Montag, 6. Dezember 2021

Merkel verkündet Ende digitaler Abtreibung in der STIKO und Steuersenkungen für Norbert Röttgen - Vermischtes 06.12.2021

Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Sie werden mit einem Zitat aus dem Text angeteasert, das ich für meine folgenden Bemerkungen dazu für repräsentativ halte. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten.

1) Endlich konservative Digitalpolitik

Das kolossale Versagen der Merkeljahre in Sachen Digitalisierung und digitale Bürgerrechte ist vor allem das Versagen der Unionsparteien (unterstützt durch die Schwäche der Sozialdemokraten). Wobei auch die FDP sich in der schwarz-gelben Koalition nicht mit Ruhm bedeckte und etwa einen Breitband-Universaldienst verhinderte, mit dem es heute womöglich weniger weiße Flecken auf der Netz-Landkarte gäbe. [...] 16 Jahre Merkel, das war fürs Digitale eine bleierne, lähmende Zeit. Ein ums andere Mal machten Regierungen Netzgesetze, die dann das Verfassungsgericht wieder kassieren musste. Netzpolitik war in diesen 16 Jahren fast immer: Überwachungs-, Gängelungs- und Repressionspolitik. Die anlasslose Massenüberwachung durch NSA und Co. wurde ausgesessen, der Breitbandausbau verschlafen, digitale Spiele verteufelt, Hacker pauschal kriminalisiert, digitale Plattformen erst ignoriert und dann hilf- und zahnlos reguliert. [...] Tatsächlich sind die größten Antagonisten innerhalb des Dreierbundes, Grüne und FDP, sich vermutlich nirgends näher als beim Thema digitale Bürgerrechte. In Deutschland gibt es schon seit vielen Jahren eine Art informellen, überparteilichen Club der verzweifelten Digitalpolitiker und -politikerinnen, die immer wieder mit ihren Ideen an den Bleiministern aus CDU und CSU scheiterten. Einige von ihnen saßen jetzt gemeinsam in der Arbeitsgruppe »Digitale Innovation und digitale Infrastruktur«. [...] Der Name eines weiteren FDP-Unterhändlers kommt ihnen möglicherweise bekannt vor, und seine Präsenz in dieser Runde sagt vielleicht am deutlichsten, wie weit weg von den Merkeljahren die deutsche Digitalpolitik der kommenden vier Jahre sein könnte: Bernd Schlömer war früher einmal Bundesvorsitzender der Piratenpartei. (Christian Stöcker, SpiegelOnline)

Ich muss ehrlich sagen, ich hatte diese ganzen Desaster schon wieder fast verdrängt. Von der Leyens "Stoppschild" fällt mir da gerade wieder ein, um nur ein Beispiel dieses üblen Diskurses wieder aufzugreifen. Deswegen bin ich auch so froh, dass die CDU aus der Regierung ist: wie Stöcker richtig schreibt, war sie immer der große Blocker, Verhinderer, Zerstörer, was das Digitale anbelangt. Dank der Neuerfindung der FDP als Digitalpartei (ein mehr als cleverer Zug Lindners) ist hier auch wirklich auf ernsthafte Besserung zu hoffen, weil die SPD vor allem aus Phlegmatismus, nicht aus Überzeugung Handlanger der CDU in diesen Dingen war. Es zeigt auch einmal mehr die miesen politischen Fähigkeiten bei den Grünen, dass sie sich dieses Thema haben von der FDP abnehmen lassen. Als 2013/14 die Piratenpartei zerfiel, lag es auf der Straße. Es ist nachvollziehbar, dass Leute wie Schlömer nicht Grüne wurden, aber auf der anderen Seite konnten die Grünen Talente wie Marina Weisband nicht für die Politik und ihre Reihen gewinnen, die stattdessen derselben ganz den Rücken kehrten. Aber: da das Thema den Grünen grundsätzlich auch wichtig ist und diese da sehr wie die FDP ticken, steht die Hoffnung, dass die beiden zusammen die "alte Tante SPD" da vor sich her treiben werden.

