Montag, 2. Mai 2022

Netflix verkündet einen Marshallplan für die Digitalisierung deutscher Schulen und lässt sich von Ron deSantis helfen - Vermischtes 02.05.2022

 

Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Die "Fundstücke" werden mit einem Zitat aus dem Text angeteasert, das ich für meine folgenden Bemerkungen dazu für repräsentativ halte. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten. Dazu gibt es die "Resterampe", in der ich nur kurz auf etwas verweise, das ich zwar bemerkenswert fand, aber zu dem ich keinen größeren Kommentar abgeben kann oder will. Auch diese ist geordnet (mit Buchstaben), so dass man sie gegebenenfalls in den Kommentaren referieren kann.

Fundstücke

1) Chartbook #115: The Marshall Plan Revisited

But was that aid essential to support reconstruction? To test this proposition Milward conducted a counterfactual exercise in which he imagined levels of food consumption and food import in Europe being frozen at their 1947 levels. According to his estimates, assuming this level of austerity, all the Marshall Plan recipients excepting France and the Netherlands would have been able to pay for their imports of machinery and raw materials. On that basis Milward declares the Marshall Plan not to have been economically necessary. But, as Milward himself concludes, all this means is that we have to shift the argument from strictly economic concerns, to the terrain of political economy. Not freezing the level of consumption at the diminished level of 1947 was precisely the point. Imposing such austerity in Italy would, given the strength of the Italian Communist Party, have been very dangerous. And as even Milward must concede the Marshall Plan really did matter in France. It could not have realized its ambitious investment goals without American assistance, even if it had frozen consumption at 1947 levels. But if the Marshall Plan mattered in France, then it mattered for Europe as a whole. Why? Because, France was pivotal to the project of European integration. It was not the sheer scale of the Marshall Plan that was crucial but its role in breaking bottlenecks - both economic and political. [...] Above all the Marshall Plan was a tool for driving European integration. American influence was crucial in cajoling the French into abandoning the original anti-German vision of the first drafts of the Monnet Plan in favor, in 1950 of proposal for the European Coal and Steel Community. [...] In invoking the Marshall Plan at this moment as an answer to the crisis of Ukraine that broader conclusion should be born in mind. Beyond the myth, a Marshall Plan is not a magic bullet! To be successful it must be part of a broader strategy. And given Ukraine’s needs it will need to be on a huge scale. (Adam Tooze, Chartbook)

Angesichts einerseits der Mythen, die sich um den Marshallplan ranken, und andererseits der ständigen Forderung nach einem Marshallplan für X (Griechenland, Ukraine, Green New Deal, whatever) ist es absolut sinnvoll, sich damit auseinanderzusetzen, wie der historische Marshallplan eigentlich aufgebaut war und wirkte. Ich empfehle für diese Diskussion auch noch meine Rezension von Benn Steills großartigem Buch zum Thema. Toozes Verweis darauf, dass der Plan in seinem Umfang bei weitem nicht so groß war, wie gemeinhin angenommen wird, ist unter Historiker*innen und einschlägig interessierten Personen ohne großen Neuigkeitswert, aber immer wieder wichtig festzustellen.

Relevanter erscheint mir hier aber die Analyse, ob der Plan wirtschaftlich notwendig war. Es ist bemerkenswert, dass die Antwort hier "nein" lautet und dass die notwendigen Mittel für die Industrie auch über Austerität hätten erreicht werden können - es ist nur angesichts der Realitäten weitgehend irrelevant, denn wie Tooze hier korrekt zusammenfasst, war die Problematik eine politische. Die Befürchtung, dass Europa dem Sozialismus anheim fallen könnte, war eine reale, die im Kreml genauso geteilt wurde wie in London und Washington. Es war die Stabilisierung der Lebensverhältnisse und damit die Rettung des Liberalismus, die der eigentliche Verdienst des Marshallplans waren.

