Mittwoch, 4. März 2020

Ist Deutschland wirklich eine Demokratie? - Teil 3: Der Maschinenraum

Im letzten Teil der Serie haben wir uns mit den Akteuren der Politik beschäftigt und dabei festgestellt, dass es sich im Guten wie im Schlechten um Parteien handelt, die die politische Geschicke der Bundesrepublik bestimmen. Heute werden wir uns mit der Frage beschäftigen, was eigentlich passiert, nachdem diese Akteure in den Parlamenten angekommen sind. Wie funktioniert der Bundestag? Wer bis hierher gelesen hat weiß, dass es deutlich komplizierter ist als ein "der Bundestag macht Gesetze", auch wenn das natürlich grundsätzlich richtig ist.

Abgeordneten-Logistik

Fangen wir mal auf der persönlichen Ebene an. Jede(r) Abgeordnete, der nun neu gewählt wurde, braucht ein Domizil in Berlin. Da fangen die Probleme auch schon an, denn Berlin ist nicht eben ein günstiges Pflaster, und Wohnungen sind rar gesät. Warum braucht ein(e) neue Abgeordnete überhaupt eine Wohnung? Jede zweite Woche ist Sitzungswoche im Parlament. Das heißt, dass hier von Montag bis Freitag im Bundestag und den Nebengebäuden gearbeitet wird. Da es Montags früh losgeht, ist eine Anreise am Sonntag abend (Bye bye, Familienleben) praktisch unabdingbar. Immerhin haben Abgeordnete eine Bahncard 100 Erste Klasse, so dass sie theoretisch gesehen nicht zur CO2-Belastung beitragen müssen; angesichts der legendären Zuverlässigkeit der Deutschen Bahn optieren aber viele weiterhin für Inlandsflüge.

Ist eine Zweitwohnung in Berlin gefunden, brauchen frischgebackene Abgeordnete ein Büro und Mitarbeiter. Ersteres wird in den Bundestagsgebäuden zur Verfügung gestellt (meist nicht im Bundestagsgebäude selbst, sondern in den Nebengebäuden, die übrigens durch Tunnel miteinander verbunden sind). Für letztere bekommt jede(r) Abgeordnete eine steuerfreie Kostenpauschale von aktuell rund 3700 Euro im Monat. Da davon auch ein Büro und Mitarbeiter im Wahlkreis finanziert sein wollen, müssen die Abgeordneten kreativ werden. Oft teilen sie sich Büro und Mitarbeiter im Wahlkreis mit den jeweiligen Landtagsabgeordneten, wo das möglich ist. Hier haben die großen Parteien deutliche Vorteile vor den kleinen Parteien, weil sie Kosten sparen können.

Sind diese Hürden genommen, gilt es, so nicht schon erfolgt, die persönlichen Dinge zu regeln. Gegebenenfalls neue Krankenversicherung, die anderen Feinheiten des neuen Abgeordnetenstatus' mit der Verwaltung abchecken und so weiter. Dazu kommen die Verhandlungen mit bisherigen Arbeitgebern, so eine Pause möglich ist; üblicherweise wird es auf Kündigung des alten Jobs hinauslaufen. Hier haben Beamte einen massiven Vorteil, weil sie ihr Beamtenverhältnis für die Zeit im Bundestag einfach ruhen lassen können - was sicherlich mit dazu beiträgt, dass rund ein Drittel der Parlamentarier Beamte war/ist.

Nun steht das Kennenlernen der Kollegen an, das heißt erst einmal: die eigene Fraktion. Diese setzt sich aus mindestens drei direkt gewählten Abgeordneten (die PDS 2002), üblicherweise aber aus mindestens 5% der Abgeordneten (der Normalfall) zusammen und hat damit eine Größe von irgendwo zwischen 50-60 und 350 Abgeordneten. Die Fraktion ist die zentrale Bezugsgröße im Leben jedes Parlamentariers, wie auch im parlamentarischen Betrieb, da sie eine gesetzlich geregelte Institution ist, die über zahlreiche Rechte und Pflichten verfügt, zu denen wir nachher noch kommen werden. Wir lassen unsere(n) Musterabgeordnete(n) jetzt aber erst einmal in seiner/ihrer ersten Sitzung und schauen uns an, wie die Struktur des Bundestags aussieht.

Der Bundestag arbeitet vor allem auf drei Ebenen: in den Ausschüssen, im Plenum und in den Fraktionen.

