Freitag, 26. Oktober 2018

Die Ampel: Eine verpasste Chance?

In einem Interview mit dem Spiegel hat der ehemalige hessische Ministerpräsident und Finanzminister Hans Eichel die Linie der hessischen SPD bestärkt, als bevorzugte Koalition die Ampel anzustreben. Das ist insofern interessant, als dass es ein wenig aus der Zeit gefallen scheint. Ich habe letzthin schon auf Twitter die Hypothese aufgestellt, dass das Nichtzustandekommen einer Ampel eines der großen "Was wäre wenn" der 2000er-Jahre ist. An der Stelle lohnt sich ein Blick zurück, bevor wir die Augen wieder auf die Gegenwart lenken.

Während der ersten Großen Koalition 2005 bis 2009 begannen die Werte der SPD in den Umfragen bereits langsam abzusinken und machten ein ums andere Mal deutlich, dass eine Wiederauflage des rot-grünen Bündnisses seit dem Einzug der LINKEn in den Bundestag nicht mehr möglich sein würde. Da die SPD noch hoffte, Merkel 2009 wieder durch einen SPD-Kanzler ablösen zu können, brauchte es daher eine realistische Machtoption. Rot-Rot-Grün wurde hierzu beständig und emphatisch ausgeschlossen, getrieben durch Druck der bürgerlichen Parteien und Medien auf eine Art, die spätestens in der Rückschau schon fast neurotisch und hysterisch scheint. Die einzig realistische Option war daher die Ampel-Koalition, die auch auf Nachfragen gebetsmühlenartig als Alternative bemüht wurde.

Die FDP weigerte sich unter ihrem damaligen Vorsitzenden Guido Westerwelle konsequent, sich dieser Idee gegenüber zu öffnen, was die beständigen Avancen der SPD-Führung umso peinlicher erscheinen ließ. Der Grund dafür ist simpel: Die Strategie der FDP war es, die Stimmen derjenigen, die mit der damals vielfach beklagten "Sozialdemokratisierung" der CDU in der Großen Koalition unzufrieden waren, aufzufangen und so gestärkt in das schwarz-gelbe Bündnis zu gehen, das man für 2005/2006 eingeplant hatte. Diese Strategie ging bis zur Wahlnacht auch auf, in der die FDP ein Rekordergebnis von rund 16% erzielen konnte.

Danach allerdings ging es für die Partei rapide bergab. Nicht nur ließ sie sich bei der Verteilung der Ministerien übervorteilen, ihr gelang es auch, konsequent keine ihrer Wahlkampfforderungen umzusetzen, mit der Ausnahme der Angleichung der Mehrwertsteuersätze für Hotels, die sich dank einer Mövenpick-Parteispende und guten Spins der Opposition in den Köpfen der Wähler als Korruption festsetzte. Bei der Wahl 2013 flog die Partei dann aus dem Bundestag. Seit ihrem Wiedereinzug 2017 scheut die Partei als gebranntes Kind die Verantwortung.

Nicht viel besser erging es der SPD, die 2009 ein Rekordniedrigergebnis einfuhr, dies 2013 nur marginal verbesserte und 2017 noch einmal unterbot, nur um nun in Umfragen um den Platz als drittstärkste Partei zu kämpfen. Einzig die Grünen fahren zwar in einer Umfragenachterbahn, sind aber insgesamt relativ stabil im höheren einstelligen Prozentbereich unterwegs - der gleiche Bereich übrigens, in dem es sich auch die LINKE gemütlich gemacht hat. Inzwischen hätte die früher noch mit Vehemenz bekämpfte R2G-Koalition nicht einmal mehr eine sichere Basis; die "linke Mehrheit", mit der Lafontaine in der ersten großen Koalition die SPD vor sich hertrieb, ist nicht einmal mehr als arithmetische Spielerei vorhanden.

Umso interessanter ist die Überlegung, wie anders die Situation wäre, wenn die FDP seinerzeit auf die Avancen der SPD eingegangen und das Ampelrisiko eingegangen wäre. Für diese Überlegung begehen wir gleich den ersten Kardinalsfehler und ignorieren die Grünen, aber das wird bei den R2G-Debatten ja auch gemacht. ;) Aber ernsthaft, sehen wir uns einmal kurz die Situation an, in der damals heiß über die Ampel diskutiert wurde.