2) Ein bestürzender Aufstieg

Als Angela Merkel nach 1989 in die Politik kam, erwies sich die habituelle Bandbreite für Frauen in wichtigen Posten noch als sehr eingeschränkt. Die wenigen Journalistinnen, Chefinnen, Politikerinnen mussten sich an einem ambiguitätsintoleranten Idealtypus messen, der disziplinierte und bei Fehlverhalten dafür sorgte, dass Frauen schrill und lächerlich wirkten. In der berühmten Elefantenrunde vom September 2005 wurde diese Haltung durch Gerhard Schröder wie in einer Karikatur vorgeführt. Der Sozialdemokrat verhöhnte Angela Merkel für die scheinbar vollkommen absurde Idee, sie könne Kanzlerin werden. Und ja, sie passte nicht in die bundesrepublikanische Politik, diese Frau mit ihrer unmöglichen Frisur, mit zu viel Ost und zu wenig Bürgertum, mit ihrer notorischen Unfähigkeit zum Poltern. Sie war machtbewusst, aber nicht aggressiv. Konservativ, aber ohne Perlenkette. Angela Merkels Aufstieg war bestürzend. Alle Befürchtungen des sexistischen Bekannten hatten sich erfüllt. Die Männer keiften und höhnten; selbstverständlich begleitet von einigen Frauen. [...] Merkel hat diese Transformation kaum bewusst gepusht. In zahlreichen anderen Ländern vollzogen sich ähnliche Metamorphosen. Aber neben vielem anderen trug eben auch die kompetente Frau an der Spitze eines mächtigen Staates dazu bei. Und doch: Die „Verweiblichung“ eines Berufsfeldes – etwa bei Lehrkräften in den Schulen oder beim Beruf der Geistlichen – geht in aller Regel mit einem Sinkflug des Prestiges und zuweilen auch des Einkommens einher. Am Anfang von Angela Merkels Kanzlerinnenschaft stellte die Historikerin Angelika Schaser die Frage, ob eine Frau an der Regierungsspitze von Emanzipation zeuge oder vom Niedergang der Politik. Vielleicht ist beides richtig. Und vielleicht tut es der Politik gut, die frohlockenden Höhen männlicher Prätention hinter sich zu lassen und tiefer in die Niederungen menschlicher Zumutungen zu sinken. (Hedwig Richter, FAZ)

Ich denke an dieser Charakterisierung ist viel dran. Ein Merkel-Fan werde ich deswegen noch lange nicht. - Ich mag übrigens Richters beläufiges "selbstverständlich begleitet von einigen Frauen", denn internalisierte Mysogynie ist ein ernsthaftes Thema, das besonders feministisch veranlagte Menschen gerne vor ein Problem stellt, das sie nicht in ihren Kopf kriegen. Ebenfalls super relevant ist der Gedanke, dass das Vordringen von Frauen in männliche Sphären diese "entwertet". Es wird spannend sein zu sehen, welche Auswirkungen das auf Spitzenpositionen haben wird.

3) STIKO-Chef Mertens räumt Fehler ein

Warum die STIKO so lange für ihre Entscheidung brauchte, erklärte Mertens in Panorama damit, "dass wir erst definieren, welche Daten brauchen wir, um zu einer Empfehlung kommen zu können. Und wenn das festgelegt ist, dann müssen diese Daten erhoben, erarbeitet werden. Und wenn diese Daten vorliegen, dann fängt die STIKO an, diese Daten zu diskutieren." [...] Im Interview mit Panorama betonte Mertens zudem, es sei nicht Aufgabe der STIKO, die "Umsetzung der Impfung" zu organisieren oder darüber zu befinden, "wie die Impfstoffe beschafft werden, wie die Impfstoffe verteilt werden. Das sind alles Dinge, die die STIKO überhaupt nicht betreffen". Gleichzeitig räumte er allerdings ein, dass genau solche Faktoren Einfluss auf die STIKO hätten: "Das sehen Sie an der Frage der Empfehlung der über-70-Jährigen", so Mertens. "Da nicht absehbar war, dass wir in unserer Bevölkerung so schnell wie in Israel eine Durchimpfung vornehmen können, musste man auf jeden Fall zunächst die Menschen schützen, die auch ein hohes Risiko für schwere Erkrankung haben. Und das war der Hauptgrund für diese Empfehlung." Demnach hat die STIKO allerdings nicht aufgrund der reinen Datenlage zugunsten der über 70-Jährigen entschieden, sondern auch aufgrund der schlechten deutschen Impf-Infrastruktur. Diese wurde während der vergangenen Monate durch die bundesweite Schließung der Impfzentren sogar weiter abgebaut - ohne, dass die Kommission öffentlich dagegen protestiert hätte. (Johannes Edelhoff/Andrej Reisin/Caroline Walter, NDR)

