Dienstag, 7. März 2023

Rezension: Tim Harford - The Next Fifty Things that Made the Modern Economy

 

Tim Harford - The Next Fifty Things that Made the Modern Economy

Tim Harford ist wohl für seine Kolumnen über Wirtschaftspolitik am bekanntesten. Daneben hat er aber mehrere erfolgreiche Sachbücher geschrieben. Das vorliegende Werk mit dem Titel "The Next Fifty Things That Made The Modern Economy" impliziert das Vorhandensein eines Buches "Fifty Things That Made The Modern Economy", das natürlich existiert, das ich aber (Stand März) noch nicht gelesen habe. Warum habe ich mit dem zweiten Band angefangen? Weil er für 99 Cent auf Amazon zu haben war. Kapitalismus! Harford findet es gut; durch seinen Tweet zum Thema bin ich überhaupt auf das Angebot gestoßen. Bereut habe ich es nicht. Erwartet habe ich das auch nicht, denn das ist nicht eben das erste Buch, das ich aus seiner Feder lese. Aber zur Sache. Was ist das Konzept dieser Reihe? Harford verschreibt sich in diesem Projekt der Technik-Geschichtsschreibung, und zwar konkret von Produkten, die aus unserem Alltag nicht mehr wegzudenken sind, die wir aber häufig übersehen - gerade weil sie zu unserem Alltag gehören. Welch revolutionäre Entwicklung sie oft bedeuteten und warum ohne sie die titelgebende moderne Wirtschaft nicht denkbar wäre, ist meist unbekannt. Harfords Mission ist es, die verborgenen Geschichten auszugraben und sie in einen größeren Kontext zu betten. Praktisch immer irgendwie frisch und überraschend, in jedem Fall aber unterhaltsam und geistreich geschrieben führt er durch diverse Erfindungen hindurch.

In seiner Einführung zeigt Harford seinen Stil exemplarisch am Bleistift auf. Vor seiner Erfindung war das schnelle Skizzieren (und, vor allem, Radieren) fast ein Ding der Unmöglichkeit. Seine Erfindung erforderte mehrere Technologien: einerseits die Fähigkeit, die Mine in den Holzkorpus zu befördern, und andererseits den Abbau und die Mischung von Grafit. Grafit aber war eine militärisch relevante Ressource, weswegen sie lange unglaublich teuer war. Erst die industrielle Revolution ermöglichte - der Dampfmaschine sei Dank - den wirtschaftlichen Abbau des nötigen Minerals.

Im ersten Kapitel listet Harford denn "täuschend einfache" Erfindungen auf. Dazu gehört etwa der Ziegelstein, erfunden vor mehr als siebentausend Jahren unabhängig an mehreren Stellen der Erde und immer in den fast gleichen Dimensionen, bis heute von Robotern kaum zu verlegen. Oder die Fabrik, die praktisch über Nacht Heimwerken vom Broterwerb zum Hobby machte (das Wortspiel ist jetzt von mir, aber es wäre in dem Buch nicht fehl am Platz). Die Briefmarke revolutionierte das Postwesen, da Briefe vorher extrem teuer waren und vom Empfangenden, nicht Sendenden bezahlt wurden. Das Fahrrad, das vor allem Frauen (aber nicht nur!) eine ungekannte Mobiltität verlieh und damit die menschliche Genetik mehr verändert hat als die meisten Erfindungen, konnte man doch endlich Männer aus dem Nachbardorf kennenlernen und ehelichen. Die Brille, die (für einen Großteil der Menschheit heutzutage immer noch unerreicht) das Leben so viel einfacher macht und die Produktivität enorm steigert. Die Dosennahrung, die Vorratshaltung in ungeahntem Ausmaß ermöglichte und die Ernährungsgewohnheiten der Menschen drastisch erweiterte. Oder Auktionen, die es ermöglichten, den Preis von Waren unabhängig vom Diktat monopolistischer Händler festzulegen.

Im zweiten Kapitel, in dem sich Harford mit dem "Verkauf des Traums" beschäftigt, erklärt er die Tulpenmanie der Niederländer im 16. Jahrhundert damit, dass der Import der seltenen Varianten dazu führte, dass diese mehr und mehr gepflanzt wurden. Der Preisverfall war also weniger eine Erkenntnis der Blödheit von Tulpen als viel mehr ein Überangebot. Das Gegenteil sehen wir mit Queen's Ware: findige britische Händler vermarkteten überteure Service als Queen's Ware, um das Rätsel zu lösen wie man ein Produkt künstlich verteuern und nach wenigen Monaten für einen Bruchteil der breiten Masse verkaufen kann, ohne dass sich die Erstkonsumenten betrogen fühlen; Steve Jobs wüsste da auch was dazu zu sagen. Die Bonsack-Maschine erlaubte die Massenfertigung von Zigaretten und die zugehörige erste moderne Werbekampagne den Verkauf dieser gesundheitsschädlichen Droge. Singers Nähmaschinen verdanken ihren Erfolg einer proto-feminstischen Kampagne, weil sie Frauen den Alltag wesentlich erleichterten. Der Sears-Katalog begründete den Versandhandel und damit günstige Konsumentenpreise, während Fast-Food trotz qualitativer Schwächen aus unserem Alltag kaum wegzudenken ist. Aufrufe für Spendenkampagnen sind uns mittlerweile auch genauso geläufig wie der Weihnachtsmann, der entgegen anderslautender Legenden nicht von Coca Cola, aber sehr wohl zu Werbezwecken erfunden wurde.

