessengruppen aber hinter den Angstszenarien vom jetzt aber ganz sicher kommenden Inflationsschwung verstecken, ist diese Verbindung nicht offenkundig, erlaubt man ihnen, sich als Vertreter des Gemeinwohls zu präsentieren, während sie in Wahrheit nur Partikularinteressen folgen. Es lohnt daher, auf diesen Zusammenhang hinzuweisen und sich nicht hinters Licht führen zu lassen.

Donnerstag, 17. September 2015

Ein atemberaubender Moment in der Debatte der Republicans

Gestern Nacht fand die zweite Debatte der Republicans im US-Vorwahlkampf statt, dieses Mal mit 11 Kandidaten (Carly Fiorina war nach ihrer starken Performance bei der letzten "Junior-Debatte" mithinzugezogen worden) und über drei Stunden. Abgesehen von einem leichten Strategiewechsel bei Trump (nicht mehr ganz so aggressiv) war die Debatte vor allem reichlich mäandernd mit merkwürdigen Schwerpunktsetzungen (kaum Steuern, überhaupt kein Obamacare). Eine Frage jedoch sticht so heraus, dass man die Antworten auch einem deutschen Publikum zeigen und sie kommentieren will, denn sie offenbaren eine Sollbruchstelle innerhalb der Partei der Republicans, die unter den Bedingungen der Auseinandersetzung mit Hillary Clinton nur größer werden kann.

Die Frage war, welche Frau die Kandidaten auf den 10-Dollar-Schein drucken würden (Video). Hintergrund der Frage ist die Forderung, das bisher rein männliche Roster der Köpfe auf US-Geldscheinen mit wenigstens einer Frau zu diversifizieren, und das US-Schatzamt hat zugesagt, dafür Alexander Hamilton vom 10-Dollar-Schein zu werfen. Diese Entscheidung ist in sich selbst sehr kontrovers, weil der 10-Dollar-Schein einer der am wenigsten gebrauchten Scheine in den USA ist, während neben dem (mit George Washington besetzten) Ein-Dollar-Schein der Zwanziger am Häufigsten gebraucht wird - was eine Initiative auch zum Anlass nimmt, eine Frau auf diesem Schein zu fordern, auf dem zudem das Konfertei von Jackson prangt. Jackson war nicht nur ein Gegner der US-Zentralbank und des Papiergelds allgemein sondern auch ein Rassist, Sklavenhalter und Massenmörder, weswegen es mehr als überfällig ist, ihn aus dem Geldumlauf zu entfernen.

Aber zurück zu den Kandidaten. Auf die Frage, wen sie auf den Schein packen würden - und sind wir ehrlich, in Wirklichkeit lautete die Frage "Nenne eine historisch berühmte amerikanische Frau" antworteten sie wie folgt:

Rand Paul: "You know, I agree with what Carly said on women suffrage, and so I think that Susan B. Anthony would be my choice."
Susan B. Anthony war eine überzeugte Suffragettin und die erste registrierte Wählerin in den USA. Pauls Wahl erscheint daher angemessen, auch wenn Anthony selbst bisher eher unbekannt sein dürfte. Aber die meisten Deutschen dürften Clara Schumann auch nur vom 100-Mark-Schein gekannt haben, von daher wäre das weniger ein Problem. Paul zeigt hier seine libertäre Seite, für Bürgerrechte.

Mike Huckabee: "That's an easy one, I'll out my wife on there. I've been married to her 41 years, she fought cancer and lived through it, she raised three kids, five great grandkids and she put up with me, I mean, who else could possibly be on that money other than my wive? And that way, she could spend her money with her own face."
Es sind Momente wie diese, die man sich eigentlich gar nicht ausdenken kann. Ernsthaft, Mr. Huckabee? Deine Frau? WEIL SIE MIT DIR VERHEIRATET WAR? Ihre sonstigen Errungenschaften: das Erfüllen des konservativen Wunschtraums, Kinder großgezogen zu haben. Das Einzige, was Huckabee zu einer eigenen Lebensleistung einfällt ist, dass sie überlebt hat, ein Erfolg, der es ihr ermöglicht hat die "großartigen Enkelkinder" zu erziehen. Dafür aber könnte sie immerhin ihr "eigenes Geld" ausgeben, statt wie bisher das ihres viel besseren Ehemanns zu verbrauchen. Auf die Frage nach historisch bedeutsamen Frauen, die man neben Washington, Jackson und Lincoln auf die Geldscheine drucken kann fällt ihm genau niemand ein; stattdessen macht er die Frage zu einem dummen, sexistischen Witz über seine Ehefrau. Wahnsinn.
Marco Rubio: "Rosa Parks. An everyday American that changed the course of history."
Eine sichere Bank. Rosa Parks ist schwarz (was es Rubio gleich ermöglicht, sich von Trump und den anderen hatern abzusetzen) und die wohl berühmteste Frau. Niemand kann ernsthaft etwas gegen sie und ihr Ziel zur Gleichberechtigung der Schwarzen haben.

Ted Cruz: "Well, I wouldn't change the ten-dollar-bill, I'd change the twenty, and I would pull Jackson off and I'd leave Alexander Hamilton right where he is as one of our Founding Fathers. And I very much agree with Marco that it should be Rosa Parks, she was a very principled pioneer that helped this country, helped remedy social injustice, and that would be an honor, that would be enitrely appropriate."
Ted Cruz, der als Feuerfresser sonst nur Trump Konkurrenz macht, überrascht hier, indem er nicht nur den Südstaatenliebling Jackson vom Zwanziger werfen will sondern auch den Rosa-Parks-Vorschlag unterstützt. Gleichzeitig aber weiß er, beide für seine Ideologie zu kooptieren: den ersten wirklich großen Fan von big government, Alexander Hamilton, wirft er hier einfach mit Thomas Jefferson und den anderen Founding Fathers in denselben Tea-Party-Topf, und Rosa Parks wird durch das Adjektiv "prinzipientreu" in die sozialkonservative Richtung gezogen. Well played, Mr. Cruz.

Ben Carson: "I'd put my mother on there. She was one of twenty-four children, got married at age thirteen, had only a third-grade education, had to raise two sons by herself, refused to be a victim, wouldn't let us be victims, and has been an inspiration for many people."
Ohne die persönlichen Qualitäten von Mrs. Carson in Abrede stellen zu wollen, aber nichts davon qualifiziert sie als Symbol der gesamten Nation, besoners weil die "vielen Menschen", die sie inspiriert hat, wohl kaum die Hunderter-Marke überschreiten - was in einem Land von über 300 Millionen nicht gerade viel ist. Carsons Begründung ist eine, die ein absoluter Monarch geben würde, der sich einen feuchten Kehricht um seine Nation kümmert, und die Ignoranz, die er gegenüber der Symbolwirkung einer solchen Tat zur Schau stellt, ist beeindruckend. Sie zeigt auch, wie ungeheuer ungeeignet er für das Amt - jedes Amt - ist. Diesen Menschen an die Macht zu lassen ist ein Rezept für radikale, allein getroffene und desaströse Entscheidungen. Daneben findet sich das für schwarze Republicans typische Muster, die Probleme der Schwarzen in den USA komplett ihnen selbst zuzuschreiben. Kein "Opfer" sein zu wollen sondern sein Schicksal selbst in die Hand zu nehmen - wofür Carson mit seiner Lebensgeschichte eindrücklich steht - ist hier einer der vielen Codes, die dazu verwendet werden.

Donald Trump: "Well, because she's sitting here for three hours, my daughter Ivanka sits right here. Other than that, we'll go with Rosa Parks, I like that."
Donald Trump hat das Pech, erst jetzt zum Zug zu kommen, so dass nach Huckabee und Carson der Gag, einen eigenen Verwandten zu nennen - denn er mit entsprechend Arroganz versehen hätte bringen können - lahm verpufft. Dafür hat er das Glück, sich Rosa Parks abschreiben zu können, auf die er alleine vermutlich nie gekommen wäre.

Jeb Bush: "I would go with Ronald Reagan's partner, Margret Thatcher. Probably illegal, but what the heck. Since it's not gonna happen. A strong leader is what we need in the White House and she certainly was a strong leader who restored the United Kingdom to greatness."
Vermutlich fiel Bush auf, wie ungeschickt seine Antwort war, weswegen er noch weitere Qualifikationen anfügte. Erst "das passiert sowieso nicht", wobei unklar ist, worauf sich das bezieht: eine Frau auf einem Geldschein? Nicht mir dir, Jeb, das hast du klar gemacht. Margret Thatcher? Natürlich nicht, aber warum nennst du sie dann? Ach ja, weil wir einen "starken Anführer" im Weißen Haus brauchen (womit er natürlich sich meint), und sie war ja eine. Und sie hat die "Größe des Vereinigten Königreichs wiederhergestellt", was super zu Jebs Motto "Right to Rise" passt - die Wiederherstellung amerikanischer Größe, die ihn unter den anderen Kandidaten wirklich gar nicht hervorhebt. Die gesamte Antwort und vor allem wie sie vorgebracht wird zeigt die enormen Schwächen Bushs als Wahlkämpfer auf. Er und Hillary Clinton sind sich auch in dieser Hinsicht sehr ähnlich und werden sich im eigentlichen Wahlkampf darin neutralisieren.

Scott Walker: "First, thanks to Huckabee and Carson for making us all look like chumps up here, but I'd put Clara Barton. I once worked for the Red Cross, she was a great founder of the Red Cross."
Barton war die Gründerin des amerikanischen Roten Kreuzes. Sie qualifiziert damit und zeigt gleichzeitig eine Seite an Scott Walker, die dieser gerne hervorheben würde: seinen bodenständigen Konservatismus, der sich in diesem Fall durch Arbeit bei der Charity auszeichnet. Das Ganze kommt auch authentisch herüber, weil er ihren (unbekannten) Namen kennt, er bekommt aber Abzug in der B-Note, weil seine Qualifizierung eines "großartigen Gründers" nicht eben dafür spricht, dass er neben dem Wissen um ihre Existenz viel mehr Details auflisten könnte. Zu seinem Glück musste er das auch nicht.

Carly Fiorina: "I wouldn't change the ten-dollar-bill, or the twenty-dollar-bill. Honestly, I think it's a gesture. I don't think it helps to change our history. What I would think is that we ought to recognize our women aren't a special interest group, they're the majority of this nation, we are half the potential of this nation, and this nation will be better off if she has the opportunity to live the live she chooses."
Fiorina macht hier mit den Frauen - einer Stammwählerschaft der Democrats - was Carson mit den Schwarzen - dito - versuchte: das vorherrschende Narrativ ihrer Benachteiligung zu ändern und die Schuld hierfür der Gruppe selbst zuzuschreiben. Wie Carson auch kann sie das dank ihrer eigenen Lebensgeschichte glaubhaft tun. Beide erklären, dass es keine Symbolpolitik brauche (während sie in der Reagan-Library vor der Air Force One stehen) und dass es eine reine Willensfrage sei, ob man in Amerika eine Chance habe. Das ist natürlich Unfug, aber man muss Fiorina Respekt dafür zollen, wie sie all das in einen Satz verschwurbelt. Ähnlich geht sie auch in Fragen der Klimapolitik vor, wie Jonathan Chait dargestellt hat.

John Kasich: "It probably wouldn't be legal, but I would pick Mother Theresa. The lady that I had the chance to meet, the woman who lived a live so much bigger than our own, an inspiration to everyone when we think about to love our neighbors as we love ourselves."
Kasich, der Gouverneur von Ohio, zeigt ebenfalls seine wahlkämpferischen Fähigkeiten. Obwohl seine Wahl natürlich Unsinn ist wählt er eine weltweit bekannte, unangreifbare Ikone konservativer Fürsorge, belegt seine eigenen Referenzen durch den Hinweis dass er sie selbst getroffen hat und setzt sich von den anderen einmal mehr dadurch ab, dass er die Fremdenhetze nicht mitmacht sondern mit einem Bibelzitat zur Nächstenliebe anmacht. Well played, Mr. Kasich.