Grundsätzlich: Es ist gut, dass Fehler eingeräumt werden. Es ist nicht so, als hätte Jens Spahn sich dazu bisher herabgelassen. Es ist allerdings in tiefstem Maße beunruhigend, auf welcher Basis die STIKO ihre Empfehlungen trifft. Die können nicht auf der einen Seite sagen, dass sie rein auf wissenschaftlicher Basis operieren und nicht politisch sind, und auf der anderen Seite aber in ihren Empfehlungen die politischen Realitäten antizipieren. Entweder oder. Denn egal wie fähig die sein mögen, die Impffrage wissenschaftlich zu analysieren, sie sind mit Sicherheit nicht kompetent darin, Gesundheitspolitik zu betreiben. Genau das aber machen sie in dem Moment. Es ist ein vorgetäuschtes unpolitisch Sein, und das ist die schlimmste Art. Ganz oder gar nicht.

4) The End of Roe

Today’s oral argument signaled that the Court is poised to reverse Roe outright when it decides Dobbs, probably sometime in June or early July. That would be one of the most significant reversals of Supreme Court precedent in American history. Roe v. Wade has been the law for 50 years. Even Brett Kavanaugh spent much of his confirmation hearing proclaiming his fidelity to precedent.Today’s oral argument signaled that the Court is poised to reverse Roe outright when it decides Dobbs, probably sometime in June or early July. That would be one of the most significant reversals of Supreme Court precedent in American history. Roe v. Wade has been the law for 50 years. Even Brett Kavanaugh spent much of his confirmation hearing proclaiming his fidelity to precedent. [...] But the six conservatives did not appear worried about precedent. Chief Justice John Roberts, known for his concern about the Court’s institutional legitimacy, seemed to think that the Court could respect precedent while eliminating the viability line—a boundary that he argued has nothing to do with freedom of choice, which is what Roe protects. Roberts’s suggestion of this compromise approach was not surprising—the Court would not have taken this case if it did not plan to get rid of viability. What was surprising was that no one but Roberts really seemed interested in the viability compromise. [...] The clearest big-picture development is that what passes for a compromise on abortion law has changed fundamentally. Roberts thought that the Court would go for superficially preserving Roe while allowing states to ban most (if not all) abortions, but that does not seem to be enough for this Court. Instead, we seem to be headed toward the idea of “compromise” that Kavanaugh hinted at: a Supreme Court that immediately reverses Roe now that its membership has changed, without qualification or apology. That, Kavanaugh suggests, will be the ultimate compromise: a neutral, apolitical Court. Good luck convincing anyone of that. (Mary Ziegler, The Atlantic)

Es ist genau das, was wir Progressive prophezeit haben, als die Republicans Radikale wie Gorsuch, Kavanaugh oder Barrett in den SCOTUS prügelten. Ich erinnere mich an die Diskussionen hier im Blog, wo mir hemmungsloses Übertreiben, Hysterie und Aktivismus vorgeworfen wurde. Und nun sehen wir: wir hatten Recht. Gorsuch und seine Spießgesellen haben in den Anhörungen schlicht gelogen, genauso wie wir es gesagt haben.

