Dienstag, 10. März 2020

Ist Deutschland wirklich eine Demokratie? - Teil 5: Probleme

In unserem letzten Teil der Serie haben wir uns angesehen, wie Gesetze gemacht werden, und damit den theoretischen Teil unserer Reise durch die Struktur unserer Demokratie abgeschlossen. Doch natürlich wissen wir alle, die wir jemals an einem Schild mit Geschwindigkeitsbegrenzung vorbeigerast sind, dass die schiere Existenz von Regeln nicht immer zwangsläufig mit deren Einhaltung einhergeht. Wir haben bereits den Konflikt zwischen Verfassungstheorie und Verfassungswirklichkeit erlebt, als es um die Rolle des/der BundeskanzlerIn oder der Parteien ging. Aber natürlich hat das System auch andere Sollbruchstellen dieser Art.

Diese Sollbruchstellen delegitimieren nicht das System als Ganzes. Um das gleich vorwegzunehmen: wir bleiben eine wirkliche, echte, funktionierende Demokratie. Diese Sollbruchstellen aber sind quasi der Sand im demokratischen Getriebe, der Kaugummi an der Schuhsohle der Republik. Einige sind problematischer als andere, und wenn nicht durch ständige Wachsamkeit in Zaum gehalten, haben sie durchaus das Vermögen, demokratiegefährdend oder -zersetzend zu wirken.

Innerparteiliche Demokratie

Ein erstes Problemfeld stellen hier die Parteien dar. Laut dem Parteiengesetz müssen diese demokratisch verfasst sein, also innerparteiliche Demokratie pflegen. Das geht hinunter bis in alle Gliederungen. Die Geschichte dieser innerparteilichen Demokratie ist zwiespältig. Auf der einen Seite kann kein Zweifel bestehen, dass alle Parteien in Deutschland tatsächlich demokratisch verfasst sind; andernfalls hätten sie keine Chance, vor dem BVerfG zu bestehen.

Problematischer sieht es damit aus, wie sich diese innerparteiliche Demokratie dann in der Praxis darstellt. Schließlich nützt es wenig, wenn die Wahlakte nur dazu dienen, performativ die Stärke der Partei zum Ausdruck zu bringen. Unter dem Gesichtspunkt war schließlich auch die DDR demokratisch verfasst; das reine Abhalten von Wahlen kann also wohl kaum ausreichende Grundlage sein.

Tatsächlich sind in den deutschen Parteien Wahlen sehr häufig, die keine Auswahl an Kandidaten bieten, sondern nur die Option, den/die eine(n) aufgestellten KandidatIn entweder affirmativ zu bestätigen oder durch eine Nein-Stimme abzulehnen; eine tatsächliche Mehrheit der Nein-Stimmen (die Ablehnung eines/einer solchen KandidatIn) ist höchst selten. Das liegt nicht zwingend daran, dass die Mitglieder auf Linie gezwungen werden, sondern auch daran, dass sich von vornherein nur solche KandidatInnen zur Wahl stellen, die auch eine breite UnterstützerInnenbasis haben. Auch das gehört zur innerparteilichen Demokratie.

Die problematischen Ausprägungen dieses Komplexes begegnen uns vor allem auf zwei Ebenen. Die eine ist die Bundesebene, wo Parteitage - auf denen technisch gesehen (Verfassungstheorie und Verfassungswirklichkeit!) der Wahlakt stattfindet, die aber meist Krönungsparteitage waren. Man denke etwa an die 100%, die Martin Schulz 2017 zu erringen imstande war. Auf solchen Parteitagen gelten andere Regeln; jedes Ergebnis, das signifikant unter 98-99% der Stimmen liegt, gilt als schlecht. Die Aufstellung erfolgt nicht über den Wahlakt auf dem Parteitag, sondern in einem internen Aushandlungsprozess.