Chris Christie: "I think the Adams family has been shorted in the currency business. Our country wouldn't be here without John Adams, and he would not have been able to it without Abigail Adams, so I'd put Abigail Adams on the bill."
Christies Wahl ist solide: Abigail Adams gehört zu den aktivsten Präsidentengattinnen überhaupt, ohne gleich - wie die noch geeignetere Eleanor Roosevelt - zu liberal zu sein und kommt aus dem Nordosten, in dem Christie Gourverneur ist und ohne dessen Unterstützung er keine Chance hat. Insgesamt aber kann er sich damit nicht vom Feld abheben, was kein ernsthaftes Problem wäre wenn er wie Bush ein gutes Netzwerk und eine gut gefüllte Kriegskasse hätte, aber Christie hat miserable Umfragewerte und braucht dringend etwas, mit dem er sich abheben kann.

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Generell zeigen die Antworten auf diese Frage eine große Schwäche vieler Kandidaten der Republicans auf: der Ruf der GOP, eher frauenfeindlich zu sein und in Fragen der Bürgerrechte sogar regressiv wird von der Hälfte der Kandidaten eher unterstützt. Völlig indiskutabel sind Huckabee und Carson, die beide nachdrücklich beweisen, wie ungeeignet sie jenseits der Basis der radikalen Republicans als Präsidentschaftskandidaten sind und sich als Vertreter der ganzen Nation völlig disqualifizieren. Auch der Versuch, Rosa Parks als eine Konservative umzuschreiben läuft bereits seit längerer Zeit und hat bisher wenig Erfolg gezeigt, bietet aber immerhin eine sichere Bank, um diese zentralen Bevölkerungsgruppen nicht noch weiter abzustoßen. Wenn die Republicans es nicht schaffen, hier ihre message zu verändern - und natürlich auf dem Feld der Einwanderung und dem Umgang mit den Illegalen Einwanderen - werden sie keine Chance haben, das Weiße Haus im November 2016 zu erobern. Bis dahin ist natürlich noch über ein Jahr Zeit, in dem Botschaften angepasst und Images aufpoliert werden können. Aber wäre ich ein Anhänger der Republicans würde mir angesichts ihrer bisherigen Perfomance echt das Gruseln kommen.

Dienstag, 15. September 2015

Dereguliert die Äcker!

Das Remstal in Baden-Württemberg ist eine Region kleiner Städte von 20.000 bis 60.000 Einwohnern, die entlang eines lieblichen Tals voller alteingesessener und liebgewonnener Schwarzbrenner-Traditionen an Weinberghängen entlang aufschnüren. Infrastrukturechnisch läuft die gesamte Region auf die Landeshauptstadt Stuttgart zu, die abseits der Stoßzeiten in rund 20 bis 40 Minuten zu erreichen ist. Stuttgart selbst, wahrlich keine liebliche Perle, liegt in einem Talkessel und gehört wohl zu den wenig ästhetisch ansprechenden städtebaulichen Merkmalen der Bundesrepublik. Das Remstal aber ist ziemlich ruhig und ziemlich - wie soll man sagen - schwäbisch. Es regiert das Eigenheim, die Bürgermeister kommen von der CDU, die Städte sind sauber und wohlhabend und haben jeweilige regionale Konzentrationen von mittelständischen Betrieben, häufig Zulieferern der großen schwäbischen Giganten, Porsche, Daimler, Bosch, Miehle und Co. Städte wie diese sind Vorzeigeobjekte südwestkonservativer kommunaler Politik. Nur, in einem Bereich sind haben sie ein echtes Problem: beim Platz.

Denn die Attraktivität dieser Städte bedeutet zugleich, dass viele Menschen dort wohnen wollen. Stuttgart-Feuerbach mag eine gute Adresse für die Hauptwerke von Bosch sein, aber wohnen möchte da genauswenig jemand wie in der Daimler-Metropole Stuttgart-Untertürkheim. Stattdessen zieht es die Mittelschicht, die den Belegschaftskern dieser Unternehmen ausmacht, in die Vororte, und viele der attraktivsten und verkehrstechnisch bestangeschlossenen finden sich im Remstal. Entsprechend sind die Mieten und Immobilienpreise: hoch. Wer versuchen will, in meinem Heimatort ein Haus zu kaufen oder zu bauen, wird noch nach Jahren emsiger Suche erfolglos sein, wie mir leidgeplagte Nachbarn immer wieder erzählen können. Und genau hier tritt die kognitive Dissonanz ein: fährt man nämlich zwischen den verschiedenen Städten (und oft sogar ihren Teilorten) herum, sieht man kleine Äcker, sofern das Auge reicht. Selbst die EU-Agrarpolitik erklärt nur schwerlich, wie sich diese kleinen Äcker für die sie in der x-ten Generation besitzenden Familien lohnen können, besonders unter den Bedingungen eines globalen Wettbewerbs. Gleichzeitig besteht offensichtlich eine enorme Nachfrage nach Baugrund in der Region. Warum findet die Nachfrage hier also kein Angebot an Baugrund? Die Antwort liegt, verblüffend für das Stammland von CDU und FDP, in viel zu viel Regulierung.

Es ist ein Phänomen der Lokalpolitik, dass wenn man nur in den Gremien und Institutionen tief genug hinabtaucht, man bald auf eine Gemengelage gut organisierter Partikularinteressen stößt, die mit einem repräsentativen Querschnitt der Gesellschaft in etwa so viel zu tun haben wie eine Villa am Tegernsee. Im Falle des Remstals sind das die alteingessenen Familien, denen die Äcker rund um die Gemeinden gehören. Sie sind in den Gemeinderäten, Bezirksräten und Landkreistagen gut vertreten. Das sind die Wahlen, bei denen die Wahlbeteiligung sehr deutlich unter 50% liegt. Und es sind diese Gremien, die darüber entscheiden, ob ein bestimmtes Gebiet zum Bauland erklärt wird - was es den Besitzern dann ermöglicht, es an Investoren zu verkaufen.

Aus dem Bauch heraus würde man vielleicht annehmen, dass diese Familien ein Interesse daran hätten, dass ihre unwirtschaftlichen Äcker zu Bauland erklärt werden, aber dem ist nicht so - sie sind diejenigen, die ein solches Ansinnen über Jahrzehnte blockieren können. Denn die stetig hohe Nachfrage treibt die Preise und ermöglicht es so, kleine Parzellen Stück für Stück über die Jahre verteilt als Bauland zu deklarieren - nie genug, um den Bedarf an Wohnraum wirklich decken zu können und stets auf das mittlere bis hohe Preissegment bedacht. So bleiben die Spitzensteuersatzzahler unter sich im beschaulichen Grünen, während in den Städten ganze Gegenden verkommen, weil einkommensarme Unterschichten sich dort zusammendrängen, die keine Repräsentation in den Gemeinderäten haben, für die saubere Spielplätze und genügend Kitas eine Priorität sind.

Und hier kommen wir zu der Dimension, wo die Frage der Bauregulierungen deutlich über bezahlbaren Wohnraum im Remstal hinausgeht und die Gefilde eines eng umrissenen sozialpolitischen Themas verlässt. Gentrifizierung und Ghettoifizierung sind zwei Seiten derselben Medaille. Die Sozialwissenschaft erkennt immer mehr, wie wichtig das Nachbarschaftsumfeld für die Entwicklung eines Menschen ist. Die Chancen, in einer Hartz-IV-Nachbarschaft selbst in Hartz-IV zu landen sind wesentlich höher als am eingangs erwähnten Tegernsee, und nicht nur aus statistischen Gründen. Vorbilder aus der Peer-Group spielen in der Entwicklung von Jugendlichen eine dominante Rolle, noch weit vor dem Einfluss der Eltern. Und er wird massiv durch den Wohnort beeinflusst.

Die Deregulierung der Äcker ist daher aus mehreren Gründen notwendig. Einer dieser Gründe ist schlichte Marktwirtschaft: der Schutz der Grundbesitzer durch kommunalpolitischen Regulierungen widerspricht dem Gedanken eines freien Spiels von Angebot und Nachfrage; effektiv werden Insider-Geschäfte durchgeführt. Das führt direkt zum nächsten Problem, einer ungestillten Nachfrage nach einem der wichtigsten Grundgüter, dem nach Wohnraum. Er steht auch der Arbeitsmigration innerhalb Deutschlands und Europas entgegen und reduziert das Arbeitskräfteangebot der örtlichen Unternehmen, was deren Produktivität schmälert und in Extremfällen sogar zu Outsourcing führen kann. Und zuletzt hat es für die am wenigsten repräsentierten Schichten verheerende Auswirkungen, die mit all den Nachteilen ökonomisch abgehänger Wohnviertel leben müssen. Es gibt keinen Grund, diese Nachteile zum Schutz einer eingesessenen Interessengruppe weiter so massiv zu schützen, wie das aktuell der Fall ist. Dereguliert die Äcker!

Wie konntet ihr nur so leben?

Manchmal hat man, wenn man vom erhobenen Standpunkt der Gegenwart zurückblickt, dieses Gefühl dass die Menschen vor 20 Jahren einige Dinge als normal akzeptiert haben, die einem heute völlig blödsinnig vorkommen. Aus heutiger Perspektive gehören dazu wohl die im Vergleich geradezu lächerlich schlechten und teuren Kommunikationsmöglichkeiten (Briefe! Ferngespräche! Abrechnung nach Minuten!), die Haltung gegenüber Frauen (siehe hier), gegenüber Homosexuellen oder Transgenderpersonen, gegenüber der Kindeserziehung und vieles mehr. Nicht für alle diese Faktoren können die Leute was. Gerade technologisch waren die 1990er eben noch nicht so weit wie heute. Die Frage, die man sich stellen muss ist daher eher, ob man nicht hätte viel früher beginnen müssen, die entsprechende Technologie zu entwickeln. Ich frage mich in letzter Zeit immer häufiger, wie meine eigenen Kinder in 20 oder 30 Jahren über unsere Gegenwart denken werden. Beim Anblick welchen Phänomens werden sie dich denken: "Wie konntet ihr nur so leben?" Und wir werden hilflos mit den Schultern zucken und sagen "Haben alle so gemacht", wie es meine Eltern eben auch tun würden. Ich will im Folgenden einige Bereiche aufstellen, von denen ich denke, dass sie unter die Frage fallen werden. Und gleich vorangestellt - ich bin da auch kein Heiliger, der schon jetzt quasi vorbeugend alles richtig macht. Aber genug der Vorrede - Wie können wir nur so leben?

Auto fahren - Ich gehe fest davon aus, dass in 20 Jahren niemand mehr selbst Auto fährt, sondern dass alle Autos selbstfahrend sind. Ich gehe außerdem davon aus, dass der Konsens sein wird, dass es kaum so etwas Unverantwortliches gibt wie selbst Auto zu fahren. Allein in Deutschland sind 2014 3386 Menschen durch Verkehrsunfälle ums Leben gekommen. Das ist natürlich nur noch ein schwaches Echo von 1970, wo in Gesamtdeutschland 21.000 Menschen an Verkehrsunfällen starben, bei niedrigerem Verkehrsaufkommen als heute. Trotzdem ist es blanker Wahnsinn, für die Freiheit, selbst ein Auto steuern zu dürfen, jährlich über 3000 Tote und 330.000 Verletzte hinzunehmen. In den USA töten alleine die erschreckend schlecht regulierten Trucks 4000 Personen pro Jahr. Weltweit sieht die Statistik noch wesentlich düsterer aus: 1,24 Millionen Menschen lassen weltweit jährlich im Verkehr ihr Leben. Da kommt so manche Seuche nicht mit. Wenn mich meine Kinder (oder deren Kinder) um 2035 dann also fragen, wie wir je so verantwortungslos sein konnten, selbst Auto zu fahren - und das oft genug übermüdet oder sonstwie eingeschränkt - werde ich wahrscheinlich nur hilflos die Schultern zucken können und sagen "Hat jeder so gemacht".

