Montag, 25. Oktober 2021

Die Schuldenbremse ist tot

 

Als die DDR unterging, zeigte sich, dass den Sozialismus in seinem Lauf zwar weder Ochs noch Esel, sehr wohl aber die Realität aufhielt. Ideologische Stromlinienförmigkeit, absolute Prinzipientreue und weltanschauliche Unerschütterlichkeit mochten zwar eine Parteikarriere ermöglichen, aber kein noch so detailliert ausformulierter Fünf-Jahr-Plan kam gegen die unerbittliche normative Kraft des Faktischen an. Ähnlich ist es bei der Schuldenbremse. Ihr mangelt es nicht an absolut überzeugten und determinierten Verfechtern, die bereit sind, eher 2+2=5 ins Grundgesetz zu schreiben als ihr liebstes ideologisches Projekt aufzugeben. Aber das ändert wenig daran, dass sie gescheitert und im Grunde tot ist.

So wie alles, was in der DDR auch nur ansatzweise funktionierte, dies trotz, nicht wegen der Planungsbehörden tat und diese umgehen musste, so verhält es sich auch mit der Schuldenbremse. Im sozialistischen Utopia flossen Schmiergelder, wurde geschmuggelt und wurden Absprachen aller Art getroffen, Kuhhändel geschlossen und Regeln umgangen, um den Laden einigermaßen am Laufen zu halten. Das lief mehr schlecht als recht und am Ende eigentlich nur noch schlecht.

Auch die Schuldenbremse ist nicht mehr das Papier wert, auf dem sie geschrieben steht, genauso wie ihre große Schwester, der Stabilitäts- und Wachstumspakt. Der 30jährige Versuch, eine ideologische Wirtschaftspolitik zu betreiben, ohne Rücksicht auf die Realität zu nehmen, ist gescheitert. Genauso wie beim realsozialistischen Experiment ist der Kollateralschaden beträchtlich, wenngleich er mit deutlich weniger menschlichem Leid auskommt. Auch in seinem Scheitern zeigt sich der Kapitalismus dem Realsozialismus noch überlegen.

Bevor wir genauer anschauen, warum dieses ideologische Experiment scheiterte und warum es politisch trotz aller Absichtsbekundungen tot ist, eine kurze Geschichte dieser beiden Instrumente.

Der Stabilitäts- und Wachstumspakt wurde von der Kohl-Regierung als ein Teil des Preises eingetrieben, den Frankreich für die Einführung seines Herzenswunsches, des Euro, bezahlen musste (der andere war die Einrichtung der EZB in Frankfurt als Spiegelbild der Bundesbank). 1993 war die Wirtschafts- und Währungsunion in Maastricht ratifiziert worden, die 1997 durch den Stabilitäts- und Wachstumspakt ergänzt wurde. Er enthält die berüchtigten beiden Kennzahlen der Staatsverschuldung: maximal 3% der jährlichen Wirtschaftsleistung, maximal 60% des BIP insgesamt.

Die Schuldenbremse wurde 2009 von CDU und SPD eingeführt. Die SPD versprach sich von ihrer tatsächlich eine Steuersenkungsbremse: angesichts einer dräuenden CDU-FDP-Regierung wollte sie dieser mit der Schuldenbremse fiskalisch die Hände binden, damit sie nicht zu viele Kürzungen vornehmen konnte. Dieses Kalkül kann man höflich als kurzsichtig beschreiben, aber es ging grundsätzlich auf: die große Steuerreform blieb zwischen 2009 und 2013 jedenfalls aus. Die Schuldenbremse begrenzt die Nettokreditaufnahme auf 0,35% des BIP, sieht jedoch automatische Angleichungen für die Konjunkturlage und Mechanismen zur Außerkraftsetzung in Krisen vor.

Beide Instrumente stießen auf krisenhafte Umstände, die ihre Modifikation erforderten. Besonders unnachgiebig war der starre Stabilitäts- und Wachstumspakt, der im Lauf der Finanz- und Eurokrise so oft und umfassend reformiert wurde, dass er mittlerweile kaum mehr wiederzuerkennen ist; die Corona-Pandemie versetzte ihm effektiv den Todensstoß. Die Klagen seiner Verteidiger*innen zu diesem Umstand sind vollkommen richtig: der SWP ist mittlerweile zwar noch irgendwie rechtsgültig, hat aber mit seiner ursprünglichen Konzeption nur noch wenig zu tun.

Der Schuldenbremse droht gerade dasselbe Schicksal. Bereits während der Finanz- und Eurokrise stieß sie immer wieder an ihre Grenzen, doch es war die Corona-Pandemie, die sie endgültig ad absurdum führte. Ohne die massive Öffnung der Kredithähne wären die gesamtgesellschaftlichen Kosten ohne Zweifel deutlich höher gewesen als die Kreditaufnahme. Man kann nur auf Knien dankbar sein, dass ein Sozialdemokrat und nicht ein Christdemokrat oder Freidemokrat im Finanzministerium saß.