Um 2007 herum waren die tonangebenden Figuren innerhalb der SPD Politiker wie Franz Müntefering, Frank-Walter Steinmeier, Peer Steinbrück, Wolfgang Clement, Matthias Platzeck, Kurt Beck und Olaf Scholz. Mit anderen Worten, es waren die Agenda-Boys, minus das Agenda-Oberhaupt, das sich von Putin fürstlich für die kläglichen Reste seines guten Leumunds entschädigen ließ. Entsprechend sah auch die Politik aus: Erhöhung der Mehrwertsteuer, Heraufsetzung des Renteneintrittsalters, Verschärfung der Hartz-IV-Sanktionen, Mittragen der Stasi-2.0-Sicherheitspolitiks des innenpolitschen Scharfmachers Schäuble, etc.

Als 2008 Kurt Beck seine glücklose Periode als Vorsitzender der SPD übernahm. Dessen strategische Perspektive war die Öffnung der SPD nach allen Seiten. Er schaffte das kategorische Kooperationsverbot mit der LINKEn in den westdeutschen Bundesländern ab, das die SPD so teuer kostete (unter anderem Hessen im selben Jahr), machte aber aus seiner Präferenz für die Ampel keinen Hehl, für die er auch persönlich stand: Beck hatte in Rheinland-Pfalz mit der Partei zusammen die letzte sozialliberale Koalition der BRD geführt, bevor er die absolute Mehrheit holte, ein aus heutiger Sicht beinahe unvorstellbares Zeugnis für seine Fähigkeiten - das sich dann jedoch als voreilig herausstellte. Im Amt agierte Beck denn auch eher glücklos, schwankte von hier nach dort (einerseits beleidigte er Arbeitslose und die Unterschicht, über die seinerzeit eine wilde Debatte tobte, andererseits unternahm er die Aufweichung der Bezugsregeln für das ALG-I) und fiel schließlich innerparteilicher Intrige und medialem Druck zum Opfer. Er hat da einiges mit Martin Schulz gemein.

Lange Rede, kurzer Sinn: die SPD von 2008 ist nicht die SPD von 2018. Die Partei war damals noch völlig im Fluss, und welche der Richtungen sich durchsetzen würde - und welche strategischen Optionen sich daraus ergeben würden - war damals noch völlig unklar. Für die Bundestagswahlen 2009 jedenfalls legte sich die SPD auf die Ampel fest. Dies bedeutete ein grundsätzliches Bekenntnis zum Agenda-Kurs.

Doch für eine Koalition braucht es immer Partner, und der Gewünschte erwies sich in diesem Fall mehr als unwillig. Westerwelle hatte spätestens seit der gemeinsamen Wahl Horst Köhlers (auch so ein Rohrkrepierer dieser an Rohrkrepierern nicht gerade armen Zeit) auf eine schwarz-gelbe Koalition hingearbeitet. Diese sollte eigentlich der Triumph von 2005 sein (beziehungsweise 2006, ohne Schröders Panikentscheidung mit den Neuwahlen). Aber durch Schröders überraschend starke Performance und dem Einbruch der CDU erledigte sich das, die FDP wurde Oppositionsführung und kritisierte seither die Große Koalition von rechts. Das ständige Polemisieren gegen die "Sozialisten", die quasi mit jedem nächsten Schritt die DDR wieder einführen würden, machte einen Kurswechsel gegenüber der SPD, milde ausgedrückt, schwer vermittelbar und in der Praxis dank der überzeugenden Mehrheit 2009 auch unnötig.

Aber hätte die FDP damals die Möglichkeit ergriffen und, ermutigt aus den Erfahrungen in einigen Bundesländern, für 2009 tatsächlich eine Ampel ernstlich in Betracht gezogen - wir würden heute vermutlich eine andere Republik sehen. Die SPD würde mit ziemlicher Sicherheit trotzdem Verluste erlitten haben, aber ob diese so groß wären wie sie heute sind kann durchaus bezweifelt werden. Der FDP wäre ebenso wahrscheinlich sowohl der große Erfolg 2009 als auch der gewaltige Absturz danach erspart geblieben.