Energie - Ein weiterer Faktor, von dem ich überzeugt bin ist, dass es in der nahen Zukunft nur noch eine Energiequelle geben wird: Solar. Wind- und Wasserkraft sind zu beschränkt und gerade im Fall von Wasserkraft auch zu landschaftsschädigend, aber natürlich kein Vergleich mit dem, was wir jetzt seit Jahrzehnten nutzen: fossile Brennstoffe und Nukleartechnologie. Wenn eine Alternative dazu erst einmal verfügbar ist wird sich wahrscheinlich auch jeder fragen, wie wir nur so dämlich sein konnten, Kohle zu verbrennen und unser eigenes Klima zu zerstören, oder Nuklearabfälle tonnenweise zu produzieren, für die man wohl auch 2035 noch kein sicheres Endlager haben wird. In diese Kategorie gehört natürlich auch die Frage, warum um Gottes Willen die oben erwähnten Autos Benzin verbrennen statt elektrisch zu sein. Ich weiß nicht, welche Antwort ich meinen Kindern hier einmal geben soll. Klar, die mächtigen Industrien haben die Politik gekauft und alles, aber es ist ja jetzt nicht gerade so dass man mich allzu oft beim Protestieren oder Energiesparen beobachtet hätte.

Fleisch - So wie uns heute unbegreiflich ist, welche Tierquälerei früher einmal gang und gebe war, so gehe ich davon aus, dass unsere nachfolgenden Generationen es als eine unserer großen Sünden sehen werden, dass wir Tiere getötet haben, um ihr Fleisch zu essen. Und ich sage dass als jemand, der praktisch jeden Tag Fleisch isst. Meine Vermutung ist auch nicht, dass wir alle zu Vegetariern werden, sondern dass es möglich werden wird, Fleisch einfach im Labor zu züchten. Warum man dann unter furchtbaren Bedingungen Tiere züchtet, die unter dem Gewicht ihres eigenen Fleischs zusammenbrechen, um sie dann zu töten, wird vermutlich unerklärbar sein. "Selektive Ignoranz" ist wahrscheinlich das Einzige, was man dem entgegnen kann. Wir wollten es nicht wissen, wollten uns nicht damit befassen, weil Fleisch einfach gut schmeckt. Und wie bei so vielen anderen Technologien haben wir viel zu spät angefangen, nach Alternativen zu suchen.

Freiheit - Wir bewegen uns bereits seit einer geraumen Weile langsam aber sich in eine Richtung, die das traditionelle Verständnis von Freiheit - dass ich tun und lassen kann was ich will solange es nicht explizit ein Gesetz dagegen gibt - zugunsten paternalistischerer Regelungen und gesellschaftlicher Zwänge eingeschränkt wird. Dies gilt besonders für selbstzerstörerisches Verhalten oder solches, das mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit andere negativ beeinflusst. So ist zum Beispiel überraschend, dass es immer noch keine Null-Promille-Regel beim Autofahren gibt. Auch das Rauchen an Orten, an denen andere gezwungen sind den Rauch abzubekommen (zum Beispiel Bushaltestellen) fällt in diese Kategorie. Dazu kommt eine ganze Reihe von Themen, bei der Staat steuernd eingreifen kann, etwa das Nudging oder härtere Maßnahmen wie eine Zuckersteuer. Noch immer dürfen wir schmutzigen Strom oder mit ausbeuterischer Arbeit gefertigte T-Shirts kaufen, wenn wir wollen. Und so weiter. Ich gehe davon aus, dass wir in dieser Richtung noch weit mehr sehen werden, die die traditionelle Freiheit von Verhalten und Konsum gegenüber heute deutlich einschränkt.

Internationalisierung - Die heutige Generation der 15-35-jährigen ist deutlich kosmopolitischer als die ihrer Eltern. Sie spricht häufig gut genug Englisch, um sich international verständigen zu können und hat dank des Internets und billiger Flugreisen auch mehr Kontakt mit anderen (industrialisierten) Ländern als ihre Elterngeneration. Aktuell ist dies allerdings noch ein Phänomen, das auf die wohlhabenderen Schichten beschränkt ist. Ich würde davon ausgehen, dass sich diese Entwicklung fortsetzt, besonders, wo die kosmopolitischere Generation selbst Kinder bekommt. Selbst wenn man mangels Geld nie selbst ins Ausland reist, ermöglicht das Internet eine früher unvorstellbare Kommunikationsmöglichkeit und schafft die weltweit einheitliche Popkultur einen gemeinsamen Referenzrahmen, der früher schlicht nicht gegeben war. Es gibt keinerlei Anzeichen dafür, dass sich diese Entwicklung zurückdreht, eher, dass sie sich verstärkt.

Diese Entwicklungen sehe ich mehr oder weniger als gegeben an. Daneben gibt es eine Reihe von Entwicklungen, auf die ich hoffe, bei denen ich aber nicht sonderlich optimistisch bin.

Müll - Wir produzieren eine Unmenge von Müll, der einfach nicht verschwindet. Allem voran ist dabei Plastikmüll, der mittlerweile in den Ozeanen zu einer ernsthaften Gefahr wird. Ich hoffe schwer, dass man in 20 Jahren sagen wird "Warum haben die damals nicht schon [Name eines noch zu erfindendenden, extrem belastbaren Materials das sich trotzdem innerhalb eines kurzen Zeitrahmens rückstandslos auflöst] genutzt?". Ich bin aber eher skeptisch, ob das auch so passieren wird.

Arbeit - Die Automatisierung und Digitalisierung ist ein sehr reales Problem, das Stand 2015 noch weitgehend verdrängt wird. Genausowenig wie frühere Rationalisierungswellen wird sie sich aufhalten lassen, weswegen die Frage ist, was mit all den Menschen passieren soll, die dann nicht mehr gebraucht werden. Die Vollbeschäftigung als Idealzustand wird immer weniger zu halten sein. Ich bin hier sehr pessimistisch und gehe von einer lang anhaltenden Verweigerungshaltung aus, die zu einer deutlichen Belastung der Sozialsysteme führen wird. Im Idealfall findet die Gesellschaft neue Wege, den Alltag jenseits der Erwerbsarbeit neu zu strukturieren. Dieses Thema ist aber so komplex, dass es hier nur gestreift werden kann.

Insgesamt kann diese Liste nur unvollständig bleiben. Mit Sicherheit werden einige dieser Prognosen so nicht eintreffen, und mit Sicherheit wird es Entwicklungen geben, die aktuell noch gar nicht vorhergesagt werden können. Als Gedankenspiel allerdings ist es interessant genug, und ich möchte die Leser dazu einladen, ihre Meinung zu meinen Prognosen ebenso der Kommentarspalte anzuvertrauen wie ihre eigenen.  

Sonntag, 13. September 2015

Von Blair zu Corbyn, von Obama zu Sanders?

Gestern gewann der vor kurzem noch obskure Hinterbänkler Jeremy Corbyn die Wahl zum Labour-Parteivorsitzenden in Großbritannien. Fast zeitgleich kam die Nachricht, dass Bernie Sanders - Senator aus Vermont, Sozialdemokrat und Präsidentschaftskandidat bei den Democrats - Hillary Clinton zum ersten Mal in Umfragen in Iowa, dem ersten Vorwahl-Staat¹, überholt hat. Ist hier ein neuer Aufschwung der Linken, ist das Teil eines allgemeinen populistischen Trends, der auf der Rechten genauso seine Entsprechung findet, oder was passiert hier? Sowohl Corbyn als auch Sanders haben bereits Kritik aus den eher gemäßigten Teilen ihrer jeweiligen politischen Strömungen bezogen, und ein britischer Bekannter meinte jüngst zu mir: "We're about to elect Lafontaine as Labour deputy." Sehen wir uns beide Phänomene also etwas genauer an.

Jeremy Corbyn ist tatsächlich ein ungewöhnliches Phänomen in Großbritannien. Der Großteil seiner politischen Forderungen schreit geradezu "Old Labour" und wendet sich gegen praktisch alles, was Tony Blair in seiner radikalen Umwandlung der Partei zu New Labour 1997 an die Macht brachte. Corbyn will die Infrastruktur des Landes (vor allem die Eisenbahnen) wieder verstaatlichen, die EU grundlegend reformieren (aber gleichwohl Mitglied bleiben), TTIP ablehnen, die Bank of England anweisen Geld zu drucken um Sozialmaßnahmen zu finanzieren und die Steuern erhöhen, vor allem für die Reichen. Er plädiert zudem für einen Austritt Großbritanniens aus der NATO, ein freundschaftlicheres Verhältnis zu Russland und diversen arabischen Staaten und eine Wiedereröffnung der in den 1980er und 1990er Jahren geschlossenen britischen Kohlebergwerke. Thatchers brutale Vernichtung der Gewerkschaften in den großen Bergwerk-Streiks der frühen 1980er sind ein Labour-Trauma geblieben.

Corbyns Erfolg offenbart eine Sehnsucht nach Sicherheit, die von vielen Wählern vor allem mit der Zeit vor dem Eintreten der großen Globalisierungswelle nach dem Fall des Eisernen Vorhangs verbunden wird. Dieses Bedürfnis teilen sie mit den Fans der rechten Populisten, deren Lösungvsvorschläge (sofern man deren Hasstiraden als solche adeln will) jedoch naturgemäß in eine andere Richtung gehen. Die Ähnlichkeiten von Corbyns Positionen mit denen der LINKEn in Deutschland sind wenig verwunderlich, speisen sie sich doch aus denselben Milieus und Mentalitäten. Auch Lafontaine sprach im Wahlkampf schon davon, die Kohlegruben an der Saar wiederzueröffnen. Die Gegnerschaft zu NATO und Auslandseinsätzen ist ebenfalls schon seit Jahrzehnten ein Dauerbrenner in einem Subset der politischen Linken.

Corbyns Positionen sind daher nicht neu, und die NachDenkSeiten verschwenden auch keine Zeit damit aufzulisten, wo ihre erwarteten Vorteile liegen. Gleichwohl hat das ZDF Recht zu sagen, dass Corbyn "nicht nur bei Konservativen als linker Spinner gilt". Zahlreiche führende Labour-Funktionäre, die dem Schattenkabinett angehörten, haben ihren Rücktritt aus demselben eingereicht, und obwohl Corbyn mit rund 60% der Stimmen einen Erdrutschsieg erreicht hat, ist er bei den anderen 40% der Gottseibeiuns und, höflich ausgedrückt, umstritten. Ihn plagen außerdem dieselben Probleme, die viele Linke plagen: Corbyn ist und bleibt letztlich ein Mann der Vergangenheit. So sehr ich ihm darin zustimme, dass die verrottete britische Infrastruktur dringend aufgebessert werden muss und dass mehr Geld für soziale Leistungen angebracht ist, so kann ich über seine außenpolitischen Verrenkungen und seine Idee, den britischen Bergbau wiederzubeleben, nur den Kopf schütteln. Wie die deutsche LINKE auch will Corbyn vor allem zurück in die Zeit vor dem Mauerfall. Zu den Fragen und Technologien der Zukunft findet sich dieseits wie jenseits der Nordsee nichts in den klassischen linken Parteien.