Man sollte nicht annehmen, dass die Verteidiger*innen es nicht ernst meinten: Die FDP und der rechte Flügel der CDU unter dem damaligen Wortführer Wolfgang Bosbach ließen beinahe die Regierung über die Frage der buchstabengetreuen Einhaltung des SWP scheitern; Merkel überlebte nur dank Leihstimmen der SPD. Wie so oft erwiesen sich die Sozialdemokraten selbst in der Opposition als bis an die Schmerzgrenze verantwortungsbewusst.

Diese Position ist dabei keine Minderheitsposition. Die überwältigende Mehrheit der Deutschen liebt die Schuldenbremse, zumindest im Prinzip. Gefragt, ob sie Habeck oder Lindner als Finanzminister bevorzugen würden, antworteten fast 50% mit Lindner und kaum 24% mit Habeck; nicht einmal im "linken Lager" genießt die Idee einer nicht schuldenbremsebasierten Finanzpolitik eine Mehrheit.

Das führt zu einer paradoxen politischen Situation. Die Forderung, die Schuldenbremse abzuschaffen, ist offensichtlich eine politische Totgeburt (ohne die CDU wäre die Verfassung niemals zu ändern), weswegen immer kreativere Methoden gefunden werden, um sie zu umgehen. In der Rezession ist sie, wie die Pandemie gezeigt hat, effektiv bereits erledigt. Doch angesichts des gewaltigen Investitionsstaus einerseits und den Herausforderungen der Klimakrise andererseits, nicht zu sprechen von Unternehmungen wie dem 2%-Ziel der NATO, ist allen Beteiligten klar, dass die Staatsausgaben in den nächsten Jahren steigen werden. Kürzungen sind aber fast nicht möglich, weil die größten Ausgabeposten gar nicht angetastet werden können (Stichworte: Hartz-IV, längerfristig verplante Gelder, etc.). Da Steuererhöhungen andererseits niemals die Summen ergeben können, die nötig wären (auch wenn die linken Parteien aus taktischen Gründen diesen Eindruck zu erwecken versuchen), bleibt eigentlich nur die Kreditaufnahme.

Man achte nur einmal darauf, wie häufig in der letzten Zeit die Idee eines Investitionsfonds oder ähnlich gelagerter Instrumente in die politische Debatte eingebracht wird, gerade auch von Ökonom*innen, die bisher nicht unbedingt durch ihre Nähe zum linken Lager aufgefallen sind. Investitionsfonds haben den großen Vorteil, einerseits direkter den privaten Sektor zu involvieren als die das eher schwerfällige Instrument direkter staatlicher Ausgabenpolitik tut, und andererseits nicht unter die Begrenzungen der Schuldengrenze zu fallen. Dafür ist "nur" ein bisschen buchhalterisches Jiu-Jitsu vonnöten.

Diese Art von Tricks kennt man bereits vom SWP, der, wie bereits mehrfach erwähnt, mittlerweile zwar etwas regelt - aber nicht das, was ursprünglich einmal beabsichtigt war. Das ist sehr problematisch, denn auf diese Art wird letztlich das System ausgehölt, das Fundament beschädigt. Es werden zwar noch Lippenbekenntnisse abgegeben, aber längst nicht mehr danach gehandelt. Auch das erinnert an die DDR: dem Sozialismus wurden Lippenbekenntnisse gewidmet, aber niemand handelte mehr danach. Das hölte das System aus und schuf mehr als alles andere die Grundlage für den schnellen Zusammenbruch 1989/91.

Es ist natürlich eine Frage des Standpunkts, wie man das bewertet. Ich lasse wenig Zweifel daran, dass ich die Schuldenbremse genauso wie den SWP für eine grundsätzlich schlechte Idee halte. Sie ist rein ideologisch motiviert und hat keine Verankerung in irgendwelchen realen Grundlagen; die Zahlen sind politisch. Warum 60% vom BIP und nicht 65%? Warum 3% Neuverschuldung und nicht 2,5%? Es sind erfundene Zahlen, die eine willkürliche Grenze definieren, weil man eine Grenze definiert haben wollte. Die Ideologie verlangte es.

Denn die grundlegende Idee hinter diesen Instrumenten ist, dem Staat so weit wie möglich die Gestaltungsmacht zu nehmen. Die "Unabhängigkeit" der Notenbanken (die keine echte Unabhängigkeit ist) gehört in das gleiche Spektrum. Der beherrschende Wunsch ist, dem Parlament und der Regierung Spielräume zu nehmen. Diese Position kann man durchaus vertreten - es ist ein legitimes Ziel, Ausgaben und Interventionen des Staates einschränken zu wollen - aber man sollte auch ehrlich sein, dass man dieses Ziel verfolgt. Genau das tun aber die Verteidiger*innen dieser Instrumente nicht.