In diesem Kontext wichtig ist daher auch das Ende des oben zitierten Ausschnitts, nämlich die Strategie dahinter. Der Marshallplan hatte eine Strategie, die weit über "Stabilisierung der Lebensverhältnisse" und damit eine Zahlung von Transferleistungen durch die USA hinausging (siehe dazu auch meine Rezension). Eine solche strategische Vision war etwas, das in der Eurokrise komplett fehlte - sei es durch das aufgezwungene Austeritätsprogramm, sei es in den Forderungen eines "Marshallplans für Griechenland/die Eurozone". Der Verweis auf die Ukraine ist wichtig. Es ist meine Befürchtung und Prognose, dass die westliche Unterstützung mit Ende des Krieges ihr Ende finden wird, und dass die teure Arbeit des Wiederaufbaus weitgehend ohne unsere Hilfe stattfinden werden muss. Das alllerdings wäre verheerend für die Stabilität der Region. Darüber sollte man sich bereits jetzt Gedanken machen.

2) Wieso, weshalb, warum – wer wischt bleibt dumm!?

Am 19.04. erschien in der ZEIT ein Artikel der Lehrerin Isabell Rhein mit dem Titel „Tablets bitte erst ab Klasse 7“. Isabell Rhein schreibt unter Pseudonym, sie ist Ende 40 und Lehrerin an einem Gymnasium und bedient in ihrem Text quasi jedes Vorurteil, Klischee und Schwarz-Weiß Denken, das mir in den letzten Jahren im beruflichen Umfeld begegnet ist. [...] Müssen wir uns entscheiden, ob wir analog oder digital arbeiten wollen? Müssen wir uns entscheiden, ob Kinder auf Bäume klettern oder vor dem Tablet sitzen sollen? Ich sage: Nein, das müssen wir nicht. Unterricht ist nicht entweder analog ODER digital. So wie das Leben auch nicht analog ODER digital ist. Ein solches Schwarz-Weiß-Denken hilft nicht weiter. Selten ist etwas nur gut oder schlecht. Aber Schwarz-Weiß-Denken ist einfach, alles hat seine Ordnung und seinen Platz. Schwarz gegen weiß, wischen gegen denken, jung gegen alt, analog gegen digital, Pädagogik gegen Technik. Die Liste ließe sich weiterführen. [...] Digitale Möglichkeiten im Unterricht zu nutzen bedeutet sicherlich nicht, bewegungslos „im PC-Raum“ zu sitzen. Es bedeutet auch nicht, alles was bisher analog gemacht wurde, nun mit allen Mitteln 1:1 ins Digitale zu übertragen. Natürlich sollen die Kinder weiterhin Pflanzen sammeln, mit Wasserfarben malen und im naturwissenschaftlichen Unterricht Experimente planen und durchführen. [...] Die Nutzung digitaler Möglichkeiten bedeutet also nicht, Analoges abzuschaffen oder zu ersetzen. Es bedeutet, digitale Medien in den Unterricht zu integrieren - da wo es Sinn macht. Es geht also um eine ausgewogene Mischung aus analog und digital, nicht um ein Entweder-Oder. (Verena Knoblauch, Kölner Abendblatt)

Der Originalartikel war genau jede billige Polemik, die das Feuilleton im Dutzend billiger produziert, wie ich im Podcast mit Christina Dongowski und Ariane beklagt habe. Auf diesem Niveau ist die Diskussion leider allzu oft, und wie Knoblauch richtig beschreibt muss man sich von diesem Schwarz-Weiß-Trugschluss lösen. Über digitale Didaktik zu sprechen macht erst Sinn, wenn man sich klarmacht, dass es nicht einfach nur um eine Ersetzung bisheriger Methoden gehen kann, sondern dass ein umfassendes Konzept vorliegen muss. Ich möchte an dieser Stelle besonders Bob Blumes neues Buch für digitale Deutsch-Didaktik nennen, das ich aktuell lese und bald hier rezensieren werden.

3) Ron DeSantis should be in prison.