Relevanter aber wären die Folgen für das Parteisystem als Ganzes. Offensichtlich wäre dadurch die ewige Große Koalition nicht mehr relevant gewesen, da genügend Alternativen bestanden hätten. Die CDU wäre mit Sicherheit deutlich rechter als ihre heutige Ausprägung, und die FDP würde das Zünglein an der Waage spielen, weil die Frage wäre, mit wem sie koalieren würde - statt in babylonischer Gefangenschaft an die CDU gekettet zu sein. Gleichzeitig würde die LINKE etwas stärker sein, weil die SPD und Grünen beide durch die FDP deutlich auf dem Agendakurs bleiben.

Fraglich ist allerdings, und das war damals neben den wahlkampftaktischen Festlegungen ja auch eine entscheidende Weichenstellung, welches Politikprojekt eine Ampel-Koalition gehabt hätte. Genau das war die Antwort, die die SPD damals auch nie geben konnte und die die FDP nicht einmal ernsthaft zu diskutieren bereit war. Offensichtlich dürfte sein, dass das Programm von 2009 mit der Ampel nicht hätte taugen können. Grundsätzlich hätte sich die Ampel wohl als ein sozialliberales Bündnis begreifen müssen: die FDP hätte ihr Profil als Partei von Rechtsstaatlichkeit und Bürgerrechten hervorgehoben und sich auf der anderen Seite als Korrektiv für die SPD und Grünen inszeniert (insbesondere was Energiewende und Agenda2010 anging), während SPD und Grüne ihrerseits die damalige Marktradikalität der FDP gezügelt hätten. Die Parteien hätten sich zudem, ähnlich dem Lindner-Wahlkampf 2017 und dem SPD-Wahlkampf 1998, hinter einem generellen Modernisierungsbegriff sammeln können, der durchaus das Internet und den Bildungsbereich hätte umfassen können. Eine Art großes "Deutschland zukunftsfähig machen"-Projekt, das den Status Quo auf dem Arbeitsmarkt unangetastet lässt. Das hätte erfordert, die Agenda2010 allseitig als Erfolgsstory und "mission accomplished" zu deklarieren, aber diese Grundströmung war ja ohnehin vorhanden.

Es ist offensichtlich, dass hierzu einige Bewegung bei allen Seiten mit ungewissem Ausgang und hohen politischen Kosten notwendig gewesen wäre. Es ist also nicht schwer zu sehen, warum aus dem Projekt nie etwas wurde. Doch die strategische Bedeutung einer stärkeren Mitte, als wir sie heute haben, ist nicht zu unterschätzen. Vielleicht hätte die Ampel sogar glücklicher mit dem Flüchtlingsproblem agieren können - man weiß es nicht. Vorteilhaft wäre so oder so die Einbindung der FDP in die politische Verantwortung gewesen.

Auf der anderen Seite steht natürlich die Gefahr, dass so der Zorn der Abgehängten noch schneller auf der Tagesordnung steht. Man vergisst das leicht, aber zwischen 2005 und 2008 gab es eine Vielzahl an Diskussionen über "soziale Unruhen", den Aufstieg der LINKEn und ein Abgleiten in den Linkspopulismus - ungefähr in derselben alarmistischen Stimmung, wie wir sie heute bezüglich der AfD haben, nur ohne die beständige Erklärung aller Beteiligten, dass jeder, der so fühle, einfach zu doof sei, die Segnungen der Agenda-Politik zu verstehen. Wäre damals die Ampel Wirklichkeit geworden, so hätte auch - gerade im Hinblick auf den Doppelschlag von Finanzkrise und Eurokrise 2009/2010 - die Bedrohung des deutschen Status Quo von der LINKEn ausgehen können. Dass die plötzlich mit 15-20% für westdeutsche Parlamente gehandelt wird und in ostdeutschen Parlamenten die mit Abstand stärkste Partei stellt, mit all den demokratielegitimierungstechnischen Problemen die ihr fortdauernder Ausschluss von der Macht gehabt hätte, ist kein völlig unrealistisches Szenario.

Die Ampel ist damit "the road not taken", aber ihr Weg steht grundsätzlich offen, zumindest in Ländern wie Hessen. im Bund käme sie nicht einmal auf eine rechnerische Mehrheit, geschweige denn dass die an Agenda-Schmerzen leidende SPD irgendwie mit der rechtsblinkenden, jugendlich-frischen FDP Lindners passen würde. Aber reizvoll wäre das Szenario durchaus. Zumindest für mich.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Hinweis: Nur ein Mitglied dieses Blogs kann Kommentare posten.