Das wurde und wird oft als Problem gesehen. In den USA wurden deswegen die Vorwahlen eingeführt, die indessen nur wenig dazu beigetragen haben, die Kritik mangelnder Demokratie auszuhebeln, wie man jüngst erst wieder im Zusammenhang mit den demokratischen Vorwahlen 2020 sehen konnte. Als Folge auf das Wahldesaster von 2009 kündigte die SPD erstmals die Wahl des Vorsitzenden in einer Urwahl der kompletten Parteibasis an; dies wurde jedoch erst nach mehreren erneuten Desastern und dem Abgang von Andrea Nahles 2019 umgesetzt. Das Ergebnis war zwar eine demokratische Abstimmung, hat aber weder die Probleme der Partei beseitigt noch die Kritik zum Verstummen gebracht.

Die andere problematische Ausprägung ist auf den niederen Ebenen, etwa der Ortsvereine. Hier ist das Problem allzu häufig schlicht der Mangel an KandidatInnen, die sich überhaupt zur Wahl stellen. Vor allem die Menge der Kandidatinnen lässt oft zu wünschen übrig, was in Parteien mit etablierter Quotenregelung (Grüne, SPD und LINKE) dazu führt, dass häufig weibliche Kandidatinnen automatisch gewählt werden, während manchmal mehrere Männer um den Posten kämpfen. Dieser Mangel an Leuten, die bereit sind politische Verantwortung zu übernehmen, kann dazu führen, dass letztlich keine Wahl besteht - und damit die innerparteiliche Demokratie gefährden.

Aber: Generell sind die deutschen Parteien hier vergleichsweise gut aufgestellt. Zwar bestehen die oben skizzierten Probleme, aber generell sind die Strukturen noch im Einklang mit ihren Mitgliedern. Das viel größere Problem ist, dass zu wenige Bürger parteipolitisch engagiert sind. Dadurch bilden die Parteien nur unzureichend die Bevölkerung ab, was wiederum zu dem Gefühl führt, dass sie im innerparteilichen Prozess abgekapselt und "undemokratisch" sind - obwohl sie innerparteilich sehr demokratisch funktionieren. Dieses Repräsentationsproblem entzieht sich aber einer einfachen Lösung und wird uns weiter unten noch beschäftigen.

Das Bundesverfassungsgericht als Ersatzgesetzgeber

"Das Bundesverfassungsgericht als Ersatzgesetzgeber?" ist einer dieser klassischen Titel für Politikstunden. Die dahinter verborgene Thematik ist die, dass das BVerfG durch seine Rechtsprechung als paralleler Gesetzgeber auf den Plan tritt. Beispiele dafür ist etwa die berühmte Schaffung des "Rechts auf informelle Selbstbestimmung" im Urteil zur Volkszählung 1987. Ein solches Recht existierte vorher in keinem Gesetz; das BVerfG leitete seine Existenz aus seiner Interpretation der Verfassungsnormen her und verlieh ihm durch das Urteil Verfassungsrang.

Nun hat üblicherweise niemand etwas gegen Grundrechte. Das Problem ist aber, dass das BVerfG keine demokratische Legitimation in dem Sinne besitzt, dass die Richter vom Volk gewählt wären (anders als etwa die Bundestagsabgeordneten, denen legislative Aufgaben deswegen obliegen). Trotzdem - oder gerade deswegen, siehe "Das Problem der Transparenz" weiter unten - genießen die Verfassungsrichter im Volk ein großes Vertrauen, ungefähr auf einer Ebene mit Polizei und Feuerwehr. Weit höher jedenfalls als die gewählten Volksvertreter.

Trotzdem sollte man nicht aus dem Blick verlieren, dass die Aufgabe des BVerfG eigentlich nur ist, über die Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen zu entscheiden. Das Gericht geht darüber aber seit Jahrzehnten weit hinaus und erfüllt eben eine Funktion als paralleler Gesetzgeber. Man kann das als ein weiteres Beispiel dafür abtun, dass Verfassungstheorie und Verfassungswirklichkeit sich einmal mehr eben widersprechen, und ansonsten auf die segensreiche Wirkung des Gerichts im Einfangen einiger Auswüchse besonders in der Sicherheitspolitik verweisen (man darf an der Stelle an Schäubles unrühmliche Amtszeit als Innenminister erinnern).