Fast 30 Jahre lang sicherte die institutionelle Dominanz der Ideolog*innen diese Instrumente ab. In die Bundesbank wurde nur berufen, wer vorher absolute Linientreue bewiesen hatte. Der Rat der Wirtschaftsweisen bestand zu 4/5 aus Gleichgesinnten. Medial galt nur als satisfaktionsfähig, wer diese Linie mittrug. Und so weiter. Doch inzwischen bröckelt diese ideologische Front, und zwar vor allem, weil die Realität sich einfach nicht länger ignorieren lässt. Als es "nur" darum ging, die Wirtschaft anderer Länder zu ruinieren, noch dazu die Südeuropas, hielt die Front, aber seit in der Pandemie die Folgen der ideologischen Linientreue massiv die eigene Bevölkerung treffen würden, wurden diverse Leute zum Offenbarungseid gezwungen. Ideologische Vorkämpfer wie Lars Feld oder Jens Weidmann haben das Handtuch geworfen und einer Riege pragmatischerer Akteure Platz gemacht, die mittlerweile sogar den Hort der Linientreue, die Bundesbank, auf eine pragmatischere Linie gebracht haben.

Während die ökonomische Zunft bereits in großen Schritten Abschied von den alten Paradigmen nimmt, sieht das in der Politik noch anders aus. Die Linien verlaufen etwas unübersichtlich: Zwar gibt es eine klare Links-Rechts-Trennung, bei der SPD, Grüne und LINKE seit der Bundestagswahl 2021 auch offiziell Abschied von der Schuldenbremse nehmen, während CDU, FDP und AfD weiter an ihr festhalten. Aber die neuen politischen Lager erlauben es nicht, daraus Resultate folgen zu lassen; jede mögliche Koalition besteht aus Vertretern beider Lager.

So auch die nun anstehende Ampel. Von Beginn an war klar, dass eine Ampel nur unter einer Bedingung zustandekommen würde: Christian Lindner wird Finanzminister. Wie beschrieben deckt sich das auch mit den Wünschen und Vorstellungen der Mehrheit, die in der FDP offensichtlich eine Hüterin der Geldbörse und Garantie gegen angebliche linke Unseriosität auf wirtschaftlichem Gebiet sieht. 40 Jahre ideologische Indoktrinierung sterben nur langsam, da kann Ostdeutschland bekanntlich ein Lied von singen.

Es ist verständlich, dass der Rest der Welt bei weitem nicht so positiv auf einen Finanzminister Lindner blickt wie die Deutschen, vor allem, nachdem vier Jahre Olaf Scholz zeigten, was pragmatische Finanzpolitik gegenüber ideologischer Beharrung ausrichten kann. Lindner ist, in Abwandlung des berühmten Sun-Covers von 1998, der "gefährlichste Mann Europas". Niemand hat so viel Potenzial, nicht nur die europäische, sondern die weltweite Wirtschaft in die Krise zu stürzen wie er.

Gleichzeitig zeigen die immer windigeren Umgehungsmanöver der Schuldenbremse und des SWP, dass Alternativen bestehen. Es sind zwei Szenarien für die Zukunft denkbar. Lindner ist überzeugter Schuldenbremsenideologe und wird alles in seiner Macht stehende tun, um sie aufrechtzuerhalten. Das wird nicht nur die Koalition bis aufs Äußerste spannen, sondern auch verheerende Effekte für die Wirtschaft inner- und aiußerhalb Deutschlands haben. Oder er zeigt sich pragmatisch und lässt die Umgehungsmaßnahmen wenigstens in manchen Fällen geschehen. Es ist quasi der Unterschied zwischen Angela Merkel und Wolfgang Schäuble, nur dass weder Scholz die Macht Merkels über Schäuble hat noch Lindner auch nur annähernd dieselbe Loyalität zu Scholz verspüren dürfte wie Schäuble zu seiner Parteichefin.

So oder so aber ist die Schuldenbremse tot. Sie erreicht ihre Ziele nicht, hat sie auch nie erreicht, wird sie nie erreichen. Sie steht im Weg, versucht Entscheidungen aus dem Bereich demokratischer Meinungs- und Entscheidungsfindung herauszuziehen, die im Kern politisch sind, versucht, die Realität in ein Korsett aus juristischen Formeln zu zwingen. Aber die Realität schert sich nicht um die Ideologie, und wenn beides in direkten Konflikt gerät, verliert immer die Ideologie. Die Kosten dafür allerdings sind für gewöhnlich horrend. Bleibt zu hoffen, dass das dieses Mal nicht der Fall sein wird.

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