Das dritte Kapitel, "Geld bewegen", stellt das SWIFT-System als geniale Lösung technischer Probleme vor, das realpolitische Probleme für nicht-westliche Staaten produziert (wie Russland gerade erfahren darf, was Harford 2021 aber noch nicht wissen konnte). Der revolutionäre Effekt der Kreditkarte braucht wohl keine Erklärung; ihre Erfindung dank der Idee einer Frau mit Bügeleisen dagegen schon. Die Verbreitung von Aktienoptionen inflationierte CEO-Gehälter und verschlechterte wohl aktiv die Performance ihrer Unternehmen, während die Vickrey Turnstile eine Erfindung weit vor ihrer Zeit war: das Bepreisen nach fluktuierendem Angebot und Nachfrage, die zur Zeit des Münzgelds technisch noch nicht umsetzbar war. Blockchain dominiert gerade die Debatte (ich bin immer noch der Überzeugung, dass es Unfug ist) und wird von Harford mit Skeptizismus, aber grundsätzlicher Offenheit für einen späteren Meilenstein der Nützlichkeit diskutiert.

Das vierte Kapitel, "Unsichtbare Systeme", stellt als Erstes eine der wohl bedeutendsten Erfindungen der Industriellen Revolution vor: austauschbare, standartisierte Teile. Ohne sie wäre Massenfertigung unmöglich. Andererseits war mir unklar, dass RFID bereits seit den 1940er Jahren benutzt wird und ausgerechnet von der Sowjetunion pioniert wurde (natürlich zu Spionagezwecken). Der Interface Messaging Processor erlaubte Netzwerke und ist damit die Grundlage der digitalen Revolution, auch wenn er zuerst nur eine technische Campusspielerei war. GPS zuletzt ist dermaßen wichtig, dass es, wie SWIFT, aus dem Alltag kaum mehr wegzudenken ist, sein Wegfall aber gigantische wirtschaftliche Konsequenzen hätte. Sein Ausfall wäre mehr als dramatisch.

Das fünfte Kapitel, "Geheimnisse und Lügen", stellt die Druckerpresse vor, ohne die Fake News und Hetzpropaganda kaum denkbar wären (deren Verbreitung den ersten Boom von Druckerzeugnissen markierte). Danach kommt Harford auf das Thema Damenbinden zu sprechen, die lange völlig vernachlässigt wurden (das Patriarchat lässt grüßen), weil Männer es nicht zuließen, dass jemand auch nur darüber sprach. Cleveres Marketing war die Lösung (natürlich sehr zum Verdruss der Männer). Anders ist die Sache bei Überwachungskameras gelagert: diese verbreitete Technologie wurde zum ersten Mal von den Nazis in Peenemünde eingesetzt, um V2-Tests zu überwachen - the more you know... Die Pornografie dagegen stellt eine der ältesten Erfindungen der Menschheit dar; ihre gewerbsmäßige Verbreitung allerdings erforderte mehrere Zutaten: zarte Anfänge boten Fotos, der Durchbruch aber kam erst in den 1980er Jahren mit VHS und dann in den 1990er Jahren mit dem Internet. Der Versuch, Dinge zu verbieten, scheitert gerne einmal, was Harford an der Prohibition deutlich macht, die nicht eben zu einer höheren Sicherheit des Alkoholkonsums beitrug. Fand dieser wie auch die Pornografie eher heimlich statt, ist die Erfindung des Like-Buttons dagegen ein Weg der völligen Transparenz der Nutzer*innen, der allerdings auf ein wissenschaftliches Experiment zurückging, dessen ökonomischer Nutzen Facebook erst verspätet aufging.

Das sechste Kapitel, "Zusammenarbeiten", beginnt mit einer Erklärung des Prozesses der Kultivierung der eigentlich giftigen Cassava-Pflanze, die einen ritualistischen, mehrstufigen Prozess erfordert, der von den ihn nutzenden Gesellschaften minutiös befolgt werden muss, oft ohne dass den Mitgliedern klar ist, warum sie ihn überhaupt machen: die Geburtsstunde der Tradition. Eine ganz andere Tradition haben wir in der Moderne dagegen überwunden, nämlich das Ausstoßen oder gar Ermorden unserer "nutzlosen" Alten; stattdessen haben wir die Rente erfunden, eine der größten zivilisatorischen Leistungen überhaupt. Das trifft auf die QWERTY-Tastatur und ihr nicht eben ergonomisches Layout nicht unbedingt zu; seine Grundlagen macht Harford im Telegrafiewesen aus, während ihre Verbreitung eine Geschichte analog zur VHS-Betamax-Konkurrenz ist. Geradezu monumental nimmt sich dagegen die Erfindung des Langstroth-Bienenstocks aus, der die Honigproduktion in industriellem Maßstab ebenso ermöglichte wie die Befruchtung riesiger Plantagen - mit noch unabsehbaren Folgen für unsere Versorgungssicherheit und einer unbekannten, aber riesigen Logistik dahinter. Zuletzt wendet sich Harford Dämmen zu, die für die Versorgungssicherheit unerlässlich sind, aber gleichzeitig eine der größten Gefahren für die Menschheit darstellen, weil sie überraschend häufig brechen.