I am not always a big fan of Ian Millhiser, who writes about legal issues for Vox. He tends to sound the alarm over practically every Supreme Court decision, declaring it not just obviously wrong but perhaps the most dangerous ruling this century. After a while you tend to shut out this kind of thing. But God knows he's right about the way Florida has treated Disney over Disney's opposition to its "Don't Say Gay" law. By explicitly punishing Disney for its public opinion, it is using official state power to crush free speech: [...] Oddly enough, this is a case where I think Millhiser is being too cool headed. This is an exceptionally dangerous action by DeSantis and the Florida legislature and I hope Disney fights it in court. It should certainly be an easy victory. Even a stone conservative Trump appointed judge should rule Florida's action illegal with barely a second thought. The response of the conservative community, as usual, has been disappointing. There have been a few conservatives who oppose DeSantis's action, but their opposition has mostly been pretty tepid. Meanwhile, most conservatives have stayed quiet in hopes of avoiding having to take any stand at all. This is mind boggling no matter what you think of the Florida law and no matter what you think of Disney's public response. A state has used its official power to take revenge against a company that expressed an opinion it disliked. It's flabbergasting. It's the behavior of an autocrat. It's blatantly illegal. Ron DeSantis ought to be in prison for abuse of power over his role in all this. (Kevin Drum)

Ich bin und bleibe kein Fan von Gefängnisdrohungen für Politiker*innen. Die potenzielle Gefahr, die daraus hervorgeht, dass sich die Lager gegenseitig mit krimineller Verfolgung bedrohen, ist immens und in meinen Augen höher als die Straflosigkeit für Abschaum wie Trump, Bushs Folterknechte oder deSantis. Dass diese Proto-Faschisten aufgehalten werden müssen, ist demgegenüber unbenommen. DeSantis im Besonderen ist ein gutes Beispiel für die Gefahren, die aktuell aus dem rechten Lager drohen. Aber das Strafrecht ist der falsche Weg dafür.

4) Political Correctness Is Losing

The third, and largest, factor curtailing political correctness was the 2020 elections. The defeat of Donald Trump removed an accelerant in the discourse. By rubbing the country’s face in his unapologetic racism, and posing as a transparently disingenuous critic of “cancel culture” (who was, in reality, trying to cancel his critics all the time), Trump did more to encourage PC excess than a thousand Robin DiAngelos could have. The Democrats’ middling performances in 2020 and the 2021 off-year elections, and the lessons they might contain for the upcoming midterms, have brought elected Democrats face-to-face with the consequences of allowing the most militant members of the progressive movement to bully their party into adopting maximalist stances on issues like school closings, immigration enforcement, and crime. It’s now much harder for progressives to depict, say, support for enforcing immigration law or opposition to defunding the police as inherently racist when it’s clear the communities supposedly offended by those positions support them. There is an old saying that politics is downstream from culture, but in this case, culture is downstream from politics. When Democratic elected officials openly blamed their troubles on purity tests imposed by social activists, it gave permission for liberals elsewhere to resist tactics to which they had previously submitted. It turns out that democracy itself has been the corrective factor. The passions of the past half-decade have shown that, for all its faults, the Democratic Party, with its multiracial coalition that is accountable to the public, is the institution in American life that is best equipped to beat back illiberalism. The Republican Party succumbed completely to fanaticism long ago. (Jonathan Chait, New York Magazine)

Ich habe in den letzten Wochen eine Teilrevision meiner bisherigen Haltung hier hingelegt, weil ich mich aufgrund der Kritik hier im Blog etwas tiefer damit beschäftigt habe. Das Problem der radikalen Linken und ihrer illiberalen Haltung existiert, und es muss angegangen werden. Es ist leichter, den Anfängen zu wehren, als sich dann wie bei der GOP mit Faschisten im Amt herumschlagen zu müssen. Es ist nur wichtig, keine Gleichwertigkeit aufzubauen: die Gefahr durch linken Meinungsterror ist ebenso wesentlich geringer wie bei "normalem" Terrorismus auch; nur ist das natürlich kein Grund, sie für irrelevant zu erklären, wie ich es früher gerne getan habe. Daher an dieser Stelle mea culpa und danke für die Einordnungen.

Zum eigentlichen Artikel: ich halte das Framing für falsch. Die Political Correctness hat gewonnen. Wir nehmen heute wesentlich mehr Rücksicht als noch vor kurzer Zeit, bemühen uns im Großen und Ganzen, inklusiv und tolerant zu sein. Was verliert, sind ihre radikalen Ausläufer. Wichtig ist aber der Hinweis, dass diese radikalen Ausläufer deswegen verlieren, weil die Democrats mit demokratischen Mitteln dagegen vorgehen und sie mit politischer Hygiene einhegen - was ihre rechte Konkurrenz nicht geschafft hat. Sie sind eben die Guten.