Und wie lächerlich ist denn bitte Kavanaughs Argumentation? Die holen 1:1 die alten Argumentationslinien aus dem 19. Jahrhundert wieder raus, als mit "state's rights" die Sklaverei begründet wurde. Einzelne Republicans haben sogar schon explizit den Vergleich zu Plessy v Ferguson gezogen, was an Zynismus auch nicht zu überbieten ist. Diese ganze Chose ist so ekelhaft.

5) Busting the Merkel Myth

From Poland to Peru, clear majorities profess a favorable view of the East German physicist-turned-politician, whose 16-year tenure running Europe’s largest country draws to a close next week. In contrast to her best-known contemporaries, who span ex-U.S. president George W. Bush to Italy’s Silvio Berlusconi and Russia’s Vladimir Putin, Merkel is as popular abroad as she is at home. That positive glow has also spread across Germany. The country is “held in the highest esteem we’ve ever measured,” the consultancy Gallup recently reported. While there’s no disputing Merkel’s global standing, the reasons for it are less clear. Beyond the obvious — she didn’t start any wars or lay claim to other countries’ territory — the origin of her popularity is something of a riddle. One common explanation is that Merkel’s seriousness, integrity and no-frills approach to politics offer a powerful antidote to the “big swinging dicks” dominating the global power game. And yet, the woman-is-the-message logic isn’t the whole story. Unlike other towering political figures of the recent past, be it Ronald Reagan, Margaret Thatcher or even Barack Obama, Merkel can claim no signature achievement. The historic milestones of her era — German reunification and the deepening of the European Union — occurred long before she came to power. Even the economic renaissance Germany enjoyed during her tenure came as the result of reforms undertaken by her predecessor. (Matthew Karnitschning, Politico)

Gestatten, dass ich das Rätsel auflöse: Merkel hat so hohe Beliebtheitswerte, WEIL sie nichts Signifikantes gemacht hat. Ihre Beliebtheitswerte stürzten immer ab, wenn sie sich tatsächlich mal zu irgendwas festgelegt hat. Wie man in einem Artikel, der in der Überschrift behauptet, Merkel-Mythen zerplatzen lassen zu wollen, direkt an den Anfang den Mythos stellen kann, ihre Beliebtheitswerte seien mysteriös, ist mir unbegreiflich. Merkel hat nie jemandem Grund gegeben, sie zu hassen (außer 2015). Ihre gesamte politische Strategie war immer darauf ausgelegt, so unkontrovers wie möglich zu sein (asymmetrische Demobilisierung, wer erinnert sich?). Das ist kein Mysterium, das sind 16 Jahre harte politische Arbeit seitens der Kanzlerin.

6) John Kerry Is Mad as Hell (Interview mit John Kerry)

Do you think part of what may need to factor into this process of regaining our standing is stepping back a little from the idea of the United States as this exceptional, indispensable nation?
I think you always have to have humility. In my speech at [this year’s] Democratic National Convention, I emphasized strength and humility, because I think Barack Obama and Joe Biden and those of us on the team believe that you have to act with a measure of humility in today’s world. This is not the world of immediately after World War II where you walk into the room and you tell everybody, “Here’s Pax Americana and this is what we’re going to do.” We’re living in a different world because many people have achieved exactly what we wanted them to achieve. We wanted them to develop, to grow the middle class in their societies, to become partners in various endeavors around the world. We should not be surprised that having done that, and some of them having established an even better standard of living, that they’re going to demand a seat at the table. So you cannot approach these things with arrogance. You have to approach them with thoughtfulness and strategically and sensitively. America is not exceptional because we beat our chests and say we’re exceptional. We’re exceptional because we do exceptional things. I use the example at Normandy where soldiers gave up their lives for freedom, to beat fascism, and to build a new world. That’s exceptional. That is what we do. We go to the moon. We create the internet. We cure diseases. That is America. I think Joe Biden has spoken very eloquently about his desire to be that country again, to do these things. I think the country is thirsty to do these things again. [...]