Das siebte Kapitel, "Kein Planet B", beginnt mit der wohl basalsten Erfindung der Menschheit überhaupt: der Domestizierung des Feuers, die uns bis heute in Form von Flächenbränden plagt. Danach geht es zur Förderung von Öl, einem ungemein effizienten Brennstoff, der gleichwohl die aktuelle Klimakrise bescherte. Die Erfindung der Vulkanisierung dagegen ermöglichte die industrielle Herstellung von Gummi, ohne die unsere heutige Wirtschaft völlig undenkbar wäre. Wesentlicher unbekannter ist der Warden'sche Kasten, eine Art Mini-Treibhaus, das erstmals den Transport von Pflanzen um die ganze Welt und damit die heutigen Monokulturen in industriellem Maßstab ermöglichte. Das Zellophan, auf der anderen Seite, wird zwar oft wegen der Müllmenge verurteilt, reduziert diese in Wahrheit aber: nur 3% aller Lebensmittel in Industrieländern müssen vor dem Verkauf entsorgt werden, während in Entwicklungsländern fast 50% betroffen sind. Eine andere Geschichte ist das Recycling, denn dieses ist eher ein Marketinggag der Unternehmen, mit dem sie sich von ernsthaften Schutzmaßnahmen freikauften und oft ineeffektiver als andere Methoden, den Müll loszuwerden. Dazu kommt, dass die Recyclingmaschine China nicht mehr funktioniert, die bisher billig den Müll genommen haben - was die Marktwirtschaft jetzt vielleicht über den Preis regeln wird. Deutlich segensreicher war die Erfindung von Zwergweizen, einer resistenten Weizensorte, die die bereits erwähnte "grüne Revolution" der 1980er Jahre und damit den Sieg über den Hunger (für den Moment) möglich machte. Die Segen der Erfindung der Photovoltaik sind im Kampf gegen den Klimawandel dagegen wohl offenkundig, und die gewaltigen Effizienzgewinne der vergangenen Zeit lassen hoffen, dass sich die Lage hier noch weiter aufhellt.

Das letzte Kapitel, "Unsere Roboter-Herrscher", beginnt mit einer Betrachtung der Hollerith-Lochkartenmaschine. Sie erlaubte moderne Datenverarbeitung, wie wir sie kennen, und damit sowohl riesige Gewinne in Public Policy als auch den Holocaust ermöglichte. Die Erfindung des Gyroskops nimmt sich demgegenüber geradezu bescheiden aus, wenn sie nicht die Grundlage für alle Navigationsgeräte bis hin zu GPS gewesen wäre. Wohl jede*r Wissensarbeiter*in kennt die Bedeutung von Spreadsheets, und auch wenn wir meist eine Hassliebe gegenüber Excel und Co haben, ist der Effizienzgewinn dieser Erfindung beachtlich. Harford verweist hier auch darauf, dass die Einführung digitaler Spreadsheets allein in den USA 400.000 Buchhaltungsjobs vernichtet hat - aber 600.000 neue geschaffen, ein Beispiel für kreative Zerstörung. Ähnlich sieht es bei der Erfindung des Chatbots aus, der das Potenzial hat, denselben Effekt für Kundenservice zu erreichen - mit besseren Ergebnissen für alle Beteiligten. Effizienzgewinne durch Minimalisierung illustriert er dagegen an den CubeSats, Minisatelliten, die zahlreiche Anwendungen erlauben (und tonnenweise Weltraummüll produzieren, was er kurioserweise völlig ignoriert). Am Beispiel der Slot-Maschinen zeigt Harford die Ausnutzung psychologischer Phänomene auf die Konstruktion von Maschinen. Den Abschluss machen dann Schach-Algorithmen als Beispiel für KI-Routinen.

Als Fazit kann ich eine Kaufempfehlung aussprechen. Harford liefert keine bahnbrechenden Erkenntnisse und fordert die Lesenden auch nicht übermäßig heraus, hat aber einen super angenehmen, leicht lesbaren Stil und zahlreiche interessante Anekdoten zu bieten. Man sollte das Buch weniger als wissenschaftliches Werk lesen, ob für Geschichte oder Wirtschaft, sondern eher als einen Steinbruch von Anekdoten für den Smalltalk. Und auch wenn das 99-Cent-Angebot vorbei ist, bekommt man das Ding bei Amazon für rund 5 Euro. Das ist völlig in Ordnung.

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