5) Der Anfang vom Ende

Das ist kleingeistig und dumm. Denn der Rücktritt bedeutet nicht nur kurz vor den Landtagswahlen in Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen eine weitere Schwächung der angeschlagenen Partei. Er legt auch offen, in welchem desolaten Zustand sich die Linke befindet. Drei Gründe sprechen dafür, dass dies der Anfang vom Ende sein könnte: 1.  Die Westausdehnung der Partei ist gescheitert. [...] Nichts spricht dafür, dass sie diesen Absturz aufhalten kann. Auch bei den anstehenden Wahlen in Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen hat sie – setzt sich der Trend der Umfragen fort – keine Chance auf einen Wiedereinzug. 2. Die Linke hat keine starke Führung mehr. Lange hielten Oskar Lafontaine und Gregor Gysi Partei und Fraktion zusammen. Beide wurden in den eigenen Reihen verehrt, aber auch gehasst. Doch sie brachten die Strahlkraft und die Stärke mit, die Partei notfalls mit massivem Druck wieder auf Kurs zu zwingen und die vielen Irrlichter am Ende wieder einzufangen. Während Gysi den eher leisen Rückzug aus der Führung gewählt hat, hat Oskar Lafontaine es am Ende unter Absingen schmutziger Lieder getan – und gleich den saarländischen Landesverband, der seine Schöpfung war, mit in die Tonne getreten. [...] 3. Die Partei hat keine Zukunftsidee. In ihren Anfängen vermochte es die Linke, das Vakuum, das durch den Agenda-Reformkurs der SPD am linken Rand bis in Teile der Mitte hinein entstanden war, zu besetzen. Es gelang ihr außerdem, die Utopie eines rot-rot-grünen Zukunftsbündnisses als Versprechen einer sozial gerechteren Gesellschaft zu entwerfen. Doch schnell wurde klar, dass die radikalen Kräfte in der Partei daran kein Interesse hatten. (Miriam Hollstein, T-Online)

Ich bin nicht zuversichtlich genug, eine sichere Prognose darüber abzugeben, ob die LINKE tatsächlich als politische Kraft auf Bundesebene zerbrechen wird. Ich hoffe es zwar, aber garantiert erscheint es mir nicht, vor allem, wenn uns jetzt wegen der Lieferkettenstörungen durch Corona und den Ukrainekrieg schwere soziale Härten ins Haus stehen, die wie immer von den unteren 50% getragen werden müssen. Vielleicht kommt da so eine Art Revival, wie nach der Einführung der Agenda2010-Reformen seinerzeit, who knows.

Die Gründe, die Hollstein hier nennt, halte ich aber für stichhaltig. Die Westausdehnung ist in der Tat völlig kollabiert, die LINKE mittlerweile auf dem Niveau der alten PDS. Und das war ja auch nicht eben eine sichere Bank für den Einzug in den Bundestag, ein prekäres Herumschnüffeln an der 5%-Hürde. Woran das genau liegt ist schwer zu sagen. Ich würde vermuten, dass der große Konsens der Merkel-Ära einerseits und die Konkurrenz im Protestmilieu von rechts andererseits die Partei schwer angegriffen haben. Für Deutschland ist eine rechte Protestpartei ohnehin die natürlichere Alternative als eine linke.

Was die Führung angeht bin ich unsicher, inwieweit das gerade Protestwählende sonderlich interessiert hat, der Faktor scheint mir mehr nach innen denn nach außen zu gehen. Das ständige Chaos und die Richtungsstreits innerhalb der Partei mögen für Außenstehende arkan und irrelevant wirken, aber sie banden eben wahnsinnigviel Kraft und Aufmerksamkeit und trugen direkt zu Punkt drei bei, nämlich dem Fehlen einer wirklichen gemeinsamen Idee. Ich habe immer kein Problem zu wissen, wogegen die LINKE ist, aber wofür? Das ist schwerer zu beantworten.

