Mittwoch, 16. April 2014

Das Ding mit der europäischen Identität

Anlässlich der anstehenden Europa-Wahlen kann man die Frage stellen, ob es passend zum Europäischen Parlament denn so etwas wie einen europäischen Bürger mit einer europäischen Identität gibt. Während die rechtlichen Rahmenbedingungen dafür längst existieren - haben wir doch mit der deutschen zugleich auch eine europäische Staatsbürgerschaft, mit allen Vorteilen, die uns das bringt - hängt die Mentalität hinter den Idealen weit hinterher. Warum aber begreifen sich die Einwohner Europas weiter vornehmlich als Deutsche, Franzosen oder Griechen und betrachten die EU selbst als Ort, wo die eigenen Pfründe gegen die jeweiligen Nachbarn verteidigt werden müssen?

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Zu einem gewissen Teil hat dies sicher mit der politischen Praxis zu tun, unpopuläre innenpolitische Maßnahmen mit europapolitischen Zwängen zu begründen. Sehr gerne werden etwa Rettungspakete und ähnlich teure Einrichtungen in Richtung EU abgeschoben, als einen Zwang, dem man sich beugen muss. Dazu kommt der Einfluss von zahlreichen Detailregelungen, die im Alltag spürbar sind - von der Glühbirne über den berühmt-berüchtigten Gurkenkrümmungsgrad. Nationale Politik ist häufig nicht so direkt spürbar wie die der EU, und bei allem Streit um den Nutzen solcher Maßnahmen bringen sie häufig eine Veränderung mit sich, die der Bürger instinktiv ablehnt. Wen interessiert, wie sinnvoll die neuen Glühbirnen sind? Ich will meine alten behalten! Fuck the EU.

Diese Instinkte werden von der Politik gerne befeuert oder zumindest toleriert, denn in der EU findet sich ein stets vorhandener Sündenbock, der sich nicht wehren kann und auf den man den Ärger abladen kann. Auch medientechnische Aspekte spielen eine Rolle - der vorgeschriebene Gurkenkrümmungsgrad ist eine tolle, schnell greifbare Geschichte mit Aufregerpotenzial. Ihr Hintergrund in den Lobbyinteressen der Agrarindustrie, die radikal auf zweifelhafte Gemüse-Ästhetik-Ideale abzielt und damit der Lebensmittelverschwendung Vorschub leistet, ist dagegen wesentlich komplizierter und unspannender, genauso die ungeheure Machtstellung dieser Lobbyverbände.

Auch bietet das politische System der EU keinerlei echtes Identifikationspotenzial. Die Europaparlaments-Wahlen finden immer noch national statt. Die europäischen Parteien konstitutieren sich erst nach den jeweiligen nationalen Wahlen aus den nationalen Wahlsiegern und -verlieren und sind praktisch unbekannt.

Aber allein in diesem Negativ-Bild kann der Grund kaum verborgen liegen. Seit 2004 wird zumindest in Deutschland versucht, eine Art europäischen Patriotismus in den Schulen zu verorten, wie man seit den 1950er Jahren eine Begeisterung für die Demokratie (im gesellschaftswissenschaftlichen Unterricht) in den Lehrplänen verankert hat. Dieser Versuch ist jedoch in seinem Ausmaß sehr beschränkt (im Gymnasium Baden-Württemberg etwa die zehnte Klasse im Geschichtsunterricht) und in seiner Holzhammer-Methodik wie dazu geschaffen, Abwehrreaktionen auszulösen. Vermutlich liegt die mögliche Zukunft einer europäischen Identität aber zumindest zu großen Teilen tatsächlich in den Schulen, will man sie denn tatsächlich schaffen.

Was der EU insgesamt aber ebenfalls ganz massiv fehlt, ist eine Art Zivilreligion. Ich denke, dass dieses Fehlen ein wichtiger Grund ist, warum es keine gefühlte Loyalität zur EU gibt, die stattdessen als ein rein technisches, bürokratisches Ding verstanden wird. Es gibt keinen zelebrierten europäischen Feiertag, keine "allegiance to the flag", kein Beschwören und Berufen auf einen gemeinsamen Gründungsmythos, kein von Anfang an vermitteltes Gefühl der Größe Europas, kein Zusammenhang zwischen Freiheit und EU. Die USA haben eine solche Zivilreligion von Anfang an betrieben, gerade um die (anfangs) großen kulturellen Unterschiede zwischen ihren Bundesstaaten durch einen gemeinsamen Mythos auszugleichen. Ob Texaner oder New Yorker, alle sind sie Amerikaner. Wir sind Deutsche und Griechen.

Dies ist nicht zwingend ein Plädoyer für die Schaffung einer solchen Zivilreligion. Das Projekt einer europäischen Identität ist nicht gerade unumstritten, um es milde zu sagen. Auch hat eine Zivilreligion nicht nur Vorteile, wie jeder mit einem Blick über den Großen Teich erkennen kann. Die EU hat ohnehin eine Tendenz zur Detailregelung und der Kompetenzansammlung; mit einer entsprechenden Identität als zusätzliche Legitimation im Rücken stünde einem Dammbruch in diese Richtung fast nichts mehr im Weg.

Ich tendiere trotzdem dazu, eine solche Identität zu befürworten, schon allein, weil sie auch ein machtvolles Vehikel auf dem Weg zu mehr Demokratie innerhalb der EU sein kann. Die EU selbst bleibt außerdem eines der wichtigsten, wenn nicht das wichtigste, politische Projekt in Europa. Dies kann aber so oder so nur ein Langzeitprojekt sein, dem auch Taten folgen müssen.

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