Corbyn schleppt daher auch ein ernstes Wählbarkeitsproblem für Labour mit sich, das sich 2020 genauso schlimm auswirken könnte wie das berühmt-berüchtigte Wahlprogramm 1983 ("the longest suicide note in history"). Kein Zweifel dass Corbyn bei den Labour-Aktivisten extrem beliebt ist. Aber das reicht nicht für einen Wahlsieg, heute genausowenig wie 1983. Polarisierung ist nur eine erfolgversprechende Strategie, wenn die eigene Seite größer als die andere ist, wie auch die Republicans gerade wieder einmal erfahren müssen. Die Tories nutzten die Chance sofort und zeichneten Corbyn als "threat for the security of our country, economy and families". Es ist kaum vorstellbar, wie Labour bei den Wahlen 2020 die Aussagen Corbyns zu NATO, seine Nähe zu Hamas und anderen Organisationen oder seine unorthodoxen Politiken im Inland erklären will.

Das gleiche Problem stünde Bernie Sanders ebenfalls bevor, sollte er jemals Präsidentschaftskandidat der Democrats werden (was ihm aber wohl kaum gelingen wird). Sanders ist in seinen Positionen grundsätzlich weniger problematisch als Corbyn. Ein Großteil seines Programms ließt sich so, als ob die SPD es jederzeit unterschreiben könnte, selbst mit Steinbrück oder Steinmeier an der Spitze: Gesetzliche Krankenversicherung, höhere Steuern für Superreiche, stärkere Regulierung der Wallstreet, Steuererleichterungen für die Mittelschicht - Sanders ist ein ziemlich klassischer Sozialdemokrat. Weniger klassisch sind seine Ablehnung von TTIP und NAFTA sowie von Militäreinsätzen und NSA-Überwachung, aber er befindet sich nicht allzusehr im extremen Bereich - von Europa aus betrachtet. Bei den Aktivisten der Democrats, die wie Aktivisten aller Parteien und Strömungen in ihren Überzeugungen radikaler und lauter sind, fällt das alles auf extrem fruchtbaren Boden. Sanders gibt der Basis etwas, für das es sich zu kämpfen lohnt - analog zu Corbyn in Großbritannien. Die Mechanismen des Vorwahlkampfs werden allerdings seinen Sieg verhindern und damit nicht den Test erbringen, der Corbyn in den nächsten fünf Jahren bevorstehen wird: wie attraktiv sind diese Forderungen für das amerikanische Volk insgesamt?

Und hier, so ärgerlich das auch ist, sieht die Sache eher düster aus. Sanders bezeichnet sich selbst als democratic socialist, aber viele seiner Positionen sind keinesfalls mehrheitsfähig, nicht in der eigenen Partei und schon gar nicht über ihre Grenzen hinaus. Eine gesetzliche Krankenversicherung ist im aktuellen politischen Klima utopisch und kürzlich erst in Sanders Heimatstaat Vermont selbst gescheitert. Auch massive Investitionen in Amerikas verrotete Infrastruktur, so notwendig sie auch wären, werden bei der breiten Ablehnung von Maßnahmen der Bundesregierung auf Ablehnung stoßen. Im vorherrschenden politischen Klima haben weder Corbyn noch Sanders eine Chance, ihre jeweiligen Wahlen zu gewinnen, egal wie gut sie sich innerparteilich durchsetzen konnten.

Man mag das alles bedauern. Ich würde es begrüßen, eine nachfrageorientiertere Wirtschaftspolitik zu sehen, mehr öffentliche Investitonen, eine bessere Lastenverteilung innerhalb der Gesellschaft. Nur sind weder Corbyn noch Sanders die Kandidaten, die sie bringen werden², genausowenig wie konservative Aktivisten von Leuten wie Donald Trump oder Ted Cruz eine Rückkehr zu dem Ideal der USA bekommen werden, das es so nie gab, das aber ihre Träume dominiert. Stattdessen werden am Ende diejenigen Kandidaten gewinnen, die über die Basis der eigenen Aktivisten hinaus Attraktivität besitzen. Selten genug ist das ein Willy Brandt oder ein Barack Obama. Häufig genug bekommt man dabei Bill Clinton oder Hans-Jochen Vogel. Das aber ist häufig eben doch besser als die Alternative, wie die Labour-Aktivisten zu ihrem Leidwesen 2020 erfahren werden.

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¹Technisch gesehen der erste Caucus-Staat, weil die erste primary in New Hampshire ist, aber den Unterschied schenken wir uns hier.

²Immer vorausgesetzt, dass es keinen dramatischen Wandel in den politischen Einstellungen der Mehrheit gibt, aber danach sieht es gerade nicht aus.

Montag, 31. August 2015

Wie konntet ihr so leben?

Manchmal hat man, wenn man vom erhobenen Standpunkt der Gegenwart zurückblickt, dieses Gefühl dass die Menschen vor 20 Jahren einige Dinge als normal akzeptiert haben, die einem heute völlig blödsinnig vorkommen. Aus heutiger Perspektive gehören dazu wohl die im Vergleich geradezu lächerlich schlechten und teuren Kommunikationsmöglichkeiten (Briefe! Ferngespräche! Abrechnung nach Minuten!), die Haltung gegenüber Frauen (siehe hier), gegenüber Homosexuellen oder Transgenderpersonen, gegenüber der Kindeserziehung und vieles mehr. Nicht für alle diese Faktoren können die Leute was. Gerade technologisch waren die 1990er eben noch nicht so weit wie heute. Die Frage, die man sich stellen muss ist daher eher, ob man nicht hätte viel früher beginnen müssen, die entsprechende Technologie zu entwickeln. Ich frage mich in letzter Zeit immer häufiger, wie meine eigenen Kinder in 20 oder 30 Jahren über unsere Gegenwart denken werden. Beim Anblick welchen Phänomens werden sie dich denken: "Wie konntet ihr nur so leben?" Und wir werden hilflos mit den Schultern zucken und sagen "Haben alle so gemacht", wie es meine Eltern eben auch tun würden. Ich will im Folgenden einige Bereiche aufstellen, von denen ich denke, dass sie unter die Frage fallen werden. Und gleich vorangestellt - ich bin da auch kein Heiliger, der schon jetzt quasi vorbeugend alles richtig macht. Aber genug der Vorrede - Wie können wir nur so leben?

Auto fahren - Ich gehe fest davon aus, dass in 20 Jahren niemand mehr selbst Auto fährt, sondern dass alle Autos selbstfahrend sind. Ich gehe außerdem davon aus, dass der Konsens sein wird, dass es kaum so etwas Unverantwortliches gibt wie selbst Auto zu fahren. Allein in Deutschland sind 2014 3386 Menschen durch Verkehrsunfälle ums Leben gekommen. Das ist natürlich nur noch ein schwaches Echo von 1970, wo in Gesamtdeutschland 21.000 Menschen an Verkehrsunfällen starben, bei niedrigerem Verkehrsaufkommen als heute. Trotzdem ist es blanker Wahnsinn, für die Freiheit, selbst ein Auto steuern zu dürfen, jährlich über 3000 Tote und 330.000 Verletzte hinzunehmen. In den USA töten alleine die erschreckend schlecht regulierten Trucks 4000 Personen pro Jahr. Weltweit sieht die Statistik noch wesentlich düsterer aus: 1,24 Millionen Menschen lassen weltweit jährlich im Verkehr ihr Leben. Da kommt so manche Seuche nicht mit. Wenn mich meine Kinder (oder deren Kinder) um 2035 dann also fragen, wie wir je so verantwortungslos sein konnten, selbst Auto zu fahren - und das oft genug übermüdet oder sonstwie eingeschränkt - werde ich wahrscheinlich nur hilflos die Schultern zucken können und sagen "Hat jeder so gemacht".

Energie - Ein weiterer Faktor, von dem ich überzeugt bin ist, dass es in der nahen Zukunft nur noch eine Energiequelle geben wird: Solar. Wind- und Wasserkraft sind zu beschränkt und gerade im Fall von Wasserkraft auch zu landschaftsschädigend, aber natürlich kein Vergleich mit dem, was wir jetzt seit Jahrzehnten nutzen: fossile Brennstoffe und Nukleartechnologie. Wenn eine Alternative dazu erst einmal verfügbar ist wird sich wahrscheinlich auch jeder fragen, wie wir nur so dämlich sein konnten, Kohle zu verbrennen und unser eigenes Klima zu zerstören, oder Nuklearabfälle tonnenweise zu produzieren, für die man wohl auch 2035 noch kein sicheres Endlager haben wird. In diese Kategorie gehört natürlich auch die Frage, warum um Gottes Willen die oben erwähnten Autos Benzin verbrennen statt elektrisch zu sein. Ich weiß nicht, welche Antwort ich meinen Kindern hier einmal geben soll. Klar, die mächtigen Industrien haben die Politik gekauft und alles, aber es ist ja jetzt nicht gerade so dass man mich allzu oft beim Protestieren oder Energiesparen beobachtet hätte.

Fleisch - So wie uns heute unbegreiflich ist, welche Tierquälerei früher einmal gang und gebe war, so gehe ich davon aus, dass unsere nachfolgenden Generationen es als eine unserer großen Sünden sehen werden, dass wir Tiere getötet haben, um ihr Fleisch zu essen. Und ich sage dass als jemand, der praktisch jeden Tag Fleisch isst. Meine Vermutung ist auch nicht, dass wir alle zu Vegetariern werden, sondern dass es möglich werden wird, Fleisch einfach im Labor zu züchten. Warum man dann unter furchtbaren Bedingungen Tiere züchtet, die unter dem Gewicht ihres eigenen Fleischs zusammenbrechen, um sie dann zu töten, wird vermutlich unerklärbar sein. "Selektive Ignoranz" ist wahrscheinlich das Einzige, was man dem entgegnen kann. Wir wollten es nicht wissen, wollten uns nicht damit befassen, weil Fleisch einfach gut schmeckt. Und wie bei so vielen anderen Technologien haben wir viel zu spät angefangen, nach Alternativen zu suchen.

Freiheit - Wir bewegen uns bereits seit einer geraumen Weile langsam aber sich in eine Richtung, die das traditionelle Verständnis von Freiheit - dass ich tun und lassen kann was ich will solange es nicht explizit ein Gesetz dagegen gibt - zugunsten paternalistischerer Regelungen und gesellschaftlicher Zwänge eingeschränkt wird. Dies gilt besonders für selbstzerstörerisches Verhalten oder solches, das mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit andere negativ beeinflusst. So ist zum Beispiel überraschend, dass es immer noch keine Null-Promille-Regel beim Autofahren gibt. Auch das Rauchen an Orten, an denen andere gezwungen sind den Rauch abzubekommen (zum Beispiel Bushaltestellen) fällt in diese Kategorie. Dazu kommt eine ganze Reihe von Themen, bei der Staat steuernd eingreifen kann, etwa das Nudging oder härtere Maßnahmen wie eine Zuckersteuer. Noch immer dürfen wir schmutzigen Strom oder mit ausbeuterischer Arbeit gefertigte T-Shirts kaufen, wenn wir wollen. Und so weiter. Ich gehe davon aus, dass wir in dieser Richtung noch weit mehr sehen werden, die die traditionelle Freiheit von Verhalten und Konsum gegenüber heute deutlich einschränkt.