6) Kretschmann fordert: Lehrerinnen sollen länger arbeiten - Kritik von der Gewerkschaft

Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) hat längere Arbeitszeiten für Lehrkräfte ins Gespräch gebracht, um eine bessere Bildung im Land zu gewährleisten. "Vielleicht müssen wir auch mehr arbeiten", gab Kretschmann am Montagabend bei einer Podiumsdiskussion der "Stuttgarter Zeitung" zu bedenken. Zum Beispiel seien sehr viele Lehrkräfte Frauen und viele von ihnen arbeiteten in Teilzeit. "Wenn die alle eine Stunde mehr arbeiten würden, eine Stunde, hätte ich 1.000 Lehrer mehr, die ich dringend brauche", erklärte der Grünen-Politiker. "Auch das wird vielleicht ein Thema sein." Die Schule habe eine zentrale Rolle beim Kampf gegen den Fachkräftemangel, der schon jetzt ein großes Problem in Baden-Württemberg sei. "Da müssen wir mehr reinstecken." Monika Stein, Landeschefin der Bildungsgewerkschaft GEW, zeigte sich empört über Kretschmanns Vorschlag. "Das ist total daneben", sagte sie der Deutschen Presse-Agentur. "Die Teilzeit-Lehrkräfte arbeiten nicht deshalb weniger, weil es Spaß macht, weniger Geld zu verdienen, sondern weil es für sie notwendig ist Teilzeit zu arbeiten, damit sie ihren Beruf gut ausüben können." (SWR)

Es überrascht vermutlich niemanden hier, dass ich von Kretschmanns Idee vergleichsweise wenig halte. Erstens ist seine Schuldzuschreibung unreflektiert, denn die Teilzeitarbeit ist ja oft genug dem Problem geschuldet, das Teilzeitarbeit überall zugrundeliegt: eine Ungleichverteilung der Care-Arbeit, die Frauen in die Teilzeit zwingt (wo sie dann ausgebeutet werden, weil sie meist mehr arbeiten müssen als die vereinbarte Leistung sagt).

Dazu kommt, dass Kretschmann hier deutlich der Heuchelei bezichtigt werden muss. Noch immer werden zahlreiche Lehrkräfte über die Sommerferien nicht bezahlt, von befristeter KV-Stelle zu befristeter KV-Stelle hin- und hergeschoben, sind die Einstellungsbedingungen katastrophal. Die Landesregierung könnte dem Problem durchaus auch abhelfen, indem sie mehr Leute einstellte. Aber das kostete dann Geld, anstatt dass man das auf dem Rücken der Beschäftigten austrägt.

Zuletzt ist Kretschmanns grandiose Idee der weiteren Ausbeutung der Teilzeitkräfte nicht der einzige fadenscheinige Vorschlag, den die Landesregierung hier macht. Auch eine Verschärfung der Bedingungen des Referendariats ist im Gespräch und sehr wahrscheinlich; die Rede ist von einer weiteren Wochenstunde (selbstverständlich unbezahlter) Arbeit, was eine zehnprozentige Arbeitsnormerhöhung bedeutet. Das war übrigens der Grund für den Aufstand vom 17. Juni. Das, nachdem das Referendariat bereits vor rund 15 Jahren um ein Viertel verkürzt wurde (was man durch ein unbezahltes Pflichtpraktikum ausglich) und die Stundenbelastung von damals acht auf zehn Stunden erhöhte. Aber dann Debatten drüber führen wollen, warum immer weniger Menschen ein Lehramtsstudium anfangen und wie man dem Lehrkräftemangel Herr werden könnte.

7) The Awful Advent of Reactionary Chic

Of course, not just that era. The dynamic Brock described — extremist one-upmanship meant to scandalize hated left-wing persecutors — is a major driver of right-wing cultural innovation. That’s why stories about the American New Right (also called the dissident right, national conservatism and neo-reaction) seem so familiar, even if the movement’s ideology is a departure from mainstream conservatism. [...] According to Pogue, the movement “has become quietly edgy and cool in new tech outposts like Miami and Austin, and in downtown Manhattan, where New Right-ish politics are in, and signifiers like a demure cross necklace have become markers of a transgressive chic.” This might be an overstatement, but it’s pretty clear that there’s cultural energy in the opposition to the progressive norms and taboos that are derisively called “wokeness.” [...] This vibe shift was predictable; when the left becomes grimly censorious, it incubates its own opposition. The internet makes things worse, giving the whole world a taste of the type of irritating progressive sanctimony Brock had to go to Berkeley to find. [...] I suspect this can last only so long as the right isn’t in power nationally. Eventually, an avant-garde flirtation with reaction will collide with the brutish, philistine reality of conservative rule. (As Brock would discover, being a gay man in a deeply homophobic movement was not cheeky fun.) (Michelle Goldberg, New York Times)