Vladimir Putin was quoted last year as saying that liberalism is obsolete. Do you feel like the ideals of liberalism and democracy that have shaped the modern world can survive without the U.S. carrying the torch the way it has for the past 75 years?
I believe any country can seek to carry the ball, and any country can stick by the virtues of democracy, because they are virtuous and because they believe in them and they love them and they want to protect them. Any country can stand up and do that. Will they be able to do it with the force and effect of the United States? Probably not, because we are the world’s largest economy, the most powerful military, and we have traditionally been looked to as the leader of the free world. The sad reality of Donald Trump is there is at this moment no leader of the free world. Joe Biden can restore that. He can come back and be that leader. I think the world feels like they need that leadership, because people in many parts of the world are not going to bed at night worried about why the United States is there; they’re worried about what happens if the United States isn’t there. There are lots of places like that in the world. I think that’s why humility is so critical. We have to talk to our friends. We have to bring them into the process. They have to be shared partners in doing these kinds of things. (Ryan Bort, New York Magazine)

Es gehört schon eine Menge Chuzpe dazu, einen Absatz lang die Bedeutung der Bescheidenheit zu betonen, die man angeblich habe, um dann im gleichen Satz zu erklären, dass die Welt Führung von einem selbst erwarte. Dieses "the world is looking to the United States for leadership" gehört zu den Standardphrasen amerikanischer Politiker*innen, aber sie sind schlicht Bullshit. Die Rede von "leader of the free world" mag ja noch angehen - wer auch sonst? - aber "die Welt" schaut sicher nicht hoffnungsvoll darauf, dass die USA irgendwie vorangehen. Schon gar nicht, seit das Land so dysfunktional ist.

Nein, da lügen sich die Amerikaner*innen wirklich gerne selbst in die Tasche, und ich frage mich, ob ein erfahrener Außenpolitiker und Diplomat wie Kerry diese Phrasen einfach nur aus Gewohnheit absondert oder ob er high on his own supply ist. Jedenfalls betrachten große Teile der Welt die USA weder als ihren Anführer noch als Vorbild. Das tut vor allem "der Westen", sprich: die NATO-Staaten, weil wir unsere Sicherheitspolitik komplett von den USA abhängig gemacht haben. Da hört das dann aber auch auf.

7) Belastung mit Steuern und Sozialabgaben seit 1986 gesunken

Die Belastung der Bruttoeinkommen mit Steuern, Solidaritätsbeitrag und Sozialabgaben hat seit 1986 fast kontinuierlich abgenommen. Das hat das ifo Institut errechnet. „Ob es sinnvoll ist, diesen Trend hin zu geringerer Einkommensteuerbelastung fortzusetzen, ist fraglich. Immerhin hat Deutschland sich vorgenommen, in den kommenden Jahren massiv in den Klimawandel, in die Digitalisierung und in die Bildung zu investieren,“ sagt Andreas Peichl, Leiter des ifo Zentrums für Makroökonomik und Befragungen. Die Entlastung betrifft laut ifo Institut alle Einkommensgruppen. So wird ein Single-Haushalt mit einem realen Bruttoeinkommen von 50.000 Euro (in 2015er Werten) heute durchschnittlich mit 39,8 Prozent für Steuern und Sozialabgaben belastet. Vor 35 Jahren betrug der Durchschnittssteuersatz noch 43,0 Prozent. Das Bruttoeinkommen dieses Musterhaushaltes wird heute also mit 1.600 Euro weniger Steuern und Sozialabgaben pro Jahr belastet. „Am deutlichsten fiel über diesen langen Zeitraum die Entlastung bei Spitzenverdienern aus“, erläutert Peichl. Sie profitierten besonders von der Verringerung des Spitzensteuersatzes von 57 auf 42 Prozent. Die Reform aus dem Jahr 1990 verringerte vor allem die Belastung mittlerer Einkommen durch die Abschaffung des sogenannten Mittelstandsbauchs. Für Geringverdiener war die Senkung des Eingangssteuersatzes von 22 Prozent im Jahr 1986 bis heute auf 14 Prozent positiv. Die Studie zeigt außerdem, dass die moderaten Erhöhungen der Sozialversicherungsbeiträge in diesem Zeitraum diesem Trend kaum entgegenwirken. Dennoch sorgen sie für ein weniger progressives Steuersystem, da sie Geringverdiener im Verhältnis stärker belasten als Einkommen oberhalb der Beitragsbemessungsgrenzen. Die Studie stellt die Entwicklung in acht verschiedenen Musterhaushalten vor. (ifo)