Der Bundestag auf dem Seziertisch - Das Plenum

In der Öffentlichkeit werden vor allem die Plenumssitzungen wahrgenommen, in denen die Abgeordneten mal mehr, mal weniger vollständig auf ihren Bänken sitzen und irgendwelchen Redebeiträgen lauschen. Hierbei handelt es sich vor allem um die öffentliche Performance von Politik. Was gesagt wird, überrascht üblicherweise niemanden. Die Zuhörer sind letztlich vor allem Requisiten, weswegen der Plenarsaal auch nur dann voll besetzt ist, wenn die jeweilige Politprominenz spricht oder Abstimmungen wichtig sind.

Abstimmungen, die keine große Bedeutung haben, werden üblicherweise von deutlich weniger Abgeordneten als dem vollen Plenum vorgenommen. Ein informelles Abkommen zwischen den Fraktionen - eine der vielen Normen, die den Laden zusammenhalten - sorgt dafür, dass die Mehrheitsverhältnisse stets gewahrt bleiben. Auf diese Art und Weise kann keine Partei die anderen ausbooten, indem sie in einer Art Überfall all ihre Abgeordneten erscheinen und abstimmen lässt. Solcherart ließe sich zwar eine einzelne Abstimmung gewinnen; danach wäre aber jegliches Vertrauen dahin und mindestens für den Rest der Legislatur eine Art "Kalter Krieg" vorhanden, der die legislative Arbeit lähmt (wir werden gleich sehen warum). Vor allem Politik-Newcomer wie die Piraten versuchen gerne, politisches Stroh damit zu dreschen, diese Normen zu brechen. Üblicherweise lernen sie schnell, warum diese Normen existieren und halten sie dann auch ein.

Halten wir fest: Plenarsitzungen dienen einerseits dem performativen Akt der Politik, also der (im Parteiengesetz vorgeschriebenen, wir erinnern uns!) lebendigen Verbindung zwischen Politik und Bevölkerung. Hier kann man Demokratie bei der Arbeit sehen, hier vermitteln die Abgeordneten ihre Positionen. Andererseits aber erfüllen sie die zentrale Funktion des eigentlichen gesetzgeberischen Aktes, der Abstimmung über ein Gesetz. Wir werden später schauen, wie das genau funktioniert, und dann auch besser verstehen, warum dafür wahrlich nicht alle 709 Abgeordneten anwesend sein müssen.

Der Bundestag auf dem Seziertisch - Die Ausschüsse

Die eigentliche Arbeit im Bundestag wird in den Ausschüssen geleistet. Jeder Abgeordnete ist per Gesetz zur Mitgliedschaft in mindestens einem Ausschuss verpflichtet. Welche Ausschüsse es gibt, legt der Bundestag selbst fest; gesetzlich festgeschrieben sind nur der Petitionsausschuss, Auswärtiges, Verteidigung und Angelegenheiten der EU. Aktuell gibt es insgesamt 24 so genannte ständige Ausschüsse; dazu können jederzeit temporäre Ausschüsse wie etwa der berühmte Untersuchungsausschuss kommen.

Jeder Ausschuss hat eine(n) Vorsitzende(n). Diese Rolle wird, einer weiteren der vielen informellen Normen entsprechend, alternierend zwischen den Fraktionen vergeben, wobei (noch eine Norm) der Vorsitz des wichtigsten Ausschusses, dem Haushaltsausschuss, immer der jeweils größten Oppositionspartei gegeben wird, weswegen aktuell die AfD hier den Vorsitz innehat. Die Ausschüsse unterscheiden sich bereits massiv von den Plenarsitzungen, denn hier tritt der performative Aspekt in den Hintergrund - zumindest zu Teilen, denn Ausschusssitzungen kommen in zwei Geschmacksrichtungen, geheim und öffentlich.

Schauen wir uns zuerst die öffentlichen Ausschusssitzungen an. Etwa bei Anhörungen von Experten, aber auch zu anderen Terminen werden die Sitzungen für Pressevertreter und interessiertes Publikum geöffnet. Hier tritt erneut der performative Aspekt von Politik in den Vordergrund.

Für die eigentliche Arbeit sind die geheimen Ausschusssitzungen wichtiger. Hier findet ein Großteil der eigentlichen parlamentarischen Arbeit statt. In den Ausschüssen sitzen Fachpolitiker (und solche, die es werden wollen oder sollten) und tauschen sich auf einer technischen, eher trockenen Ebene aus. Da die Sitzungen nicht öffentlich sind, kann auf die Rituale des politischen Betriebs verzichtet werden. Man arbeitet entweder an gemeinsamen Lösungen, was überraschend häufig vorkommt, oder entlang der Linien zwischen Koalition und Opposition.

