Montag, 30. März 2015

Ein demokratischer Zirkus

Vom alten Kontinent aus betrachtet ist die Politik der USA immer ein bisschen merkwürdig. Man braucht sich nur die Präsidentschaftswahlkämpfe anzuschauen: nicht nur werden die Stimmen nach einem reichlich undemokratischen Verfahren verteilt, das eine echte Entscheidung auf gerade eine Handvoll Bundesstaaten beschränkt. Nein, da werden dann auch noch die Elektoren gewählt, die dann zu irgendwelchen Konventen reisen und dort offiziell den Präsidenten wählen, der dann drei Monate nach der eigentlichen Wahl - schließlich muss er noch per Kutsche nach Washington kommen - eingeschworen wird. Aber das ist ein harmloses Kuriosum, verglichen mit einigen anderen Elementen der amerikanischen Politik, die in der letzten Zeit für Schlagzeilen gesorgt haben und den gesamten Betrieb dort so aussehen lassen, als sei man in einem Zirkus gelandet, wo allerlei Abstrusitäten zur Belustigung des Publikums ausgestellt werden, nicht aber im Machtzentrum der letzten verbliebenen Supermacht. Und all das hat mit der Demokratie zu tun.


"Was für ein Zirkus?" werden sich jetzt manche fragen, deren Hobby nicht darin besteht, der amerikanischen Innenpolitik zu folgen. Einige Beispiele:

- Der Vorsitzende des Umweltausschusses des Senats, James Inhofe aus Oklahoma, brachte einen Schneeball in den Senat, schleuderte diesen grob in die Richtung der Democrats und verkündete siegessicher, damit die Theorie des Klimawandels widerlegt zu haben: schließlich erwärme sich die Erde offensichtlich nicht, wenn er draußen einen Schneeball formen könnte.

- Nachdem eine vierte Klasse zusammen mit ihrem Lehrer ein eigenes Gesetz geschrieben hatte, das den Rotschwanzfalken als "offizielles Raubtier New Hampshires" definiert hätte und zur Debatte dieses Gesetzes in C0ncord angereist war, zerrissen die Abgeordneten das Gesetz vor den Augen der Grundschüler, unter anderem mit den Argumenten "wir haben ohnehin zu viele Gesetze", "der Rotschwanzfalke tötet seine Beute, indem er sie mit scharfen Klauen festhält und mit einem rasiermesserscharfen Schnabel zerfetzt" und meinem persönlichen Favorit, dass der Falke allenfalls eine Metapher für Empfängnisverhütung darstellen könnte. Das alles, wohlgemerkt, direkt vor den Viertklässlern und nachdem der zuständige Ausschuss das Gesetz mit Stimmen beider Parteien durchgewunken hatte.

- In Kalifornien können Bürger für 200$ ein Gesetz einbringen, das, wenn es dann rund 375.000 Unterschriften erhält, einer Volksabstimmung unterzogen wird. Aktueller Kandidat: ein Gesetz, das die Todesstrafe für Schwule und Lesben vorsieht. Das Gesetz hätte im Zweifel keine Chance, am Supreme Court zu bestehen, aber die Regierung ist gesetzlich verpflichtet, es durch alle Instanzen laufen zu lassen.

- Ritch Workmann, Abgeordneter des Kongresses von Florida, wollte ein Gesetz gegen das Werfen von kleinwüchsigen Menschen abschaffen, weil "diese ihre eigenen Entscheidungen treffen können".

- Abgeordnete Sally Kern aus Oklahoma begründete die Initiative zur Abschaffung von Affirmative Action in ihrem Bundesstaat damit, dass sie Schwarze kenne, die nicht so hart arbeiten wie Weiße. Es gäbe also keine Diskriminierung von Schwarzen, wenn diese sich einfach mehr anstrengen würden.

- Ebenfalls in Oklahoma verkündete Abgeordneter John Bennett, dass der Islam ein Krebsgeschwür sei, das aus der amerikanischen Gesellschaft herausgeschnitten werden müsse und dass er zu dieser Aussage stehe, nicht bereit, seine Meinung zu ändern.

- In Massuchesetts wurden drei aufeinanderfolgende Sprecher des Repräsentantenhauses wegen Bestechung angeklagt, und zwar wegen der Art mit dem Geldkoffer und nicht der schwer nachzuweisenden "Job nach erfolgreicher Karriere"-Methode von Gerhard Schröder oder Wolfgang Clement. Eine Abgeordnete, die sich von einem FBI-Undercoveragenten bestechen ließ, stopfte das Bargeld direkt in ihren BH.

- Dominic Ruggerio, Senator in Rhode Island, wurde von der Polizei betrunken wegen Ladendiebstahls einiger Kondome angehalten. Sein Kollege Frank Ciccone hielt daraufhin an und drohte den Polizisten, dass Ruggerio ihre Rente gekürzt habe und sie noch viel krasser kürzen werde, wenn er wieder im Kongress sei, nachdem die Polizei ihn angehalten habe.