Aber man sollte nicht den Fehler machen und einen aktuell segensreichen Zustand in die Zukunft extrapolieren. Nicht umsonst sind die Verfassungsgerichte die Übernahmeziele Nummer 1 von Rechtspopulisten, die ihr Land in eine Autokratie verwandeln wollen, ob in Polen, Ungarn oder den USA. Wie das in Deutschland parallel funktionieren könnte, hat der Verfassungsblog eindrücklich beschrieben; wer heute Nacht Albträume haben will, sollte den Artikel unbedingt zur Gänze lesen. Allein deswegen ist die große Macht des BVerfG demokratietheoretisch problematisch, ein Schicksal, das es mit jedem Verfassungsgericht teilt und ein innerer Widerspruch, der praktisch unauflösbar ist.

In den vergangenen 20 Jahren aber hat sich eine Entwicklung eingeschlichen, die für uns auch ohne hypothetische Schreckensszenarien problematisch ist: der zunehmend häufige Rückgriff auf das BVerfG als Ersatzgesetzgeber. Immer öfter lässt sich beobachten, dass der Bundestag unangenehme Entscheidungen nicht treffen möchte, sondern diese stattdessen an das BVerfG delegiert, das dafür eigentlich keine Legitimation besitzt. Dies hat sicherlich damit zu tun, dass die PolitikerInnen einen anhaltend schlechten und das BVerfG einen anhaltend guten Ruf hat. Es ist aber effektiv ein Missbrauch des BVerfG.

So versuchte die CDU etwa, das Thema der Homo-Ehe auf das Gericht abzuwälzen; Beobachter gingen weithin davon aus, dass die Legalisierung über den Umweg nach Karlsruhe kommen würde. In diesem Fall erzwang Martin Schulz aus wahlkampftaktischen Gründen die Abstimmung - aber es kommt immer wieder vor, dass die Politik Entscheidungen, von denen jeder weiß dass sie getroffen werden müssen, aber an der Basis unbeliebt sind, nach Karlsruhe abschiebt - analog zu Brüssel, dem wir uns jetzt widmen werden.

Ein Opa für Europa

Die Europäische Union ist eine der besten Erfindungen seit dem geschnittenen Brot [citation needed]. Seit ihrer ursprünglichen Genese als Europäische Wirtschaftsgemeinschaft 1957 hat sie sich deutlich weiterentwickelt und ist wesentlich integrierter geworden, sowohl in die Breite (in Form von mehr Mitgliedern) als auch in die Tiefe (in Form neuer Institutionen). Letztere können nur funktionieren, wenn die Mitgliedsstaaten der "immer engeren Union" kontinuierlich Souveränitätsrechte abgeben, was diese (demokratisch durch Ratifizierungen im Parlament legitimiert) auch getan haben.

Leider ist die Versuchung für PolitikerInnen groß, analog zum BVerfG unpopuläre Entscheidungen in Brüssel treffen zu lassen, oder zumindest Brüssel verantwortlich zu machen, und sich so selbst in Opposition zum "Moloch Europäische Union" aufzuschwingen und billige, populistische Punkte abzuräumen. Legendär ist etwa das Glühbirnenverbot, das unter anderem auf Betreiben der deutschen Regierung beschlossen wurde, und gegen das dieselbe Regierung danach populistisch Front machte.

Das delegitimiert aber gleich zwei: Einerseits die EU (die vermutlich eine eigene Artikelserie verdient) und andererseits den Bundestag. Der EU bleibt so der Ruch anhängen, undemokratisch und irgendwie nicht legitim zu sein, während der Bundestag sich des Eindrucks nicht erwehren kann, impotent zu sein. Letzteres ist umso absurder, als dass allgemein der europäischen Politik bis vor Kurzem nur wenig Raum gewidmet wurde; die Praxis aller Parteien, ihre verdienten Altmitglieder ins EP wegzubefördern ("ein Opa für Europa") - man denke nur an Lothar Biskys Abtreten in diese Richtung, oder das von Günther Oettinger - diente sicherlich nicht dazu, den Ruf der europäischen Institutionen zu fördern.