Für mich ist das mal wieder so ein Beispiel, wo die Nennung der Zahlen und das magische Wort "Studie" überhaupt nichts tut, um die Lage zu klären (vergleiche die aktuelle Bertelsmann-Studie zur Mittelschicht, Fundstück 10). Klar, die Zahlen geben diese Interpretation her. Ich hab hier im Blog aber von Leuten wie Stefan Pietsch, R.A. und anderen aber auch schon oft genug die ebenso durch Zahlen zu belegende Gegenthese gehört, dass der Staat Rekordsteuereinnahmen habe (auch inflationsbereinigt) und die Steuerquote daher mitnichten gesunken sei. Was stimmt davon? Ich hab nicht die geringste Ahnung. Und ich frage mich oft genug, ob überhaupt jemand eine hat und nicht alle nur die ihnen genehmen Zahlen rauspicken und dann damit auf den Gegner eindreschen. Mein Verdacht wäre das ja. Und dagegen immun bin ich natürlich auch nicht, bevor jemand glaubt, ich behauptete das.

8) Fossil Fuel’s Downfall Could Be America’s Too

Realizing decarbonization is a one-way bet for Europe and Asia changes the oil and gas industry’s competitive game. So long as they could plan for the long term, OPEC and Russia could afford to contemplate a modus vivendi with shale. Once Eurasian decarbonization begins to accelerate in earnest, it will no longer makes sense for OPEC and Russia to continue the game. Faced with the fossil fuel endgame, a final price war is their best strategy. The result will be a massive shock to oil and gas prices. And this time, as demand for fossil fuels progressively shrinks, low prices will be permanent. [...] When the United States celebrated and encouraged the shale sector’s expansion, it gave fortune a hostage. A proactive, foresighted policy would have sought, if not to bar the industry’s expansion, then at least to warn against its risks and remove any incentive to the misallocation of capital. Instead, first the Obama and then the Trump administration cheered the expansion on. At its peak, the industry added a full percentage point to U.S. growth. Now, according to Nature Energy paper, it is not a question of whether but only of when those assets become stranded. How will the United States react? On the side of the fossil fuel lobby, the inclination is clearly to dig in. Insofar as there is a strategic vision, it seems to be one of protectionist defense. It would not be the first time. The history of the United States’ energy industry in the 20th century is not one of free market capitalism. Between 1959 and 1973, America’s domestic oil market was comprehensively insulated against competition from low-cost Middle East oil. (Adam Tooze, Foreign Policy)

Vieles aus diesem ebenso langen wie brillanten und empfehlenswerten Artikel liese sich praktisch genauso auch für Deutschland beschreiben, wie ich in meinem Artikel Finis Baden-Wuerttembergiae schon 2017 geschrieben habe. Natürlich produzieren wir keine fossilen Brennstoffe aus Fracking, aber ich bin ebenfalls extrem skeptisch, dass wir zu den Gewinnern der Transformation gehören werden. Dazu sind die Interessen der fossilen Industrie viel zu gut vernetzt, überparteilich. Ob CDU oder FDP, SPD oder Grüne, sie alle beugen ihr Haupt und stampfen ihre noch so inkrementellen Pläne ein, sobald die Autoindustrie mit dem Finger wackelt. Die Grünen in Baden-Württemberg kriegen ja aus Deferenz vor Daimler nicht mal Fahrradwege in Stuttgart gebaut, wie glaubt da irgendjemand, dass da je ein Strukurwandel rauskommen soll? Nein, ich sehe düstere Zeiten auf uns zukommen, und einen durch aggressiven Protektionismus verlängerten Abstieg in Agonie über Jahrzehnte. Wenn wir Glück haben...