Ich halte die hier beschriebene Dynamik für weiterhin reichlich untererforscht. Diese 4chan-crowd ist ein großer Treiber hinter der Radikalisierung der Rechten (genauso wie die #Gamergate-Leute und andere solche Gruppen), aber sie bleiben gegenüber den "üblichen Verdächtigen", etwa sozialen Verlier*innen oder der abstiegsbedrohten unteren Mittelschicht praktisch unbeachtet. Auch der Schlusspunkt des Artikels ist bedenkenswert. Die Radikalisierung "for the lulz" verfolgt bei den meisten gerade keine konkreten politischen Ziele (man denke nur an Milo, der damit eine Bewegung aufbaute), aber es endet häufig genug in der Übernahme durch Profis mit wesentlich sinistreren Absichten.

8) Whatever happens, the Netflix effect is here to stay

The big change that Netflix represents is cultural: a really good television programme can’t force me to rearrange my schedule to watch it, and I no longer have to tolerate the viewing habits of others. I now expect a steady diet of art house films, disposable Star Wars knock-offs and workplace comedies without having to wade through, or compromise with, anyone else’s interests. Politics is downstream from culture, and the fact that consumer expectations are now increasingly geared towards personalisation has big implications. Whether in reconciling different social perspectives within movements based around economic interests, or uniting clashing economic interests within movements constructed around cultural desires, successful political parties win by persuading their voters to shut up and watch the same programme at the same time. [...] In countries with winner-takes-all electoral systems, the growing difficulty of forming cohesive blocs has meant even the triumphant feel defeated. [...] Nations with proportional systems have been able to outsource their problem to the voters. It is not yet clear, however, whether such political arrangements are capable of enduring policy achievement. Meeting the political ambitions of voters used to “on-demand” services might prove even more challenging than stewarding a streaming company through an era of squeezed incomes. (Stephen Bush, Financial Times)

Der Vergleich zwischen der Revolution des Fernsehens durch Netflix' Entkopplung von Program und festen Sendezeiten und den breit angelegten Wahlprogrammen und Kommunikationsmitteln der Parteien ist ein interessanter. Im Gegensatz zum Fernsehprogramm aber sehe ich diese Fragmentierung eher mit gemischten Gefühlen. Es ist ja gut, dass wir nicht länger gezwungen sind, um 20.15 Uhr dieselben Programme zu konsumieren, aber meine Lieblingsserie soll halt auch nicht das Land regieren. Da ist eine gewisse Breitenbasis schon wünschenswert.

9) „Krieg gilt in Deutschland als eine Art Unglück oder Zufall“ (Interview mit Maximilian Teerhalle)

WELT: Es war ein Deutscher, Carl von Clausewitz, der Anfang des 19. Jahrhunderts mit seinem Buch „Vom Kriege“ einen zentralen Beitrag zur Entwicklung des strategischen wissenschaftlichen Denkens geleistet hat. Warum wird diese Disziplin hierzulande heute so vernachlässigt, Herr Terhalle?

Maximilian Terhalle: Das liegt daran, dass sich das universitäre Milieu in Deutschland Denkschulen verschrieben hat, die Krieg als Mittel staatlicher Politik ausschließen. Während strategische Fragen ganz selbstverständlich in angelsächsischen Ländern, aber auch in Frankreich, Polen, Russland und China breite Beachtung finden, sieht der Mainstream in der Forschung zu internationalen Beziehungen bei uns Kooperation und Kompromiss als zentrale, unumstößliche Elemente. Dass Krieg die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln und damit integraler Bestandteil internationaler Politik ist, diesem Satz von Clausewitz verweigert sich die Politikwissenschaft in Deutschland schlichtweg. Dass Staaten andere Staaten militärisch angreifen können und deshalb Militär eine Rolle spielen muss, wird mit großer akademischer Freiheit ignoriert – folgenschwer, denn die öffentlichen Debatten leiden dramatisch darunter, dass es kaum Protagonisten gibt, die sich reflektierend zu Wort melden könnten.