Lobbyismus

Ich habe bereits beschrieben, warum Lobbyismus grundsätzlich in einem demokratischen System legitim ist. Nur sind die Übergänge dorthin, wo er aufhört, legitim zu sein, fließend. Legitim ist es, wenn eine Interessengruppe, auch unter Einsatz von Geldmitteln, eine politische Entscheidung in ihrem Sinne zu beeinflussen versucht. Illegitim ist es, wenn dieselbe Gruppe das tut, indem sie Geschäfte auf Gegenseitigkeit mit PolitikerInnen schließt. Im Fachbegriff nennt man das quid pro quo, und wo dies nachgewiesen werden kann, machen sich beide Parteien straffällig.

Nur, nachgewiesen werden kann das praktisch nie. Der offenherzige Einsatz Gerhard Schröders für Gazprom als Bundeskanzler und die direkte Übernahme eines Millionenjobs im selben Konzern direkt danach etwa lassen durchaus den Verdacht zu, dass der Kanzler nicht die besten Interessen der Republik, sondern die seines Portmonees im Sinne hatte. Nur, wie will man das beweisen? Nicht nur wird es schwierig sein, einen Vertrag zu finden, der dieses quid pro quo festschreibt (mit lupenreinen Demokraten wie Putin verlässt man sich vermutlich ohnehin auf ein Ehrenwort); Schröder könnte auch mit Fug und Recht behaupten, dass sein Handeln den Interessen der Bundesrepublik dient. Das ist schließlich ohnehin Interpretationssache. Dass etwas einem Unternehmen hilft UND gut für das Land ist, schließt sich ja nicht aus.

Natürlich ist es eher selten so, dass in diesen Fällen mit Bestechungsgeldern nachgeholfen werden muss. Aber der Prozess ist eben auch selten so krude, dass ein Wolfgang Schäuble einen Koffer mit Schwarzgeld annimmt. SpitzenpolitikerInnen vor allem des bürgerlichen Lagers können sich üblicherweise darauf verlassen, nahtlos in die Wirtschaft überwechseln zu können, aber mittlerweile ist das für Sozialdemokraten und Grüne auch selten ein Problem. Oder glaubt jemand, dass Roland Berger einen Roland Koch wegen dessen großer Fähigkeiten in der Unternehmensberatung eingestellt hat?

Die Grenzen sind, wie gesagt, fließend. Dem Problem mit Gesetzen beizukommen ist praktisch unmöglich. Geld ist wie Wasser, es findet immer einen Weg. Das einzige, was die Korrumpierung der Politik zuverlässig in Zaum hält, sind funktionierende Normen und der Charakter der entsprechenden Personen. Ich würde zum Beispiel ziemlich zuversichtlich darauf wetten, dass Angela Merkel 2021 nicht zu Goldman Sachs gehen wird. Für Christian Lindner dagegen würde ich nicht mal eine angebrochene Tüte Erdnüsse als Wetteinsatz bereitstellen, und ich hasse Erdnüsse.

Das Problem der Transparenz

Ein ganz anderes Problem ist das der Transparenz. Ich habe das bereits in dem Teil unserer Betrachtung anklingen lassen, der sich mit der Wurstfabrik beschäftigt. Das Grundproblem ist schlicht: Je mehr die Leute über den demokratischen Prozess erfahren, desto abgestoßener sind sie üblicherweise. Das ist nicht die Schuld der Politik, sondern der Medien und der Wähler.

Das Problem hier ist ein grundsätzlicher Widerspruch zwischen dem, was Leute sagen das sie wollen, und dem was die Realität ist. Generell hört man, dass man von der Politik nicht belogen werden will, dass man Transparenz will, dass die PolitikerInnen sich zur Sache äußern, dass sie miteinander in der Partei debattieren und streiten und dass sie mit der Opposition zusammenarbeiten und Kompromisse schließen sollen.