Tatsächlich erfüllen die Ausschüsse die zentrale Funktion, Sachpolitik zu betreiben. Wir erkennen hier bereits den Charakter des deutschen Bundestags als ein so genanntes Arbeitsparlament. Anders als etwa das britische oder amerikanische Parlament dient es dazu, tatsächlich Politik zu machen (bei den Erstgenannten stehen die performativen Aspekte und die Kontrolle der Regierung wesentlich mehr im Vordergrund).

In Deutschland haben wir deswegen, anders als in den angelsächsischen Ländern oder Frankreich, eine so genannte Gewaltenverschränkung. Die Besseren Demokraten (tm) nehmen dies gerne zum Anlass zu behaupten, wir hätten in Deutschland keine Gewaltenteilung; tatsächlich ist diese bei weitem nicht so stark ausgeprägt. Die Legislative und die Exekutive sind häufig ja sogar in Personalunion; Angela Merkel etwa ist sowohl MdB als auch Bundeskanzlerin. Wir werden beim Gesetzgebungsprozess noch besser sehen, wie diese Verschränkung im Detail funktioniert.

Die Ausschüsse aber sind ein Ausfluss dieses Prinzips des Arbeitsparlaments: Hier gilt es vor allem dafür zu sorgen, dass Gesetzesvorlagen entstehen. Dabei ist es übrigens unabdingbar, Expertise von außen einzuholen. Das ist die große Stunde der Lobbyisten, die dann von den Ausschussmitgliedern nach festgelegtem Proporz eingeladen werden (so werden in Fragen der Umweltpolitik die Grünen eher jemanden von Greenpeace einladen als die FDP). Insgesamt läuft dieses System aber ohne größere Reibungen und produziert im Großen und Ganzen wirkungsvolle und funktionsfähige Gesetze. Auch hier steht der Bundestag in krassem Gegensatz etwa zum amerikanischen Kongress, dessen Gesetzesvorschläge überwiegend performativ sind und zu weit über 90% scheitern.

Der Bundestag auf dem Seziertisch - Die Fraktion

Jede Fraktion im Bundestag verfügt über ihre eigenen Arbeitsbereiche. Es handelt sich um wesentlich mehr als nur eine politische Einheit; eine Fraktion zu sein geht mit umfangreichen parlamentarischen Rechten einher. So können Fraktion kleine und große Anfragen an die Regierung stellen, die zu den wichtigsten Kontrollinstrumenten gehören, die Einsetzung von temporären Ausschüssen verlangen und vieles mehr. Die Leitung einer Fraktion gehört daher zu den wichtigsten parlamentarischen Aufgaben und ist ein Vollzeitjob, der auch entsprechend vergütet wird. In der Regierungsfraktion ist sie eigentlich immer von einer anderen Person als dem/der jeweiligen KanzlerIn besetzt; legendär etwa ist der SPD-Fraktionsvorsitz Herbert Wehners. In der Opposition ist der Fraktionsvorsitz üblicherweise für den/die kommende(n) KanzlerkandidatIn vorbehalten.

Innerhalb der Fraktionen findet ein großer Teil der parlamentarischen Arbeit statt. Hier werden Interessen ausgeglichen und Gesetzesvorlagen besprochen, hier wird die politische Taktik abgestimmt und vieles mehr. Soll ein Gesetz im Bundestag angenommen oder abgelehnt werden, werden die Gründe dafür in der Fraktionssitzung besprochen. Soll eine Fraktion ein Gesetz überhaupt entwickeln, so werden hier die Grundrisse dafür gelegt.

Die Fraktion ist auch entscheidend für die Herausbildung und Auswahl des Personals. Politiker, die sich in den Ausschüssen als Sachpolitiker profiliert haben, werden zukünftig für höhere Aufgaben ausersehen, etwa als Bindeglieder zu den entsprechenden Ministerien, sachpolitische Sprecher der jeweiligen Fraktion oder ultimativ als Minister. Hier spiegelt sich die Ochsentour, die die Abgeordneten überhaupt erst in den Bundestag gebracht hat.

Nur wer sich in den Augen seiner KollegInnen bewährt, hat eine Chance darauf, für solche Ämter in Betracht gezogen zu werden. Anders als in vielen anderen Parlamenten tendieren deutsche Minister daher eher dazu, Teamplayer zu sein und sich auch im Wechsel in die Exekutive immer noch eng mit ihrem legislativen Arm abzusprechen; wir sehen hier die Gewaltenverschränkung ein weiteres Mal in der Praxis.