WELT: Was wäre jetzt eine Strategie, die den Interessen Deutschlands diente?

Terhalle: Dafür müsste man zunächst eine politische Konzeption haben: Welche Zukunft der internationalen Ordnung, hier der europäischen Sicherheitsordnung, stellen wir uns vor? Wenn die Zukunftsvision Europa mit Putin heißt, dann könnte man das, was die Regierung gegenwärtig tut, mit gutem Willen als Strategie bewerten: nämlich nicht zu viel und nicht zu wenig, um zu versuchen, den Status quo irgendwie zu erhalten. Damit betrachtete man Putin allerdings weiterhin als zukünftigen Gesprächspartner und müsste bereit sein zu glauben, dass ein Kriegsgewinner Putin saturiert wäre. Ansonsten muss man darüber nachdenken: Wie ist ein Europa ohne Putin zu erreichen? Wie kann man Putin von außen so schwächen, dass er in Zukunft nicht mehr als Verhandlungspartner am Tisch sitzt? (Thorsten Jungholt, Welt)

Die Polemik Terhalles ist durchaus berechtigt. Ich habe darüber ja auch schon im Podcast gesprochen; das institutionelle Wissen ist weitgehend verloren gegangen. Die Wissenschaft beschäftigt sich praktisch nicht damit - es gibt in Deutschland eine Professur für Militärgeschichte, die vom Rest der Profession belächelt wird, und wie Terhalle schon sagt sieht es bei den Politikwissenschaften nicht besser aus. Auch wenn darüber aktuell niemand redet, so erstreckt sich das auch auf die Ökonomie. Die Wirtschaftswissenschaften in Deutschland sind auch völlig unstrategisch; Wirtschaftspolitik wird einzig als Standortpolitik verstanden. Darüber wäre vielleicht auch einmal zu reden.

In der Schule setzt sich das dann alles fort. Strategie wird auch hier nie gelehrt; es geht um Institutionenkunde und Urteilskompetenz (Politikunterricht) und um Urteilskompetenz und Analysefähigkeit (Geschichte), aber in beiden kommen Konflikte vor allem in der Ursachenanalyse vor. Wir erfahren zwar, welche Probleme es weltweit gibt (Terrorismus, Krieg, etc.) und erarbeiten, wie es dazu kommt und ob die Bundeswehr eine Rolle darin haben sollte, nicht aber, wie so etwas tatsächlich ausgefochten wird. Ähnlich in Geschichte, wo man zwar lernt, welche Außenpolitik Hitler betrieb und dass der Zweite Weltkrieg ein Vernichtungskrieg war, nie aber das Wort "Logistik" fällt. Das sind blinde Flecken, die uns teuer zu stehen kommen.

10) The Netflix Bubble Is Finally Bursting

Ten years ago, Netflix started offering its subscribers exclusive TV shows (we all, of course, remember the hit series Lilyhammer). An approach that at first seemed like a fad quickly yielded a handful of awards juggernauts—and then became a model for the entire TV streaming industry. For the past decade, the company has spent freely to fatten its library, eventually making hundreds of shows and movies a year, with the goal of staying ahead of its many online rivals. During this seemingly never-ending era of “peak TV,” the questions about the company’s future have been the same: When will the torrent of offerings slow down? And just how disappointed will viewers be when it does? The answer to the first question appears to be soon, if not now. Last week, Netflix announced that, in the first quarter of this year, paid subscribers declined for the first time in more than a decade. It also predicted a drop of 2 million more during the second quarter and said the company would begin exploring a lower-priced, ad-supported version. The ensuing stock tumble erased more than $54 billion in value in a single day, along with the image of invincibility Netflix has always projected. The company had likely promised investors that all the money spent on original programming would lead to subscriber growth for many, many years ahead. Netflix has nearly 222 million subscribers around the world, more than any other streaming company, and just last month it was forecasting eventually growing to half a billion. Now the arrow is pointing in the opposite direction. (David Sims, The Atlantic)