Und dennoch. Wenn PolitikerInnen die Wahrheit sagen, werden sie nicht gewählt. Wenn Vorgänge transparent gemacht werden, geht ihre Legitimität in den Sturzflug. Äußern sich PolitikerInnen sachlich zu konkreten Themen, hört ihnen niemand zu. Debattiert eine Partei kontrovers oder hat gar mehrere Kandidaten zur Auswahl, wird das als Ausweis von Schwäche genommen und verurteilt. Arbeiten Parteien zusammen und schließen Kompromisse, werden sie als Verräter gesehen.

Beispiele gefällig? Im Wahlkampf 2005 war Angela Merkel ungewohnt ehrlich und kündigte an, die Mehrwertsteuer zu erhöhen. Der schon sicher geglaubte Sieg fiel (zugegebenermaßen auch dank der bescheuerten Idee, Paul Kirchhof als Exponent der neuen Regierungspolitik herzunehmen) beinahe an Schröder, der, um es milde zu sagen, gegenüber der Idee der Wahrheit im Wahlkampf immer einen gesunden Abstand gewahrt hatte. Als die Grünen 1983 in den Bundestag einzogen und Fraktionssitzungen öffentlich machten, war die Berichterstattung in den Medien einhellig negativ, weil sie sich in den Sitzungen stritten und debattierten; das Experiment wurde 1990 beendet und seither von niemandem wiederholt. Elizabeth Warren äußerte sich zu Sachthema nach Sachthema. Diskutiert wurde hauptsächlich der eine Plan, der nicht 100% stimmig war und ihr Kommentar zu ihren Native-Americans-Vorfahren. Der Gewinn der SPD und der CDU aus ihren Kampfabstimmungen um das Vorsitzendenamt hält sich, gelinde gesagt, in Grenzen. Dass die SPD im deutschen Einigungsprozess mit der CDU kooperierte, gewann ihr 1990 nicht eben viele Stimmen.

Dieses Muster ist so alt wie die Demokratie und keinesfalls auf unsere Zeit begrenzt. Wähler und Medien behaupten, das eine zu wollen, aber wenn sie es bekommen, dann stürzen sie sich wie Hyänen darauf und zerreißen die Politik. Man kann es ihr nicht verdenken, so viele Sitzungen wie möglich hinter verschlossenen Türen abzuhalten. Denn immer, wenn die Türen zu sind, kommt es zu Kompromissen und Lösungen. Sind sie offen, ist das praktisch unmöglich. Dieses Muster lässt sich auch in anderen Ländern und Prozessen beobachten. Gewinnt etwa Joe Bidens wahrscheinlicher Sieg bei den Vorwahlen durch die extrem hohe Transparenz der Vorgänge an Legitimität? Keinesfalls, die BernieBros werden nicht von Verschwörungstheorien abgehalten. Der Effekt ist derselbe, als würde man wie einst hinter verschlossenen Türen auf der National Convention einen Kandidaten aushandeln.

Das heißt nicht, dass Transparenz zwingend etwas Schlechtes ist. Es heißt nur, dass es kein Heilsversprechen ist. Denn andererseits ist es ja gerade die mangelnde Transparenz auf vielen Ebenen, die ein Einfallstor für das Brechen von Versprechen und das Wirken von Lobbyisten ist. Es macht einen wahnsinnig. Wären Wähler und Medien weniger widersprüchlich, wäre das gar nicht so das Problem, denn dann würden sie das Verhalten goutieren, von dem sie behaupten, dass sie es wollen. Aber wenn PolitikerInnen Transparenz herstellen, werden sie dafür in den Medien und an der Wahlurne bestraft. Einen Ausweg aus diesem Dilemma sehe ich nicht.

Das Problem der Repräsentation

Ich habe viel Betonung darauf gelegt, dass unser System dem Souverän nicht die Entscheidung über konkrete Themen auferlegt, sondern die Wahl von Repräsentanten, die dann diese Entscheidungen treffen. In der Theorie sollen diese Repräsentanten jeweils die gesamte Bevölkerung ihres Wahlkreises auf der einen und der Bundesrepublik auf der anderen Seite vertreten. In der Praxis ist das nicht der Fall; teilweise aus systemischen Gründen, teilweise aus Fehlentwicklungen. Schauen wir zuerst auf systemische Gründe.