9) Here’s how to win elections in a bad economy

One of the most consistent results in political science is that bad economies are bad for incumbents. It's not even a matter of voters explicitly blaming anyone in particular for bad times. It's just that bad economies make people unhappy, and unhappy people generally figure that a new face might be worth taking a chance on. That's uncontroversial. What's less obvious is whether incumbents stuck with a bad economy can do themselves any good by talking about the economy. I'm pretty sure the answer is no. I mean, what can an incumbent say?

  • "We're working hard on it." That just makes you sound ineffective.
  • "We need to make big changes." So why haven't you done that already?
  • "The economy is better than you think." Makes you sound out of touch.
  • "We'll get through it." Makes you sound like you're doing nothing.

There's really no good message. The best thing an incumbent can do is change the subject and hope for the best. After all, Ronald Reagan didn't win a landslide reelection because of his happy talk on the economy. He won a landslide reelection because the actual economy was booming by 1984. Lucky guy. (Kevin Drum, Jabberwocky)

Die Bedeutung der Konjunktur, für die ein Präsident (Kanzler*in, Premierminister*in, whatever) nur in den seltensten Fällen etwas kann, für die Ergebnisse von Wahlen ist etwas, das gerne unterschlagen wird. Ich habe darauf auch in meinem Artikel zur Analyse von Trumps Wahlanalyse hingewiesen; der Amtsinhaber hatte einen riesigen Vorteil, den er praktisch weggeworfen hat. Umgekehrt segelte etwa Bill Clinton 1996 auf Basis einer starken Konjunktur in die zweite Amtszeit, nachdem er 1992 seine erste vor allem deswegen gewann, weil eine kurze Rezession mit dem Wahltermin zusammenfiel. So kann es oftmals gehen.

Drums Analyse, dass es keine guten Optionen für Amtsinhaber*innen gibt, wenn die Wirtschaft schwächelt, stimme ich völlig zu. Da geht einfach gar nichts. Das ist auch nicht auf die Wirtschaft beschränkt: wenn es schlecht läuft, sieht die Regierung immer schlecht aus. Wenn sie Glück hat, kann die Opposition nichts draus machen, aber es ist sehr, sehr selten, dass es ihr gelingt, sich dann als Hoffnungsträgerin zu etablieren. Eigentlich muss immer das Narrativ geändert und ein anderes Thema in den Vordergrund gesetzt werden.

10) Das gebrochene Aufstiegsversprechen // Der Mythos der bröckelnden Mittelschicht

Die Mittelschicht ist in den vergangenen 25 Jahren deutlich geschrumpft – und dies in keinem vergleichbaren Industrieland so stark wie in Deutschland, selbst in den USA nicht. Das zeigt eine neue Studie der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) und der Bertelsmann Stiftung. Vor allem die untere Einkommensschicht ist deutlich gewachsen. Trotz Wirtschaftsbooms in den 2010er-Jahren hat das Armutsrisiko in Deutschland zugenommen. [...] Die Zahlen und Fakten sprechen eine klare Sprache [...] Der Anstieg der Polarisierung und die schrumpfende Mitte unserer Gesellschaft seien zum Teil durch die starke Zuwanderung von Ausländerinnen zu erklären. Diese Menschen hätten nun mal häufig geringe Qualifikationen und würden somit die Gruppe der Geringverdiener vergrößern. Aber auch dieses Argument ist nicht stimmig und zeugt von einem sehr ungewöhnlichen Bild der Gesellschaft. (Marcel Fratzscher, ZEIT)

Das Interessante an dem Befund: Zwar ist die Mittelschicht zwischen 1995 und 2005 sichtbar geschrumpft – von 70 auf 64 Prozent der Bevölkerung –, seitdem ist sie aber nahezu stabil. Die beteiligten Wissenschaftler betonen in ihrer Studie zwar mehrere aus ihrer Sicht bedenkliche Tendenzen. Im Kern widerspricht ihre Analyse aber der oft zitierten These, dass in Deutschland immer mehr Menschen in Armut abrutschen. [...] Während die Autoren der Bertelsmann Stiftung kritisch anmerken, dass die Mittelschicht trotz des vor Corona lang anhaltenden Aufschwungs nicht wieder gewachsen sei, betonen Peichl und Niehues, dass dies auch mit der stärkeren Zuwanderung zusammenhänge. Der Beschäftigungsaufschwung habe ausgleichend gewirkt, die Zuwanderung von im Schnitt eher geringer qualifizierten Menschen habe die Ungleichheit verstärkt. (Johannes Pennekamp, FAZ)