Die leidige Frage der Unabhängigkeit

An dieser Stelle ist es angemessen, sich mit dem "freien Mandat" zu beschäftigen, einem Kernthema der Besseren Demokraten (tm). Artikel 38 Absatz 1 des Grundgesetzes informiert uns:
[Die Abgeordneten] sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen.
Wir müssen hier zwei Teile unterscheiden. Einerseits sind die Abgeordneten Vertreter des ganzen Volkes, andererseits sind sie nur ihrem Gewissen unterworfen und nicht an Weisungen oder Aufträge gebunden. Wenden wir uns zuerst der Vertretung des ganzen Volkes zu.

Das bedeutet, dass ein(e) deutsche(r) Abgeordnete(r) kein imperatives Mandat hat, also eines, das nur zur Vertretung bestimmter Anliegen oder Schichten gedacht ist. Wird ein Wahlkreis gewonnen oder ein Listenmandat errungen, repräsentiert ein(e) Abgeordnete(r) sämtliche Bürger, die sich in diesem Wahlkreis oder gar Bundesland befinden - und darüber hinaus sämtlicher deutscher Bürger! Er oder sie muss also mit einer Verantwortung für das Ganze handeln. Das kann nicht bedeuten, dass jederzeit jeder zufrieden sein muss; dieser Vertretungsanspruch ist ein legitimatorisches Konstrukt, keine konkrete Handlungsanweisung.

Sie müssen nicht nach Meinungsumfragen entscheiden, nicht nach Petitionen und Volksbegehren, nicht nach öffentlichem Druck. Wie der Grundgesetz-Artikel es formuliert, sind sie einzig ihrem Gewissen unterworfen. Stattdessen sollen die Abgeordneten stets so handeln, dass das Wohl des deutschen Volkes beschützt und gemehrt wird. Oder, wie es der Amtseid des/der BundeskanzlerIn formuliert:
Ich schwöre, dass ich meine Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden, das Grundgesetz und die Gesetze des Bundes wahren und verteidigen, meine Pflichten gewissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegen jedermann üben werde.
Ein(e) Abgeordnete(r), der/die sich gegen die Mehrheitsmeinung der Bevölkerung, den Druck der Partei und der Lobbyisten sowie der Medien stellt, weil er oder sie glaubt, damit im Interesse des gesamten Volkes zu handeln, ist gewissermaßen das Idealbild, das hier formuliert wird. Selbstverständlich ist dieses Idealbild, wie immer bei Idealen, in der Realität weder umzusetzen noch sonderlich wünschenswert. Formal allerdings kann kein Zweifel daran bestehen, dass niemand Abgeordnete zu etwas zwingen kann, das diese nicht tun wollen. Verpflichtet sind sie einzig ihrem Gewissen.

Die leidige Frage der Verlässlichkeit

Das Problem ist nur: Niemand will Abgeordnete, die einfach machen, worauf immer sie auch gerade Lust haben. Das ist natürlich ihr gutes Recht, nur ist es eher unwahrscheinlich, dass solche Leute überhaupt aufgestellt werden. Wie wir bereits gelernt haben, haben wir eine Parteiendemokratie. Parteien haben kein Interesse an Abgeordneten, die häufig gegen die Parteilinie abstimmen. Und die WählerInnen auch nicht.

Denn im Wahlkampf treten Abgeordnete nicht als Einzelpersonen an, sondern als VertreterInnen ihrer jeweiligen Partei. Es ist ja kein Zufall, dass ein Querkopf wie Marco Bülow in dem Moment sein Mandat aufgibt, als er sich der Unterstützung des Ortsverbands nicht mehr sicher sein kann - und nicht etwa als unabhängiger Abgeordneter um die Stimmen seines Wahlkreises wirbt. Denn sein Wahlkreis stimmte für den Kandidaten der SPD, und bestenfalls in zweiter Linie für Marco Bülow persönlich. Da kann er noch so viele klagende Bücher zum Thema schreiben. Das ist die Realität.

Und die WählerInnen haben einen Anspruch darauf, dass ihre Abgeordneten verlässlich sind, dass sie sich also im Parlament so verhalten, wie das im Wahlkampf vorher kommuniziert wurde. Denn praktisch niemand ist willens oder fähig, sowohl die Linie der Partei als auch die des/der jeweiligen Abgeordneten voneinander getrennt im Kopf zu behalten. Da der Wahlkampf nicht personalisiert, sondern in höchstem Maße von den Parteien bestimmt ist (zumindest über der Kommunalebene, die da etwas anders tickt), erwarten WählerInnen, dass ihr(e) Abgeordnete(r) von der AfD sich so verhält, wie es die Partei im Wahlkampf angekündigt hat - und nicht plötzlich seinem/ihrem Gewissen folgt und anfängt, die Rettung von Flüchtlingen zu fordern.