Noch einmal Netflix, dieses Mal aber nicht als Metapher, sondern das reale Unternehmen. Es ist spannend zu sehen, wie sich das Streaming in den letzten Jahren verändert hat. Die Einführung der Technologie und der verbundenen Plattformen war eine massive Disruption eines seit Jahrzehnten saturierten Marktes, ähnlich der Einführung der MP3 für den Musikmarkt, und viele Anbieter haben sich (wie die Plattenfirmen) schwer damit getan, hier zu konkurrieren. Das Schema war auch dasselbe; illegales Teilen der Inhalte mangels legalen Angebots, dann wird die Lücke ausgenutzt und mittlerweile kann man sich gar nichts mehr anderes vorstellen. Beeindruckend.

Bedenkt man, wie schlecht Netflix' Angebot überwiegend ist, verwundert kaum, dass die Abonnentenzahlen einbrechen. Zudem gibt es viele konkurrierende Dienste, und praktisch niemand will alle abonnieren. Es verwundert daher kaum, dass Netflix Probleme bekommt. Mehr Qualität hätte vielleicht helfen können, aber das war leider nie das Geschäftsmodell.

Resterampe

a) Sascha Lobo hat am gleichen Tag, an dem Ariane und ich unseren Podcast zum Thema hatten, gewohnt eloquent einen Artikel zum selben Thema verfasst und einen super Begriff gefunden, auf den ich richtig neidisch bin: Lumpen-Pazifismus.

b) Eine Sammlung aller Abscheulichkeiten Xavier Nadoos.

c) Gute Bemerkung zum deutschen Ukrainediskurs.

d) Interessante Studie zum Gendern (Zusammenfassung).

e) Frauenfeindliche Attacken auf Baerbock sind nicht auf das konservative Spektrum beschränkt.

f) Republikanisch dominierte Gerichte verhindern in Ohio die Einführung fairer Wahlkreisaufteilungen - über den Kopf des State Supreme Court hinweg. State's Rights! Die mag man natürlich nur, wenn man damit eigene Ziele durchsetzen kann. Wie immer.

g) Interessanter Thread zu der Wählendenverteilung in Frankreich.

h) Der französische Alkoholkonsum ist seit den 1960er Jahren massiv gesunken. Im Gegensatz zu dem in Großbritannien, der seit den 1980er Jahren massiv steigt. Ich habe so meine Vermutung, woran das liegt.

i) Dieser Artikel von 2017 kann heute genauso wieder gepostet werden.

j) Typisches Beispiel für mediale Doppelstandards bei free spech.

k) Angesichts der Masse an bayrischen Gesetzen, die als verfassungswidrig kassiert werden, könnte man glatt die Frage stellen, ob die CSU es mit dem Grundgesetz nicht so hat.

l) Warum vertrauen "die Amerikaner*innen" den Experten nicht mehr? Michael Lewis hat eine Antwort, Kevin Drum eine ergänzende.

m) "Die jungen Menschen heute arbeiten nicht mehr gerne" ist zwar eine gerne verbreitete Behauptung von älteren Menschen (Nebeneinanderstellung ist sooooo witzig), aber nur eine Legende. Die Daten sprechen auch schwer dagegen, aber mit denen beschäftigen sich Kulturpessimist*innen ja nie gerne.

n) Guter Thread von Christina Dongowski zu dem Thema "Rückkehr der Politik" aus dem letzten Vermischten.

o) Stichwort Doppelstandards. Und noch mehr Kontext.

p) Ein letzte Woche viel gelobtes Beispiel von Habecks Krisenkommunikation, als Ergänzung zum Eintrag im letzten Vermischten.

q) Zu der Debatte um Atomwaffen für die Bundeswehr finde ich diesen Artikel von 2016 immer noch definitiv.

r) Wer einen Eindruck haben möchte, wie der Krieg in ukrainischen Städten aussieht, dürfte mit dieser Doku von 1995 über die Maikop-Brigade bedient werden.

s) In den letzten 25 Jahren null Todesopfer durch linksextreme Gewalt, über 200 durch rechtsextreme. Mehr als doppelt so viele Körperverletzungen durch rechte wie linke. Es ist einfach keine Äquivalenz. Die größere Gefahr kommt von rechts.

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