Die beiden obigen Artikel beziehen sich auf die exakt selbe Studie und kommen, ganz "objektiv" auf Basis der Zahlen und Fakten, zu diametral entgegengesetzten Ergebnissen. Ich habe willkürlich einige Stellen nebeneinander gestellt; es lohnt sich, beide Artikel komplett zu lesen und parallel zu vergleichen. Ich will hier gar nicht so sehr darauf raus, wer hier nun Recht haben könnte (ihr könnt raten, wessen Interpretation ich mehr zuneige), sondern vielmehr einmal mehr darauf hinweisen, dass eine Studie oder irgendwelche Zahlen und Fakten einfach keine Totschlagargumente sind, egal, wie sehr Leute sich das immer einreden wollen. Man kann sich das Zeug endlos an den Kopf schmeißen und dreht sich doch nur im Kreis, weil die "Fakten" eh nur als Munition benutzt werden. So auch hier.

11) "Die Realität wird beunruhigend sein" (Interview mit Norbert Röttgen)

Sie haben das Prinzip "Wir wollen mit Entscheidungen wieder vor die Krise kommen" zum zentralen Thema Ihrer Kandidatur für den Parteivorsitz gemacht. Was heißt das konkret?

Das 21. Jahrhundert ist schon jetzt von dramatischen Veränderungen und Krisen geprägt, die sich alle durch ihren vernetzten Charakter auszeichnen. Darauf müssen wir mit Vernetzung antworten. Deshalb brauchen wir dringend eine Reform der öffentlichen Verwaltung und Regierung, die sich an der Art und Struktur der Probleme von heute ausrichtet.

Und wie?

Es muss einen dauerhaften Krisenpräventionsstab geben, der tut, was derzeit niemand wirklich macht: Strategische Vorausschau betreiben. Also permanent beobachten, wie sich die Welt entwickelt und wo Gefahren entstehen. Nehmen wir ein Beispiel: Vieles spricht dafür, dass das nächste Virus nicht biologisch, sondern digital sein wird und beispielsweise unsere Stromversorgung außer Kraft setzt. Sind wir darauf vorbereitet?

Unser Problem ist doch weniger die Erkenntnis als deren Umsetzung.

Deshalb müssen wir vernetzte Probleme endlich vernetzt lösen. Nehmen wir den Ausbau der erneuerbaren Energien: Wenn nicht alle Regierungen in Bund und Ländern und alle Behörden an einem Strang ziehen, wird es nach endlosen politischen Diskussionen weiterhin endlose Verwaltungsschleifen und anschließend endlose Gerichtsschleifen geben. Dann wird auch die nächste Regierung daran scheitern. (Sven Böll, Sebastian Späth, T-Online)

Es sind Ideen wie die obigen, die mich schon in der letzten Runde klar Röttgen bevorzugen ließen, auch wenn der kaum eine Chance hat. Ich bin mir immer noch nicht sicher, ob er ernsthaft kandidiert oder nur sein Profil für einen späteren Ministerposten schärft, aber in dem was er sagt gibt es gute Anknüpfungspunkte zu FDP und Grünen. Zukunftskoalition und so.

Ein Meta-Punkt zu dem Interview: es ist etwa zehnmal so lang wie der zitierte Ausschnitt hier, und praktisch der gesamte Rest ist "sondern Sie bitte Wahlkampfphrasen zu CDU, Ampel, Merz und Söder ab". Erkenntnisgewinn null. Der spannende Teil, nämlich wie Röttgen politisch denkt und was seine Ziele sind, kommt wesentlich zu kurz, ist aber wesentlich spannender als seine Einschätzung, ob die CDU-Regierung insgesamt gut war (überraschenderweise ja). Mehr von dem oben und weniger von dem dummen Fluff, bitte.

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