Internationalisierung - Die heutige Generation der 15-35-jährigen ist deutlich kosmopolitischer als die ihrer Eltern. Sie spricht häufig gut genug Englisch, um sich international verständigen zu können und hat dank des Internets und billiger Flugreisen auch mehr Kontakt mit anderen (industrialisierten) Ländern als ihre Elterngeneration. Aktuell ist dies allerdings noch ein Phänomen, das auf die wohlhabenderen Schichten beschränkt ist. Ich würde davon ausgehen, dass sich diese Entwicklung fortsetzt, besonders, wo die kosmopolitischere Generation selbst Kinder bekommt. Selbst wenn man mangels Geld nie selbst ins Ausland reist, ermöglicht das Internet eine früher unvorstellbare Kommunikationsmöglichkeit und schafft die weltweit einheitliche Popkultur einen gemeinsamen Referenzrahmen, der früher schlicht nicht gegeben war. Es gibt keinerlei Anzeichen dafür, dass sich diese Entwicklung zurückdreht, eher, dass sie sich verstärkt.

Diese Entwicklungen sehe ich mehr oder weniger als gegeben an. Daneben gibt es eine Reihe von Entwicklungen, auf die ich hoffe, bei denen ich aber nicht sonderlich optimistisch bin.

Müll - Wir produzieren eine Unmenge von Müll, der einfach nicht verschwindet. Allem voran ist dabei Plastikmüll, der mittlerweile in den Ozeanen zu einer ernsthaften Gefahr wird. Ich hoffe schwer, dass man in 20 Jahren sagen wird "Warum haben die damals nicht schon [Name eines noch zu erfindendenden, extrem belastbaren Materials das sich trotzdem innerhalb eines kurzen Zeitrahmens rückstandslos auflöst] genutzt?". Ich bin aber eher skeptisch, ob das auch so passieren wird.

Arbeit - Die Automatisierung und Digitalisierung ist ein sehr reales Problem, das Stand 2015 noch weitgehend verdrängt wird. Genausowenig wie frühere Rationalisierungswellen wird sie sich aufhalten lassen, weswegen die Frage ist, was mit all den Menschen passieren soll, die dann nicht mehr gebraucht werden. Die Vollbeschäftigung als Idealzustand wird immer weniger zu halten sein. Ich bin hier sehr pessimistisch und gehe von einer lang anhaltenden Verweigerungshaltung aus, die zu einer deutlichen Belastung der Sozialsysteme führen wird. Im Idealfall findet die Gesellschaft neue Wege, den Alltag jenseits der Erwerbsarbeit neu zu strukturieren. Dieses Thema ist aber so komplex, dass es hier nur gestreift werden kann.

Insgesamt kann diese Liste nur unvollständig bleiben. Mit Sicherheit werden einige dieser Prognosen so nicht eintreffen, und mit Sicherheit wird es Entwicklungen geben, die aktuell noch gar nicht vorhergesagt werden können. Als Gedankenspiel allerdings ist es interessant genug, und ich möchte die Leser dazu einladen, ihre Meinung zu meinen Prognosen ebenso der Kommentarspalte anzuvertrauen wie ihre eigenen.  

Dienstag, 25. August 2015

Besorgen Sie mir die Daten!

In den USA gibt es ein Programm namens "Scared Straight", bei dem auffällige High-School-Schüler eine Tour ins Gefängnis bekommen und dort die Bedingungen sehen und mit Tätern reden können. Die Idee dahinter ist, dass die Erfahrung so abschreckend wirkt, dass sich die Schüler später zweimal überlegen, ob sie Verbrechen begehen. Der Haken: das Programm funktioniert nicht. Schüler, die an Scared Straight teilgenommen haben, begehen danach mit höherer Wahrscheinlichkeit Verbrechen als solche, die nicht daran teilgenommen haben. Tatsächlich ist der Effekt so stark, dass eine Schätzung davon ausgeht, dass pro Dollar, der in Scared Straight investiert wird, 200 Dollar gesellschaftlicher Schaden angerichtet werden. Bis die entsprechende Studie durchgeführt worden war, ist dieser Zusammenhang völlig unbekannt geblieben. Scared Straight ist dabei kein Einzelfall: in einem Versuch mit zehn aktuell laufenden Regierungsprogrammen konnten gerade einmal 15% der Teilnehmer korrekt prognostizieren, welche davon erfolgreich waren. Teilnehmer, die einfach zufällig auf Antworten klickten, hatten mehr Erfolg als die, die anhand der Beschreibungen darüber nachdachten. Wer das selbst ausprobieren will, kann es hier tun. In dem Wissen, dass die Intuition vermutlich oft falsch liegt, habe ich immerhin 50% der Antworten richtig hinbekommen. Wäre ich Kongressabgeordneter, wäre die Hälfte meiner Maßnahmen nutzlos bis schädlich. Da der Anschein so trügt drängt sich natürlich die Frage auf, was stattdessen getan werden kann. Die Antwort ist: mehr Daten. Und nicht die, die die NSA sammelt.

Noch immer wird ein verblüffend hoher Anteil von Regierungsaktivitäten ohne tiefgreifende Analyse durchgeführt (durch Kontrollgruppen, experimentelle Einführung oder Kosten-Nutzen-Analysen, nur um einige Beispiele zu nennen). Stattdessen stehen lediglich Annahmen dahinter (gerne auch ideologisch motiviert). Ein Beispiel dafür ist das Elterngeld, das seine Ziele völlig verfehlte. Unter der Annahme, dass mangelnde Einkommenskompensation die (ohnehin statistisch unzureichend belegte) Geburtenarmut bei Akademikerinnen auslöse, wurde das Elterngeld anhand des Netto-Einkommens geschaffen. Zwar eine vitale und aus der Familienpolitik nicht mehr wegzudenkende Maßnahme, änderte sie am Problem selbst gar nichts. Ob dies an der Unzulänglichkeit der Maßnahme selbst liegt oder daran, dass die Geburtenrate der Akademikerinnen niemals statistisch relevant niedriger war, ist immer noch unklar. Gerade diese Unklarheit belegt den Punkt.

Datenbasierte Politik (ebenso wie datenbasierter Journalismus) sind Trends der letzten halben Dekade. Einige Regierungen sind deutlich schneller darin, diesen Trend aufzugreifen als andere, vor allem die USA und Großbritannien. Die oberste Regulierungsbehörde OIRA, die direkt dem Weißen Haus untersteht, ist etwa ganz dem Prinzip der Kosten-Nutzen-Analyse und rigorosen Datenanalyse verpflichtet (und seit Cass Sunsteins Amtszeit 2009-2012 auch dem Nudging, aber das ist ein anderes Thema). Wie Scared Straight und andere Programme zeigen, sind wir allerdings immer noch am Anfang dieser - nicht unumstrittenen - Entwicklung. Bevor wir allerdings darauf eingehen, warum jemand ernsthaft etwas gegen effiziente Regierungsprogramme haben kann, müssen wir zuerst noch kurz den Nutzen datenbasierter Politik beleuchten.

Zum einen sparen effiziente Programme Geld, ohne dass deswegen auf Leistungen des Staates verzichtet werden muss. Dies ist ganz besonders im Interesse der Steuerzahler, die auf diese Art deutlich mehr für ihr Geld bekommen. Zum anderen können auf diese Art schädliche Programme vermieden werden, denn viele haben lästige Nebeneffekte. So gehört es etwa zum Dauerthema von Liberalen aller Schattierungen, die fehlenden Anreize zur Arbeitssuche bei hohen Sozialleistungen zu bejammern. Auch wohlmeinende Programme wie eine Mietbremse können allerlei lästige bis schädliche Nebenwirkungen haben. Durch datenbasierte Ansätze lassen sich diese früher identizieren und entweder durch schlauere Regeln umgehen oder aber führen zum Abbruch des Programms. Und zuletzt reduziert ein solcher Ansatz den Anteil der politics (wie parteipolitische Grabenkämpfe) und erhöht den der policies (etwa die Frage, ob die Mietpreisbremse auf dem Land, in der Kleinstadt und in der Metropole unterschiedlich greift und welchen Einfluss die Lebenshaltungskosten haben). Und genau da rennen wir in Probleme.

Bereits jetzt wird allerorten bedauert, dass die zeitgenössische Parteienlandschaft stark dem Konsens verpflichtet ist und die Unterschiede etwa zwischen SPD und CDU nur gradueller Natur sind. Es ist dieser Boden, auf dem Merkels "assymetrische Demobilisierung" gedeiht. Je mehr die Politik sich auf datenbasierte Ansätze verlässt, desto mehr verlagert sich die Regierungsarbeit weg vom Parlament in die Exekutive, und desto vorherrschender werden technokratische Ansätze und Problemlösungsmethoden. Für die Demokratie kann effizientere Regierung - der, wenn gefragt, jeder seine volle Unterstützung zusichern würde - tatsächlich Gift sein. Nicht umsonst sind es die großen, ideologisch motivierten Programme - etwa Herdprämie und Ausländermaut, nur um zwei zu nennen -, die weitgehend ohne vorherige Analyse oder belastbare Datengrundlage gestartet werden und hauptsächlich der Mobilisierung der eigenen Basis dienen. Das mag man bedauern, aber ohne solche Maßnahmen fehlt der Demokratie das Schmiermittel, und die Politik entfernt sich noch weiter vom Volk als ohnedem.

Zudem ist und bleibt Politik kein Geschäft, das komplett berechnbar wäre. Selbst die rigoroseste Analyse mag sich am Ende als falsch herausstellen. Betreibt man daher die analysebasierte Politik mit zuviel Eifer, kann es sein, dass effektiv mit den Methoden der Betriebswirtschaftslehre Politik gemacht wird und man sich der Versuchung hingibt, jeden Faktor in Zahlen zu gießen, und wo für diese keine empirische Basis besteht einfach attraktiv-komplizierte Formeln zu erfinden. Schnürt sich die Politik derart in ein Korsett, kommt das System zum Stillstand und kann nur noch winzige Reförmchen an bestehenden Regelungen produzieren, aber nicht mehr auf große Probleme reagieren, die sich vielleicht mittlerweile aufgetan haben.

Macht man sich aber bewusst, welche Grenzen bei datenbasierten Ansätzen bestehen und versteht sich auf das Bohren dicker Bretter, dann stellen diese Ansätze ein wertvolles Werkzeug dar, das politische Maßnahmen deutlich zielgerichteter, effizienter und gleichzeitig günstiger gestalten kann. Es wäre daher an die Zeit, dass der Bundestag sich diesen Ansätzen widmet.

Dienstag, 4. August 2015

I want your endorsement! Die Bedeutung der Wahlempfehlung

Einer der für Deutsche schwer einzuordnenden Aspekte des amerikanischen Präsidentschaftswahlkampfs ist die Jagd der Kandidaten nach den Wahlempfehlungen der Amtsträger der eigenen Partei, die endorsements. Hierzulande ist mangels eines Personenwahlkampfs klar, welchen Kanzlerkandidaten ein SPD-Ministerpräsident vorschlägt (sofern es nicht gerade Thorsten Albig ist). In den USA, wo sich der Präsidentschaftskandidat erst im Vorwahlkampf (primary) herauskristallisieren muss, haben die endorsements dagegen eine wesentlich größere Bedeutung. Nun muss natürlich die Frage erlaubt sein, warum es so wichtig ist, wen der Gouverneur von Ohio zur Wahl empfiehlt. Schließlich hört dem ja nur ein kleiner Teil der Wähler seiner Partei in Ohio zu. Gegenüber großen TV-Debatten oder Wahlwerbespots sollte dieser Faktor also zu vernachlässigen sein. Trotzdem erfährt die endorsement-Jagd eine große Bedeutung, so groß, dass das renommierte Blog FiveThirtyEight eine eigene Unterkategorie mit Statistiken dazu hat. Die Wahlempfehlungen von George Clooney oder Brad Pitt dagegen, die wesentlich mehr Presseaufmerksamkeit erfahren, werden effektiv von keinem professionellen Beobachter ernst genommen. Was also macht diese Empfehlungen von Amtsträgern so wertvoll?