Das systemische Problem ist, dass die Repräsentation der Gesamtbevölkerung, das Handeln im Sinne des gesamten Landes ein Idealbild ist, das in der Praxis nicht haltbar ist und sein kann. Jede Gesellschaft ist pluralistisch, besteht aus zahlreichen verschiedenen, oftmals gegensätzlichen Interessengruppen. Das Thema, bei dem 100% der Bevölkerung dieselbe Meinung vertreten, muss noch gefunden werden.

Die politische Beschäftigung mit einem Thema ist zudem immer dazu angetan, zu polarisieren und es mit zusätzlicher Bedeutung aufzuladen. Die alte Frage etwa, ob Klopapierrollen mit dem abzureißenden Papier zur Wand oder zur Toilettenschüssel auf den Halter gehören, hat das Potenzial, als Volksabstimmung die Republik zu spalten und die Parteien in erbitterte Konflikte zu stürzen, einfach nur, weil die Fragestellung salient gemacht wurde.

In einer pluralistischen Demokratie nehmen wir das nicht nur in Kauf, wir begrüßen es sogar. Dass die Bevölkerung unterschiedliche Meinungen zu unterschiedlichen Themen hat ist völlig normal und in jedem System so. Diktaturen unterdrücken diesen Pluralismus nur. Wer etwa glaubt, die Chinesen seien besonders kollektiv, geht letztlich der Propaganda der KPCH auf den Leim - abgesehen davon, dass er oder sie rassistische Klischees reproduziert. Nein, Repräsentanten können niemals den Interessen der gesamten Bevölkerung gerecht werden. Deswegen wählen wir; könnten sie alle gleichermaßen repräsentieren, wäre ein Wahlakt unnötig.

Aber: Sie repräsentieren jeden. Und manche Abgeordnete nehmen diese Pflicht ernster als andere. Sie versuchen, auch Gegner zu überzeugen oder doch zumindest soweit zu bringen, dass sie ihre Niederlage im demokratischen Prozess akzeptieren. Letzteres ist für eine Demokratie entscheidend. Der Großteil der Stuttgarter etwa hat, wenngleih murrend, die Niederlage in der S21-Volksabstimmung akzeptiert. Es sieht auch so aus, als hätten selbst Remainer ihren Frieden mit dem Brexit gemacht. In den USA dagegen sehen wir gerade die Folgen davon, dass eine von zwei Parteien sich aus dem demokratischen Konsens, die Ergebnisse einer Wahl zu akzeptieren, verabschiedet hat. Acht Jahre lang verhielt sich die GOP, als sei das Land von einer fremden Macht besetzt. Gerade rechnen sie mit ihren Gegnern in einem Maß ab, das selbst denjenigen, die sich 1944 an den Kollaborateuren rächten, Schamesröte ins Gesicht treiben würde.

Diese Gefahr ist in jeder Demokratie gegeben. Abgeordnete, die sich nur als Vertreter einer bestimmten Gruppe sehen und den Rest als Feind begreifen, zerstören die Demokratie. Das ist einer der zentralen Faktoren, weswegen die AfD so zersetzend wirkt, und warum die Kommentare auf der Strategiesitzung der LINKEn vom "Erschießen der Reichen" so problematisch sind. Abgeordnete müssen nicht die Interessen aller Menschen in Wahlkreis und Republik vertreten, aber sie müssen ihre Anliegen und Existenz als legitim und sich selbst auch als ihre Repräsentanten betrachten. Einmal mehr braucht es hierzu funktionierende Normen und starken Charakter. Vor allem die AfD lässt beides vermissen.

Ein Problem vor allem der letzten zwei Dekaden dagegen ist selbst verursacht. Die sinkende Wahlbeteiligung auf der einen und der sinkende parteiliche Organisationsgrad auf der anderen Seite sorgen dafür, dass die Parteien weniger repräsentativ für den Bevölkerungsquerschnitt sind. Dadurch werden die oben angesprochenen Probleme verschärft. Immer mehr Gruppen in der Bevölkerung sehen sich, ob zu Recht oder Unrecht, in der Zusammensetzung der Fraktionen aller Ebenen nicht (mehr) wiedergespiegelt.

