Sonntag, 24. Januar 2016

Empörend, diese Empörung

Wir alle wissen, dass eine Empörungswelle im Netz ziemlich schnell gehen kann und meistens nicht zu detaillierten Nachforschungen im Vorfeld jener Empörung führt. Stattdessen wird schnell geteilt, sich aufgeregt, und weitergelebt. Und während bei Fällen wie "die Flüchtlinge kriegen vom Sozialamt alle kostenlos einen Mercedes" tatsächlich eine Sekunde Nachdenken angebracht ist, wie wahrscheinlich ein Sachverhalt wohl sein könnte, ist die Empöruing über die Empörung in einem anderen Fall deplatziert. Bei Amazon bot ein Händler namens FancyMe ein Flüchtlingskostüm (2. Weltkrieg) für Kinder an, mit Klamotten im typischen 1940er-Jahre-Stil. Dass das Nachstellen der deutschen Flucht, bei der über zwei Millionen Menschen gestorben sind, als Faschingsspaß für Kinder keine Kinder gute Idee ist, liegt auf der Hand, und entsprechend rollte die Empörungswelle durchs Netz. Nun hat SpiegelOnline nachrecherchiert und festgestellt, dass das alles eigentlich ganz anders ist.

Die Firma, die das Kostüm verkauft, sitzt in England und hat noch mehr solche Perlen im Angebot. Kostüme dieser Art sind in England ungeheuer populär, weil einmal im Jahr die Schulen die große Evakuierung der Kinder aus den Großstädten aus der Zeit des "Blitz" nachspielen, der deutschen Bomberoffensive. Zudem sind in England wohl generell Reenactments des Zweiten Weltkriegs ("1940 Family Weekend") relativ beliebt. Die Kostüme beziehen sich daher nicht auf die deutsche Flucht, sondern auf die englische Version der deutschen "Kinderlandverschickung". Der Spiegel schließt daraus:
Denn der Skandal um das Flüchtlingskostüm ist, wie Sie merken, gar keiner. Im Gegenteil: Er ist stattdessen ein guter Beleg für die unschöne Dynamik der Erregung im Internet. Erst denken, dann schreiben - diese Regel gilt oft nicht mehr. Es reicht, sich der Empörung anderer anzuschließen, auch wenn sie jeder Grundlage entbehrt. Den Anbieter der Kostüme hat der wohlmeinende Mob vorerst erlegt: Sämtliche WW-II-Verkleidungen wurden aus dem Angebot entfernt.

Nur ist diese Empörung über die Empörung reichlich wohlfeil. Denn es ist nicht meine Aufgabe als Konsument bei Amazon nachzurecherchieren, wie denn so etwas unter Umständen gemeint sein könnte. Es ist die Aufgabe des Anbieters, seine Produkte entsprechend zu kennzeichnen. Und bei der Beschreibung als "Flüchtlingskostüm Zweiter Weltkrieg" brauche ich keinen großen Interpretationsspielraum, besonders, da das Kostüm beim Originalanbieter als "Evacuee" ausgezeichnet ist - ein gewaltiger semantischer Unterschied zum "refugee". Wenn das Angebot für die deutsche Amazonseite also eingedeutscht wird, hätte man es wohl besser als "Kinderlandverschickung" ausgezeichnet. Das wäre immer noch geschmacklos gewesen, aber immerhin nicht ganz so sehr. Oder am besten gleich als "englische evakuierte Kinder" oder irgendetwas in der Art, dass der Ursprung deutlich wird.

Sich daher über mangelnde Recherche zu beklagen, ist in diesem Fall schlichtweg unaufrichtig, die Schuld liegt hier klar beim Anbieter. Wahrscheinlich ist diese Übernahme für das deutsche Amazon mehr oder weniger automatisch passiert, aber das ist nicht das Problem der Kunden. Es gibt bestimmte kulturelle Sensibilitäten, und die zu verletzen geht immer auf eigenes Risiko. Aus gutem Grund verkauft Amazon auch keine Wehrmachts- und SS-Verkleidungen (NVA-Paraphernalia gibt's dagegen massenhaft). Wenn der Spiegel sich jetzt also darüber empört, dass die Leute keine ausgiebige Recherche in den kulturellen Hintergrund eines englischen Anbieters stecken (nachdem sie vorher recherchiert haben, woher der kommt) ist das Unfug und dient nur dazu, sich seinerseits zu empören. Und darüber bin ich jetzt empört. Oder so.

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