Der Präsidentschaftswahlkampf unterteilt sich letztlich in drei große Phasen. Die so genannte invisible primary, die bereits zwei oder mehr Jahre vor dem eigentlichen Wahlkampf beginnt, die primaries, die etwa ein Jahr vor dem eigentlichen Wahltermin bedeutsam werden, und die eigentliche Präsidentschaftswahl zwischen Republicans und Democrats im November. Offiziell existieren davon nur die letzten beiden, die innerparteilichen primaries und der spätere Präsidentschaftswahlkampf. Die eigentlichen Abstimmungen finden dabei 2016 zwischen dem März und Juli (primaries) bzw. im November (presidency) statt. Die invisible primary dagegen ist die Vorentscheidung, gewissermaßen der Wahlkampf darum, wer überhaupt Wahlkampf führen kann. Dieser findet weitgehend unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt (die sich, wie man fairerweise anmerken muss, auch kaum dafür interessiert). Bekanntlich ist der Wahlkampf in den USA ein teures Geschäft, das außer für Donald Trump für jeden Kandidaten nur mit Spendengeldern zu bestehen ist.

Woher kommen die hohen Kosten? Ein Kandidat muss für einen Zeitraum von rund ein bis zwei Jahren einen Mitarbeiterstab finanzieren, der die Pressearbeit und strategische Planung übernimmt (wofür in Deutschland die Parteizentralen zuständig sind). Dazu muss Werbung geschaltet werden, die naturgemäß teuer ist. Zudem muss der Kandidat zwischen den für die Wahl relevanten Bundesstaaten hin- und herreisen und eine eigene Infrastruktur aufbauen (vor allem Iowa und New Hampshire, weil hier die ersten primaries stattfinden). Da in Wahlkämpfen zunehmend entscheidend ist, dass die Kandidaten (beziehungsweise ihre Vertreter) vor Ort präsent sind, sind die Personalkosten ziemlich hoch. Ein Großteil dieser Kosten kann nur durch Spenden gedeckt werden.

Woher aber kommen die Spenden? Für gewöhnlich von wohlhabenden Einzelpersonen und, bedeutender, organisierten Interessengruppen. Ob Gewerkschaften oder Wallstreet, jede Interessengruppe wird versuchen, den wahrscheinlichen Präsidentschaftskandidaten für sich einzunehmen. Aber woher weiß ein Spender, welcher Kandidat gewinnen wird? Niemand spendet schließlich gerne für einen Verlierer, was nicht nur Geld verbrennt, sondern einen auch in Opposition zu dem Gewinner setzt. Hier kommen die endorsements ins Spiel. Ein Gouverneur (bleiben wir für das Beispiel bei Ohio) hat, um seinen Posten zu erlangen, dasselbe Spiel wie der Präsident auf der Ebene des Bundesstaates schon einmal gespielt. Das bedeutet, dass der Gouverneur einen Stab, Infrastruktur und ein Spendernetzwerk besitzt. Welchem Kandidaten er dieses zur Verfügung stellt ist daher von entscheidender Bedeutung, denn dieser muss nicht - wie alle seine Konkurrenten - alles von null an aufbauen.

Das endorsement hat daher nicht nur die Bedeutung den Wählern zu signalisieren, dass ein bestimmter Politiker für einen anderen eintritt. Dieser Aspekt ist natürlich ebenfalls von Bedeutung, besonders bei Parteigrößen wie Ted Kennedy, dessen endorsement für Obama 2007 eine entscheidende Wegmarke für dessen Etablierung als seriöse Alternative zu Clinton war. Für die breite Masse der endorsements aber gilt, dass sie vor allem wegen der dahinterstehenden Ressourcen interessant sind. Für einen Kandidaten relevant sind nicht so sehr die öffentlichen endorsements an sich, sondern das commitment, das dahinter steht. Generell aber gilt: selbst ein lauwarmes endorsement ist besser als gar keines.

Wie sieht es hier für den Wahlkampf 2016 also bisher aus? Für einschlägig Interessierte hat das oben verlinkte FiveThirtyEight die konkreten Statistiken. Zur besseren Einordnung hat die Seite ein Punktesystem eingeführt: Repräsentanten geben einen, Senatoren fünf und Gouverneure zehn Punkte. Aktuell können wir zwei entscheidende Informationen aus dem Stand der endorsements entnehmen. Hillary Clinton führt das Feld mit 305 Punkten deutlich an. Nur ein einziger ihrer Konkurrenten, Martin O'Malley, hat überhaupt ein endorsement, und dabei nur einen Repräsentanten (Eric Salwell, der ein persönlicher Freund O'Malleys ist). Zum Vergleich: zum Zeitpunkt seiner Wahl 2008 hatte Obama gerade einmal 330 Punkte in endorsements gesammelt - und dieser Termin liegt noch 15 Monate in der Zukunft. Clintons frontrunner-Status bei den Democrats ist so ungeheur groß, dass niemand anderes eine ernsthafte Chance gegen sie besitzt, sofern sie sich keine wirklich bedeutenden Skandale erlaubt. Sofern nicht noch ein Wunder geschieht, wird sie Kandidat der Democrats 2016 - und geht mit einem gewaltigen Vorsprung an ausgebauter Infrastruktur gegenüber den Republicans ins Rennen, vergleichbar mit dem, den Obama 2012 genoss.

Die endorsements-Situation der Republicans zeigt dagegen vor allem eins: einen frontrunner gibt es dort noch überhaupt nicht. Ausgerechnet Chris Christie, mit rund 3-4% in den Umfragen einer der weniger aussichtsreichen Kandidaten, führt die Liste knapp vor Bush an, der der einzige Kandidat mit nennenswerten endorsements ist. Auffällig ist auch, dass nur 11 der 16 Kandidaten überhaupt endorsements haben. Donald Trump etwa hat keine, ein weiterer Indikator dafür, dass er trotz seiner aktuell gewaltigen Umfragewerte keine Chance hat, ins Weiße Haus einzuziehen. Die meisten Amtsträger der Republicans halten sich zurück und warten ab, um ihr Gewicht später hinter den Gewinner zu werfen. Dasselbe Muster war 2012 zu beobachten, wo erst im Umfeld der Iowa-Wahl die endorsements für Romney zunahmen - viele davon eher halbherzig und mehr aus Pflichtgefühl denn Überzeugung, was Romneys Schwäche in Finanzen und Organisation gegenüber Obama zu erklären hilft.

Die Kandidaten mit den besten Chancen für endorsements sind natürlich die, die a) in mächtigen Positionen und b) schon lange genug im Geschäft sind, als dass man ihnen Gefallen schuldet. Das erklärt auch Christies aktuelle Führung: als Gouverneur von New Jersey hat er die größte Regierungsverantwortung vor den anderen Frontrunnern Scott Walker (Gouverneur von Wisconsin), Marco Rubio (seit 2010 im Senat) und Jeb Bush (1999-2007 Gouverneur von Florida). Dieses Dreigestirn ist auch das einzige, das Chancen hat, größere Mengen an endorsements einzusammeln. Ted Cruz etwa, vor Trump der Darling der Rechten, hat in seiner Zeit im Senat seit 2010 so viele Brücken hinter sich abgebrannt dass er eher Chancen auf die meisten anti-endorsements hat, und der Rest des Rudels ist zu obskur, um in Frage zu kommen (mit der möglichen Ausnahme von John Kasich, Gouverneur von Ohio).

Angesichts dieser Lage bleibe ich bei meiner Einschätzung, dass 2016 auf ein Rennen zwischen Bush und Clinton hinausläuft.

Freitag, 17. Juli 2015

Der Preis des Hegemon

Wenn die Schweiz sich im Spiegel ihrer Außenpolitik betrachtet, dürfte sie ziemlich glücklich sein. Sie bewahrt sich ihre Neutralität, wird nicht in irgendwelche teuren Experimente hineingezogen und bewahrt sich auf dem für sie so wichtigen Feld der Finanzpolitik ein überproportionales Gewicht, sofern sie nicht gerade allzu flagrant kriminell ist. Sie kann das tun, weil sie klein ist und in einem ziemlich abgelegenen Teil Europas liegt (es sei denn, man ist deutscher Tourist und will nach Italien). Alte Hegemonialmächte wie Frankreich oder England haben für solche falsche Bescheidenheit naturgemäß nur Verachtung übrig. Noch heute erinnert man sich in England gerne der Zeiten, als ein Gentleman auf einem beliebigen Gewässer nur den Finger ins Wasser stecken und ihn ablecken musste, um am Salzgehalt festzustellen ob er sich in englischem Einflussgebiet befand. Die Zeiten derart unverblümter Machtpolitik sind natürlich vorbei, aber die Griechenlandkrise offenbart gerade für alle Welt, dass damit nicht das Verschwinden von Hegemonialmächten einherging.

Was genau ist denn ein Hegemon? Eine Hegemonialmacht ist eine Nation, die durch ihre besondere Stärke - auf politischem, wirtschaftlichem oder militärischem Gebiet - ihre Nachbarn entweder dominiert oder doch wenigstens eine starke Veto-Funktion besitzt. Dabei sind die Kosten dieser Hegemonialstellung häufig genug höher als dder direkte Nutzen. Die USA etwa erfüllen alle drei Kriterien. Zahllose Allianzen und institutionelle Vernetzungen (NATO, UNO, IWF, ...), das weltstärkste Militär und die größte Volkswirtschaft erlauben ihr derzeit als einzige Nation eine weltweite Ausübung von Macht. Andere Nationen sind regionale Hegemonen: China im ostasiatischen Raum, Russland im osteuropäischen, der Iran vielleicht bald im Mittleren Osten und, in Europa, Deutschland.

Die Besonderheit der Deutschen ist, dass sie sowohl den tatsächlichen Status ihres Landes als auch die pure Vorstellung davon strikt ablehnen. Eine der häufigsten Reaktionen in Gesprächen über die Griechenlandkrise ist das Unverständnis darüber, warum die Griechen gerade auf die Deutschen so sauer sind. Dieses Unverständnis ist weit verbreitetet; so war eines der beliebtesten Argumente der letzten Wochen, dass neben Deutschland ja auch die Slowakei und Finnland gegen einen Schuldenschnitt waren. Das ist natürlich wahr. Nur ist es leider auch irrelevant, denn weder die Slowakei noch Finnland haben die Möglichkeit, gegen den Willen anderer Mitgliedsländer ihre Position durchzusetzen. Deutschland dagegen hat das sehr wohl.

Es dürfte dabei auch unter linken wie rechten Gelehrten unstrittig sein, dass Deutschland in den letzten 20 Jahren die Europäische Union stark nach seinem Vorbild geformt hat. Die Regeln von Maastricht, die Einrichtung der EZB und das gesamte Vertragswerk des Euro sind deutsch. Alle anderen Länder der EU wurden entweder auf Linie gezwungen (etwa Frankreich) oder hielten sich von Anfang an aus dem Europrojekt heraus (etwa Großbritannien). Deutschland erreichte diese regionale Hegemonie, dies unzweifelhaft ausübt, nicht mit militärischen Mitteln, weswegen sie weniger sichtbar als die amerikanische oder selbst die chinesische ist. Es erreichte sie über politische und, vor allem, wirtschaftliche Mittel. Als drittgrößte Volkswirtschaft der Erde, weit vor anderen EU-Staaten, hat Deutschland ein besonderes Gewicht in der EU, das sich aus reiner Fläche oder Bevölkerungszahl nicht ablesen lässt.