- In einem Wahlwerbespot verspricht Richter Kenneth Ingram, dass er der einzige Kandidat sei, der Angeklagte zuverlässig zum Tode verurteile. Dasselbe Versprechen wird von Michael Oster gemacht, während Kandidatin Paula Manderfield in ihrem Spot einen Ausschnitt aus einer Urteilsverkündung zeigt, indem sie verkündet, es sei "mein Privileg, Sie zu lebenslanger Haft ohne Bewährung" zu verurteilen. Willie Singletary, Bewerber für das Amt des Verkehrsrichters, sammelte Wahlkampfspenden bei Motorradclubs mit dem zugkräftigen Slogan, sie alle bräuchten ihn vor Gericht. (Alles hier)

Und wir sind noch gar nicht bei den Absurditäten von wählbaren Ämtern wie Sheriffs oder Hundefängern.

Vielleicht lese ich nur zu selektiv, ich weiß es nicht, aber mir scheint es, als ob solcher Quatsch in Deutschland nicht passiert. So langweilig Parteitage, Parteilisten und die Ochsentour auch sein mögen, sie schließen effektiv aus, dass irgendwelche cranks den politischen Prozess kapern und zugunsten von extremen Positionen drehen. Woher also kommt es, dass in den USA offensichtliche Rassisten in den Parlamenten sitzen, Vorsitzende von Umwelt- oder Wissenschaftsausschüssen mit dem logischen Verständnis von Kleinkindern argumentieren und Richter sich damit profilieren, die härtesten Strafen auszuteilen oder aber ihre Spender nachlässig davonkommen zu lassen? Zwei Faktoren spielen hier die entscheidende Rolle: Basisdemokratie und parteipolitische Polarisierung, und beide verstärken sich gegenseitig.

Bekanntlich sind die USA bei der Wahl ihrer Vertreter wesentlich demokratischer aufgestellt als wir, sofern man "demokratisch" mit "wählbar" gleichsetzt. In Vorwahlen werden die jeweiligen Parteikandidaten für die verschiedenen Parlamente, Bürgermeister, Gouverneure und das Präsidentenamt ausgewählt. Richter und andere Ämter des exekutiven und judikativen Bereichs werden ebenfalls in Wahlen besetzt. Zudem gibt es in vielen Bundesstaaten einfache Pfade zum Plebiszit, vor allem in Kalifornien. Nun könnte man das prinzipiell gut und progressiv finden, wenn doch nur ein Problem nicht wäre: die Wahlbeteiligung.

Denn die USA sind keine Ausnahme von dem Trend, der sich auch in Europa feststellen lässt: je kleiner und unbeachteter die Wahl, desto weniger Menschen gehen wählen. Landtagswahlen haben eine geringere Beteiligung als Bundestagswahlen, Landtagswahlen eine größere als Kommunalwahlen, und so weiter. Die Wahlbeteiligung von Volksabstimmungen überschreitet selten die 50%-Marke. Im Normalfall aber gehen vor allem zwei Arten von Menschen regelmäßig wählen: die Gebildeten und Wohlhabenden auf der einen und die Polarisierten auf der anderen Seite. In Deutschland haben der große Allparteienkonsens, der Allmedienkonsens und Merkels "assymetrische Demobilisierung" dafür gesorgt, dass die wenigsten Wahlen wirklich große Bedeutung haben: es geht eher um Details als um große Richtungsentscheidungen. In den USA aber ist das anders. Hier gibt es starke radikale Flügel (wenngleich rechts derzeit mehr als links), die versuchen, die Wahlen zu beeinflussen. Und da die Radikalen eher zur Wahl gehen als die Gemäßigten und eher bereit sind, Zeit und Geld zu investieren, sind sie bei den entscheidenden Vorwahlen der ausschlaggebende Faktor (bei den tatsächlichen Wahlen relativiert sich das dann wieder, aber da ist es zu spät).

Die meisten Menschen sind keine sonderlich aufmerksamen Beobachter des politischen Prozesses und wissen meist nur rudimentär Bescheid, was gerade läuft, das ist auch im vom Mehrheitswahlrecht geprägten Land of the Free and the Brave nicht anders als hierzulande. Wahlentscheidungen werden daher oft anhand von Parteiloyalitäten getroffen, die auch in den USA - entgegen den weit verbreiteten Vorurteilen - sehr stark sind. Während Parteilisten hierzulande größtenteils von den Parteifunktionären bestimmt werden, können in den USA unter den richtigen Bedingungen durchaus nicht vernetzte, radikale Außenseiter die Arena betreten. Diese landen später zwar selten in entscheidenden Positionen, verschieben aber die Gewichte und vor allem die öffentliche Debatte und können bei entsprechender Bedeutung die "seriösen" Kandidaten in ihre Richtung zwingen. Dies konnte man beispielhaft bei Romneys Wandlung vom "moderate Republican" zum "severe conservative" 2012 betrachten.

Mehr Demokratie ist nicht immer hilfreich, um ein für die Gesamtbevölkerung repräsentatives oder im gesamtgesellschaftlichen Sinn progressives Ergebnis zu bekommen. Der politische Zirkus der USA zeigt deutlich, dass zu viel Demokratie auch schädlich sein kann. Entscheidungen werden immer von denen getroffen, die da sind. Und das sind nach der Lage der Dinge immer diejenigen, die sich am meisten für Politik interessieren, und das wiederum nach Lage der Dinge nicht immer die, von denen man will, dass sie die Hebel der Entscheidung in der Hand halten. Man sollte das bedenken bevor man sich das nächste Mal begeistert in Ideen von Basisdemokratie, Volksabstimmungen und offener Kanzlerkandidatenkür stürzt.

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