Dies führt zu dem Problem, das Volksabstimmungen bereits seit geraumer Zeit plagt. Marginalisierte Gruppen - vor allem Arbeitslose und Migranten, aber auch Niedriglöhner, prekär Beschäftigte und junge Menschen - wählen selten und organisieren sich noch seltener. Dementsprechend finden ihre Anliegen in den bisher beschriebenen Institutionen weniger Gehör.

Repräsentation ist aber ungeheuer wichtig, um diesen Anliegen Gehör verschaffen zu können. Daher kommt auch die Bedeutung von Quoten und vergleichbaren Regeln. Es ist kein Zufall, dass CDU und FDP in den Großstädten kein Bein auf den Boden bekommen; die dort dominanten Gruppen sind in den Parteien deutlich weniger vertreten als etwa bei den Grünen oder der SPD. Umgekehrt reüssieren SPD und LINKE eher nicht bei den Landwirten in den ländlich geprägten Regionen, etwa der Schwäbischen Alb. Das Parteiprogramm selbst spielt dabei eine eher sekundäre Rolle; ein großer Teil sind, wie so oft, Identitätspolitiken. Es geht darum, die Sprache der jeweiligen Gruppe zu sprechen, ihre "Sorgen und Nöte" zu verstehen.

In letzter Zeit ist ein leicht positiver Trend bei Migranten und ein sehr starker Trend bei Frauen auszumachen, der zu mehr Repräsentation dieser Gruppen führt. Das ist in den progressiven Parteien deutlich prononcierter, aber grundsätzlich im gesamten Spektrum der Fall. Umgekehrt haben die genannten marginalisierten Gruppen häufig wenigstens das Gefühl, gar keine Vertretung zu haben, niemanden, der für sie spricht. In ein solches Vakuum stoßen dann oft Populisten, die zwar die entsprechende Sprache beherrschen (wenn etwa Trump im hardhat Kohle zu schaufeln vorgibt oder ein Alexander Gauland den Pegida-Mob anspricht), aber häufig nicht in den entsprechenden Milieus verankert sind. Sie greifen Ressentiments ab, ohne der entsprechenden Gruppe zu helfen. Ein Gegenentwurf dazu wäre die alte Sozialdemokratie, als sie sich noch dezidiert als Arbeiterpartei verstand und eine vormals marginalisierte Klasse in das politische System integrierte - oder die liberalen Parteien, die dasselbe im 19. Jahrhundert für das Bürgertum erreichten.

Es braucht daher eine echte Repräsentation, nicht nur ein Abschöpfen von Ressentiments, für marginalisierte Gruppen. Dazu gehört aber nicht nur eine Bringschuld seitens des politischen Systems, sondern auch eine Holschuld seitens des Souveräns. Was meine ich?

Parteien reagieren ungeheuer sensibel auf die Wünsche und Befindlichkeiten derer, die wählen gehen. Wenn also Menschen mit Migrationshintergrund, junge Menschen, arme Menschen, arbeitslose Menschen wählen gehen und aktive Mitglieder in Parteien werden, dann werden ihre Anliegen auch automatisch mehr gehört. Es ist ja kein gottgegebenes Gesetz, dass die Anliegen von Rentnern hohe Priorität und die junger Menschen niedrige Priorität haben. Dazwischen liegt eine Differenz bei der Wahlbeteiligung von 60 oder 70 Prozent. Das ist alles.

Fazit

Kein System ist ohne Probleme, und ein so inhärent chaotisches, pluralistisches System wie eine Demokratie ohnehin nicht. Viele dieser Probleme lassen sich angehen, manche mit Reformen, manche mit Partizipation, manche durch mehr Handlungsdruck. Dabei sind grundsätzlich alle Teile des Souveräns gefragt. Denn am Ende des Tages werden Entscheidungen immer von denjenigen getroffen, die da sind.

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