Die Verleugnung der deutschen Hegemonie durch die Deutschen selbst ist für die Regierung dabei Fluch und Segen zugleich. Fluch, weil die Kosten des Hegemon in der Bevölkerung nicht akzeptiert werden, Segen, weil die Bevölkerung selbst keine großen Erwartungen an die deutsche Außenpolitik stellt und dieser somit größeren Spielraum lässt als etwa den USA. Bei uns ist Außenpolitik nur selten ein Wahlkampfthema. Oder hat in letzter Zeit jemand Deutschlands hervorgehobene Rolle bei den Iranverhandlungen thematisiert?

Insgesamt aber bringt die Verleugnung des Hegemon mehr Schaden als Nutzen. Der Umgang mit Griechenland ist dafür das perfekte Beispiel. Schäuble als de-facto deutscher Verhandlungsführer nutzte das gesamte Gewicht, das der Hegemonialstatus ihm brachte, vermied aber alle Verantwortlichkeiten, die damit einhergingen. Dieses Paradox fiel den Deutschen selbst nicht auf, wie alle Meinungsumfragen belegen. Dem Rest der Welt hingegen schon. Das Argument, dass Deutschland (und die anderen Gläubigerländer) unmöglich die Kosten für griechische Versäumnisse aufgebürdet werden könnten, ist auf den ersten und auch zweiten Blick einleuchtend. Warum sollte man die Schulden der Griechen übernehmen, ohne dass diese die Wurzeln ihres Problems anpacken?

Dabei wird aber übersehen, dass die Kosten durch das semi-unilaterale Handeln der Bundesrepublik deutlich höher, wenngleich vorerst noch unsichtbar sind. Deutschland hatte die Macht, um seine Vorstellungen in einer wesentlich heterogeneren Europäischen Union durchzusetzen und alle anderen Staaten auf Linie zu bringen, das wurde hinreichend bewiesen. Es wurde sogar mit einer Deutlichkeit in die Welt hinausposaunt, die sicher den Gefallen Wilhelm II. gefunden hätte. Ich möchte solcherlei Vergleiche aber gar nicht überstrapazieren, denn wir müssen nicht bis ins Kaiserreich gehen, um einen ähnlichen Fehler bei einem Hegemon zu finden. Tatsächlich hat Schäuble nämlich viel mehr mit George W. Bush gemeinsam als mit dem ehemaligen Kaiser.

Der Machtwechsel 2001 hin zu George W. Bush und den Neocons brachte eine neue Doktrin in die US-Außenpolitik: weg von internationaler Kooperation und Diplomatie hin zur Projektion roher Macht, wenn möglich mit Alliierten, zur Not auch alleine. Hatten die USA 2001 dabei noch die ganze Welt hinter sich, als es sich gegen die Attentäter von 9/11 zur Wehr setzte, konnte dies im Falle des Irak nicht mehr behauptet werden. Trotz vieler Kritik und Neutralitätsbekundungen seitens enger Verbündeter griff Bush den Irak völkerrechtswidrig an - eine Handlung, die das Image der USA nachhaltiger beschädigte als irgendeine Handlung seit dem Vietnamkrieg. Ob die Ziele dabei erreicht werden konnten oder nicht wurde zweitrangig. Selbst wenn der Irak befriedet worden wäre, so hatte die pure Durchsetzung dessen, was durchsetzbar gewesen war - gegen alle Widerstände - den USA gewaltige Langzeitkosten verursacht, die heute noch ihre diplomatischen Beziehungen vergiften und ihre Möglichkeiten, auf andere Krisen zu reagieren - Stichwort Syrien - nachhaltig verschlechtern.

Ähnlich dürfte es Deutschland im Falle der Griechenlandkrise ebenfalls ergehen. Es konnte seine Interessen zu 100% durchsetzen (vorausgesetzt, Merkel wollte den Grexit tatsächlich nicht), gegen alle Widerstände. Dabei hat es aber die Machtstrukturen in der EU für alle sichtbar offen gelegt, genauso wie seine Bereitschaft, diese auch zu nutzen. Die konkreten Konsequenzen liegen dabei notwendigerweise im Dunkeln. Niemand konnte in den USA 2003 den Aufstieg von ISIS voraussehen, oder die Herausbildung Irans zur regionalen Hegemonialmacht. Genauso wenig ist heute klar, welche Schäden Deutschlands Griechenlandpolitik haben wird. So oder so brauchen wir uns aber nicht zu wundern, wenn wir bei der nächsten Krise in der EU einer deutlich stärkeren und entschlosseneren Abwehrfront gegenüberstehen, oder wenn an der Peripherie eher feindlich gesinnte Staaten deutlich an Einfluss gewinnen. Vermutlich würde man sich dann wünschen, die griechische Kröte eben geschluckt und den Preis des Hegemon bezahlt zu haben. Nur wird es dann zu spät sein.

Montag, 13. Juli 2015

Treuhand Athen im Spiegelsaal

Die Troika ist wieder da. Sie heißt zwar immer noch "die Institutionen", was Wolfgang Schäuble vermutlich wurmt. Es scheint dass wenn es nach Mr. Isch Over geht, Alexis Tsipras persönlich in einem Eisenbahnwaggon die Rück-Umbenennung unterzeichnen müsste. Tatsächlich ist die Liste, die die Euro-Finanzminister nun auf 14 Seiten zusammengefasst haben, ein einziger Diktat für die griechische Regierung, der vor allem die komplette Unterwerfung zelebriert. Und ich will hier gar nicht wieder das große Fass von Demokratie und Solidarität aufmachen. Griechenland ist de facto bankrott und befindet sich gerade in der Abwicklung. Zu glauben, dass man in so einer Situation - die Währungsunion und ihre geteilte Souveränität einmal ganz außen vor gelassen - noch die volle Autonomie über die eigenen Angelegenheiten hat wäre hochgradig illusionär. Nur muss sich die Eurogruppe fragen lassen, wie aus der Konkursmasse Griechenland mit den aktuellen Forderungen noch irgendetwas herausgeholt werden soll.

So etwa sind die Folgen der geforderten Mehrwertsteuererhöhung ziemlich absehbar: nicht nur belastet die regressive Steuer gerade die Bevölkerungsgruppen, die ohnehin bereits am schwersten getroffen sind, sie torpediert auch noch einen der letzten funktionierenden griechischen Wirtschaftszweige, den Tourismus. Ebensowenig ist erkennbar, warum ausgerechnet eine Stärkung des Finanzsektors in Griechenland nachhaltiges Wachstum ermöglichen sollte. Nach Lage der Dinge könnte dies nur ein ausländischer, aufgepropfter Finanzsektor sein, denn griechisches Kapital gibt es praktisch keines mehr. Fragt sich nur, in was dieser Finanzsektor investieren sollte - aber da findet sich im Papier ja gleich die nächste Lösung. Und hier offenbart sich auch die Natur dieses Teils des Forderungskatalogs: absurde 50 Milliarden Euro soll Griechenland durch Privatisierungen von Staatseigentum erlösen. Erreicht werden soll dies, indem die zu privatisierenden Güter in eine Treuhand überführt werden, die dann - unter Troika-Aufsicht - die Privatisierungen durchführt.

Das ist geradezu lächerlich. Ausgerechnet Wolfgang Schäuble, der schon ein direkt Verantwortlicher des Treuhand-Desasters nach der deutschen Einheit war, will dasselbe gescheiterte Modell Griechenland aufdrücken. Damals wie heute profitierte vor allem der Finanzsektor - der ja die technische Umsetzung der Privatisierungen vornimmt und dabei eine goldene Nase verdient - und diejenigen, die das Zeug zu Ramschpreisen kaufen konnten. Und niemand kann ernsthaft behaupten, dass es etwas anderes als Ramschpreise geben würde. Der Zeitrahmen für die Umsetzung dieser Maßnahmen ist so lächerlich klein, dass auch nur eine halbwegs ordentliche Bewertung der Assets unmöglich ist, geschweige denn eine vorherige Sanierung oder sonstige Maßnahmen, um das alles ordentlich abzuwickeln.

Stattdessen ist der Ablauf bereits schmerzhaft deutlich sichtbar: die europäischen Finanzinstitute und Investoren werden die Troika-Regeln zum größten Ausverkauf seit Jahren nutzen und, ohne dass die Griechen auch nur das geringste Mitspracherecht hätten, alle Kronjuwelen zu Spottpreisen aufkaufen. Der unverkäufliche Rest wird dann von einer korrupten Treuhand zugrunde gerichtet und untergehen. Der einzige Lichtblick für die Griechen ist, dass nach Durchführung dieses Programms wirklich jede Region Griechenlands sich auf Jahrzehnte hinaus für die EU-Förderung wirtschaftlich schwacher Regionen qualifizieren wird. Dieses Papier sagt nichts anderes als dass die Jagdsaison eröffnet ist, und Glücksritter wie Guy Verhofstadt, die privat mit Firmen engagiert sind die diese Privatisierungen organisieren und öffentlich über das Europaparlament genau diese von Griechenland erzwingen sind nur die sichtbarsten Exponenten einer Reihe neuer Krisengewinnler. Viele davon dürften personal-identisch mit denen sein, deren griechische Staatsanleihen zwischen 2010 und 2014 von der Troika risikofrei, aber mit voller Rendite auf Kosten des Steuerzahlers abgelöst wurden.

Dass vor diesem Hintergrund die harschen Kontrollen der Troika wieder eingeführt werden, verwundert kaum. Erneut muss jeder für die Programme relevante Gesetzesentwurf, bevor das griechische Parlament darüber abstimmen darf, von der Troika abgesegnet werden muss. Syrizas gefeierter Rauswurf der Troika vor einigen Monaten wendet sich nun gegen sie, denn offensichtlich kam die Rettung ja ohne sie nicht; stattdessen folgten die Krisengipfel immer schneller auf härter aufeinander. Dass das natürlich in einem solchen Zeitrahmen unter diesen Bedingungen mit einer unerfahrenen Partei kaum anders zu erwarten ist - geschenkt, das interessiert niemanden mehr. Syriza hat hoch gepokert und zumindest auf diesem Feld klar verloren, denn die Bilanz sieht verheerend aus. Griechenland hat die Kontrolle über sein eigenes Schicksal endgültig verloren.

Ein Passus der betont, dass die Umsetzung all dieser Maßnahmen die Bedingung für die Aufnahme von Verhandlungen ist und keineswegs Prognosen für deren Abschluss zulässt ist da nur noch eine weitere Demütigung. Die nächste Eskalationsstufe wäre der Einmarsch und die direkte Übernahme der griechischen Verwaltung. Auch muss Griechenland nach dem Willen der Eurogruppe einen Paragraphen 231 akzeptieren: die vom IWF festgestellte Nicht-Tragfähigkeit der griechischen Schulden wird "den gelockerten Maßnahmen der letzten 12 Monate" zugeschrieben. Unterschreiben die Griechen dieses Papier, so akzeptieren sie gleichzeitig die Alleinschuld an der desolaten wirtschaftlichen Lage. Dass gerade Deutschland die Demütigung Griechenlands zusätzlich zur Durchsetzung seiner Interessenpolitik in die Verträge packen will zeugt von einer eigenen Geschichtsvergessenheit, die nur noch widerwärtig ist.