Die leidige Frage der Stabilität

Mit der Frage der Verlässlichkeit verwandt ist die Frage der Stabilität. Denn es bringt nur wenig, wenn ich zwar aufgrund von Wahlkampfversprechungen die Abgeordneten einer Partei wähle und diese dann in die Regierung eintreten, nur um selbige dann einen Monat später wegen eines Detailstreits wieder aufzukündigen und Neuwahlen zu erzwingen. Die Fixierung der Deutschen auf stabile Regierungsverhältnisse ist hauptsächlich in den historischen Erfahrungen der Weimarer Republik zu verorten (die Italiener etwa können über die Idee einer vier Jahre durchgängig regierenden Koalition nur müde lächeln), ist aber darüber nicht weniger real.

Die deutschen WählerInnen wollen, dass die einmal gewählten Mehrheitsverhältnisse stabil bleiben. Von Neuwahlen halten sie im Allgemeinen eher wenig, weswegen bisher alle drei Bundestagsauflösungen (1972, 1982 und 2005) auch mit großen Unwägbarkeiten verbunden waren und Ausnahmen blieben. Ergo entsteht auf die Abgeordneten ein hoher Druck, sowohl die Kohäsion der Regierung zu gewährleisten (sofern sie den Regierungsparteien angehören) als auch die der Opposition (wenn sie da zugehörig sind).

Denn das geht in beide Richtungen. Weder goutieren es die WählerInnen noch die FunktionärInnen, wenn einzelne Abgeordnete diese Stabilität ins Wanken bringen. Ein(e) Abgeordnete(r), der/die ständig gegen die eigene Regierung stimmt, muss sich fragen lassen, warum man denn die Wahl überhaupt angenommen hat, wenn man die Partei, auf deren guten Namen man gewählt wurde, nun nicht unterstützt. Und umgekehrt stellt sich dieselbe Frage, wenn man eine Regierung unterstützt, die aus Parteien besteht, denen man selbst nicht angehört.

Das gilt sogar für den Fall inhaltlichen Überlapps. Oskar Lafontaine war zwischen 2005 und 2009 ein Meister darin, die SPD mit dem Argument vor sich zu treiben, dass man ja eigentlich dasselbe wolle wie die SPD und dass eine rechnerische Mehrheit bestünde, wenn die Partei nur bereit wäre, mit der LINKEn zu stimmen (die Stimmen der Grünen wurden immer als gegeben angenommen, eine Rechnung, die bei allen R2G-Spekulationen bis heute Bestand hat). Nur war die SPD eine Große Koalition mit der CDU eingegangen und stand damit für deren Stabilität in Verantwortung.

Zwischen zwei unattraktiven Optionen eingeklemmt, die die WählerInnen beide jeweils nicht goutieren würden - den Bruch der Koalition oder die Treue zu derselben - wählte die SPD, wie stets, die staatsbürgerliche Verantwortung. In Deutschland heißt das: Stabilität. Diese Stabilität ist ein Fixpunkt der bundesdeutschen Geschichte, und sie sorgt auch für große Kontinuität zwischen den Regierungen. Bislang waren Regierungswechsel undramatisch, wurden einmal beschlossene Politiken von allen anerkannt. Nicht ohne Zufall waren beide großen Rollbacks der letzten beiden Dekaden dramatische Fehlzünder; weder brachte Schröders Zurückdrehen der Kohl'schen Rentenreform noch Merkels Rückabwicklung des Atomausstiegs die erhofften Meriten. Stattdessen waren beide innerhalb von drei Jahren dazu gezwungen, eine weitere 180°-Wende zu vollziehen. Mit Stabilität wären sie wohl besser gefahren.

Doch stabile Verhältnisse und Fraktionsdiziplin vollziehen sich nicht im luftleeren Raum. Im nächsten Teil der Serie werden wir sehen, ob das berühmte Bonmot, dass niemand sehen will, wie Würste oder Gesetze gemacht werden, der Wirklichkeit entspricht und den Satz "Der Bundestag macht Gesetze" mit Leben füllen.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Hinweis: Nur ein Mitglied dieses Blogs kann Kommentare posten.