Die Aufmerksamkeit wendet sich daher bereits auf die Sieger. Einige arbeiten unverhohlen am Rauswurf Griechenlands aus der Eurozone, allen voran Wolfgang Schäuble und die nordeuropäischen Staaten. Andere sträuben sich dagegen, wie etwa Italien oder Frankreich, aber keiner von ihnen wird ernsthaft seine Interessen für Griechenland riskieren. Ihnen geht es vor allem um die Zukunft innerhalb der Eurozone, das heißt um das künftige Mächtegleichgewicht. Und in diesem haben einige Staaten mit und einige ohne Griechenland einen Vorteil, und entsprechend gestaltet sich auch die Konfliktlinie innerhalb der Eurogruppe. Dies erkennt man an den Passagen der Eurogruppenforderungen, die in eckigen Klammern gehalten sind, denn über sie gab es keine Einigung. So findet sich etwa die Möglichkeit, bei Versagen der obigen Maßnahmen die Rückzahlung der Schulden zu strecken - effektiv also ein Schuldenschnitt auf Zeit - als Forderung Italiens und Frankreichs direkt neben Schäubles Plan, Griechenland "auf Zeit" aus der Eurozone zu stoßen, ebenfalls mit "möglicher" Restrukturierung der Schulden.

Die Wahl, vor die die Eurogruppe Griechenland, das gerade einmal zwei Tage Zeit hat, um die zentralen Forderungen im Parlament zu verabschieden, damit stellt, ist durchaus vergleichbar mit der, vor der Deutschland vor knapp 100 Jahren selbst stand: einen demütigen, offensichtlich nicht tragfähigen und für die Erhohlung einer schwer getroffenen Wirtschaft schädlichen Vertrag unterschreiben - oder eben nicht. Die Frage wäre nur, was dann passiert. Eine Rückkehr zur Drachme wäre mit Sicherheit nicht ansatzweise so einfach und logisch positiv für Griechenland, wie einige Euro-Gegner das durch die rosarote Brille darstellen. Auch ein Default birgt unkalkulierbare Risiken. Hätte Griechenland einen Krieg verloren, stünde ihm eine ganz andere Option offen: nicht unterzeichnen und die Sieger die Verantwortung übernehmen lassen. So weit würde aber nicht einmal Schäuble gehen. Er braucht die Griechen als Vollstrecker der eigenen Politik. So oder so grenzte es an ein Wunder, wenn Griechenland sich unter diesen Aussichten nicht von Europa abwendet und sich den dunklen Impulsen eines einfachen, übersichtlichen Nationalismus mit seinen klaren Feindbildern hingibt. Deutschland hat es unter günstigeren Bedingungen getan.

Montag, 6. Juli 2015

Mit Oxi den Gordischen Knoten durchschlagen

Über 60% der Griechen haben im Referendum vom vergangenen Sonntag die Forderungen der Institutionen abgelehnt. Welche Forderungen das im Detail waren und ob die Griechen sie genau verstanden haben, ist dabei ziemlich irrelevant. Das Angebot der Institutionen lag ohnehin nicht mehr auf dem Tisch, und so oder so wurde das Referendum von allen Seiten mit einer ganz anderen Bedeutung aufgeladen: ein "Nein" ist ein "Nein" zur bisherigen und künftigen Griechenlandpolitik der EU und des IWF, ein "Ja" wäre, unabhängig vom genauen Inhalt, der bedingungslosen Kapitulation gleichgekommen. Die Sackgasse, in der sich die Politik bis letzten Sonntag befand, ist ein Resultat einer schlechten Politik, in der mal die eine, mal die andere Seite mehr Verantwortung trug, am Ende aber niemand mit einer reinen Weste herauskommt, egal, wie markig die Statements der Beteiligten nun auch klingen. Das Referendum hat jedenfalls den gordischen Knoten durchhauen, und nur ein Narr kann glauben, dass das Resultat daraus in einem brauchbaren, glatten Seil besteht.

Ja, die bisherige Griechenlandpolitik der Institutionen ist nicht gerade etwas, was eine Auszeichnung verdient. Die wirtschaftliche und soziale Lage in Griechenland ist katastrophal, und sie verschlimmert sich stetig. Die Renten immer weiter zu kürzen und immer mehr Menschen aus der Krankenversicherung zu drängen ist kaum etwas, das die Wirtschaft ankurbeln wird. Gleichzeitig steht auch nicht zu erwarten, dass die bisher durch die Bank gescheiterten Verwaltungsreformversuche der Griechen besonders viel Zutrauen erwecken und das Land für die Investoren viel attraktiver machen, die jede wirtschaftliche Gesundung benötigt. Die Griechen haben Recht, den Forderungskatalogen der Institutionen zu misstrauen. Die Institutionen haben Recht, den Reformversprechen der Griechen zu misstrauen. Aber zwischen 2010 und 2014 hatte sich ein Modus herausgearbeitet, der berechenbar war: Griechenland brauchte Geld, wurde zu Austerität gezwungen, wurde ärmer und brauchte mehr Geld, worauf mit mehr Austerität reagiert wurde. Begleitet wurde dies von einem Trommelfeuer pejorativer Medienberichte über Griechenland, die diese Politik moralisch aufluden und damit einer sachlichen Debatte weitgehend entzogen.

Jedem konnte dabei klar sein, dass dieser Prozess für extreme soziale Verwerfungen sorgen und das Land in Armut stürzen würde. Das wurde auch von niemandem ernsthaft bestritten. Die Protagonisten dieser Politik argumentierten allerdings, dass diese Anpassungen notwendig seien, weil Griechenland durch die verfehlte Aufnahme in den Euro über seine Verhältnisse gewirtschaftet hatte, eine Annahme, die zuletzt auch in eher progressiveren Kreisen Anklang fand. Sobald also ein Equilibrium erreicht sei, würden die niedrigen griechischen Löhne und Sozialstandards einen Neuanfang und Aufschwung ermöglichen. Nun ist das unzweifelhaft wahr. Eine Volkswirtschaft kann nicht unendlich schrumpfen; irgendwann ist finis graecae erreicht. Nur wie die Deutschen aus eigener Erfahrung wissen sollten ist es unwahrscheinlich, dass das Volk sich bei den Kürzern bedanken wird. Denn wenn mein reales Einkommen um mehr als die Hälfte fällt und ich von einer Mittelschichtenexistenz unter die Armutsgrenze rutsche, während meine Kinder nur die Arbeitslosigkeit und dieselbe Armut als Aussicht haben, ist es mir relativ egal, ob es in 20 Jahren wieder besser aussieht. Ich will, dass es jetzt besser aussieht. Zu denken, dass rein ökonomietheoretische Argumentationen per Fiat ins griechische Bewusstsein zu befehlen sind, war einer der größten Irrtümer der Institutionen. Schon Marx wusste, dass das Sein das Bewusstsein bestimmt.

Der Wahlerfolg von Syriza im Januar 2015 war das sicherste Zeichen, dass die Griechen mehrheitlich nicht länger bereit waren, das europäische Narrativ und die daraus resultierenden Maßnahmen zu ertragen. Obgleich Tsipras und Varoufakis von Anfang an das Ziel betonten, Griechenland im Euro zu halten, hatte sich das Spiel geändert. Von Anfang an war die Möglichkeit von radikaleren Maßnahmen eingebaut. Das lag in der Natur der Sache, war Syriza doch eine radikale Partei. Jede Beteuerung, mit Europa und im Euro arbeiten zu wollen, hatte auch zugleich eine implizite Ankündigung inbegriffen, im Zweifel zu radikalen Maßnahmen zu greifen. Syriza beging ironischerweise den gleichen Fehler wie die Institutionen und glaubte, mit ökonomischer Logik eine politische Krise lösen zu können. Die Annahme Varoufakis' und Tsipras', man könne in Europa eine Allianz gegen das deutsche Dogma der Austeritätspolitik finden, war von Anfang an hoffnungslos naiv (ich habe das im April beschrieben). Die Argumente für und gegen einen Schuldenschnitt waren auch in Brüssel bekannt. Niemand brauchte einen Varoufakis, um sie erklärt zu bekommen, und die Vorstellung, dass man in den Hinterzimmern des EU-Parlaments oder des IWF eine offene Debatte über die Zukunft Griechenlands austragen könnte, war geradezu albern, schien aber tatsächlich geglaubt worden zu sein. Die Einschätzung des Bloomberg Magazine, Tsipras regiere Griechenland wie einen Studentenprotest, geht an der Wirklichkeit nicht allzuweit vorbei.

Nun hatten die Institutionen zwei Dinge, die die Griechen nicht hatten: Zeit und Geld. Sie spielten ihr Spiel daher weiter. Forderungen, kleine Zugeständnisse, Verhandlungen. Syriza aber hatte einen Wandel versprochen. Und den konnte sie nicht liefern. Das Unvermögen, eine europäische Allianz aufzubauen, die auch nur kurz gegen die Deutschlands und der Institutionen bestehen könnte, verschloss sämtliche Möglichkeiten. Was blieb waren schöne Reden und gute Debattenbeiträge, gemischt mit Ausweisen politischer Unerfahrenheit, die allesamt letztlich irrelevant waren. Syriza fand sich, getrieben vom Druck der Innenpolitik von der einen und der unbeweglichen Front der Gläubiger auf der anderen Seite, in derselben Sackgasse, in der sich Papandreou und Samaras auch schon gefunden hatten. Syriza allerdings hatte keine Skrupel, die im Wortsinne populistische Karte zu spielen und den gordischen Knoten zu durchschlagen. Das Referendum ist eine klare Absage an die Institutionen und eine Stärkung des Syriza-Mandats.

Sollten Tsipras und Varoufakis ihre eigene Rhetorik allerdings tatsächlich glauben und davon ausgehen, dass eine Einigung nun wahrscheinlicher geworden ist, so sind sie schief gewickelt. Sie teilten dann den typischen Irrtum der Linken zu glauben, dass nur linke Politik demokratische Legitimation besitzen kann. Auch die 18 anderen Eurostaaten haben demokratisch legitimierte Regierungen, und es kann wohl kaum ein Zweifel bestehen, wie eine Volksabstimmung in der Slowakei, Deutschland oder Finnland bezüglich Griechenlandhilfen oder Schuldenschnitten aussehen würde. Hätten die Regierungen Europas die populistische Karte gespielt, die Tsipras jetzt gezogen hat, so wäre Griechenland bereits 2010 aus dem Euro ausgeschieden. Vielleicht wäre das das beste gewesen - das ist eine Frage, die Historiker werden klären müssen. Aktuell spielt Syriza nur Le Pen, Fortuyn und Farage in die Hände und bedient niedere Instinkte jeder Demokratie.

Dass es soweit gekommen ist ist auch die Schuld einer moralistisch überhöhten EU-Politik, die Griechenland so lange an die Wand gedrückt hat, bis es für die Griechen attraktiver schien, den Sprung ins Dunkle zu wagen als weiter die bekannten Pfade zu gehen. Die Vorstellung, dass diese Krise auf Griechenland beschränkt bleiben und den Rest der EU unangetastet lassen würde, ist, vorsichtig ausgedrückt, mindestens ebenso naiv wie die von Syriza, eine Volksabstimmung in Griechenland würde Wählerpräferenzen in Deutschland ändern. Das europäische Projekt ist so gefährdet wie nie zuvor, und seine Gegner stehen schon in den Startlöchern. Sie stehen dort schon seit Jahren, warten nur auf eine Gelegenheit wie die, die ihnen Syriza gerade geliefert hat. Das macht auch die ungewöhnlich scharfe Rhetorik überzeugter Europäer wie Martin Schulz deutlich. Demokratie bedeutet Kompromisse, und die Europäische Union bedeutet die Aufgabe von Souveränität unter die der Gesamtheit, ob einem das im Einzelfall passt oder nicht. Syriza hat einen Konsens, den die Institutionen bereits ins Wanken gebracht haben, damit vollends aufgelöst. Die Gewinner sind die Feinde der Demokratie. Das Referendum war nicht der Beginn eines neuen, besseren Europa. Wenn wir Pech haben, war es der Schwanengesang des Alten.