Freitag, 12. Mai 2023

Radikalisierte CDU-Mitglieder ertragen in Ottawa keinen Widerspruch - Vermischtes 12.05.2023

 

Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Die "Fundstücke" werden mit einem Zitat aus dem Text angeteasert, das ich für meine folgenden Bemerkungen dazu für repräsentativ halte. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten. Dazu gibt es die "Resterampe", in der ich nur kurz auf etwas verweise, das ich zwar bemerkenswert fand, aber zu dem ich keinen größeren Kommentar abgeben kann oder will. Auch diese ist geordnet (mit Buchstaben), so dass man sie gegebenenfalls in den Kommentaren referieren kann.

Fundstücke

1) In a thriving Michigan county, a community goes to war with itself

Under their leadership, Ottawa County prospered. It had one of the lowest unemployment rates in Michigan and, since 2010, has been the fastest growing county in the state. Board meetings were civil, orderly and, until recently, sparsely attended. “We were rolling along good,” said Greg DeJong, a Republican who spent 12 years on the board before he was unseated. “No one came to our meetings before covid.” [...] By his own admission, Moss had not paid much attention to local politics. [...] Suddenly, Moss realized that those dangerous people that his pastor had been talking about on Sundays were not just in Washington and Lansing, the state capital. They were in West Olive, where the county government was headquartered. [...] Last November, commissioners backed by Ottawa Impact won eight of the 11 seats on the county board. They were now in charge of a government that they feared, overseeing county employees they did not trust. [...] But Hambley and other senior health department officials said it was becoming harder to do their jobs. “We’ve never had a county leadership opposed to the principles of public health and opposed to its own departments,” said Marcia Mansaray, Hambley’s deputy officer. “It’s disheartening. It’s exhausting … It’s toxic.” And it was not just the health department. Across the county, government workers worried about running afoul of the new board’s edicts. (Greg Jaffe/Patrick Maley, Washington Post)

Die Washington Post hat hier eine lange, ausführliche Reportage geschrieben, die exemplarisch für mehrere Phänomene stehen kann. Aber es ist wahrlich auf düstere Art beeindruckend, wie Radikalisierung und Polarisierung eine völlig problemlose County-Verwaltung in einen politischen Kriegsschauplatz (allerdings sehr einseitiger Kriegsführung) verwandeln. Die Qualität der staatlichen Leistungen leidet darunter natürlich massiv, was in dem Fall die ideologischen Prämissen der Kulturkrieger*innen nur befeuert. Ebenso bemerkenswert ist der Grund für die Radikalisierung: es waren die Coronamaßnahmen. Dass beim Zutritt zum örtlichen Krankenhaus eine Maske getragen werden musste war manchen Leuten genug zu beschließen, dass sie das ganze System niederreißen müssen. Ich werde diese Haltung nie verstehen.

2) Don't work with assholes

Niemand will gern mit Leuten zusammenarbeiten, wenn man sich gegenseitig scheiße findet. Meistens muss man das aber trotzdem, irgendwie. Erst recht in einer riesigen Firma, bei der zudem alle wissen, wie ungewiss die eigene Zukunft ist. Nora Zabel, 26, ist CDU-Mitglied und kennt das. Der Parteifreund Philipp Amthor, 30, bezeichnet sie als Kommunistin. Für andere ist sie aber wichtiges Personal für eine Partei, die »moderner« werden will. Heißt für die CDU: jünger und weiblicher, aber politisch nichts Konkretes. [...] Die Biografie Die Kanzlerin und ihre Zeit läge immer neben Noras Bett griffbereit, hat sie erzählt. 2017 bekam Nora einen Anruf von Merkel. Ein Dankeschön. Nora war in diesem Jahr die fleißigste Mitarbeiterin im Häuserwahlkampf gewesen. Angela Merkel ist für Nora aber nicht nur ein Vorbild, sondern, sagt sie, der Beweis, dass als Frau in der Politik alles möglich sei – eine Volkspartei bräuchte es dafür aber schon auch. Man hätte dann die größte Reichweite für flächendeckende Veränderungen. (Aron Boks, taz)

Das ganze Porträt von Nora Zabel ist interessant zu lesen. Ich kann natürlich nicht sagen, wie repräsentativ sie für ihre Partei ist, aber sowohl dieses Porträt als auch mein Podcast mit Manuel Schwalm haben mich davon überzeugt, dass meine ursprüngliche Einschätzung korrekt war und (eigentlich wenig überraschend) die CDU eben kein monolithischer Block ist. Es gibt in der Partei Leute, die den Merkel-Kurs gut fanden und finden, und es gibt Leute, die sie am liebsten in den Orkus des Vergessens stoßen würden. Das war mit Gerhard Schröder in der SPD ja auch nicht unbedingt anders.

3) 250 Strafanzeigen pro Monat: Wie FDP-Politikerin Strack-Zimmermann in der Ukraine-Krise gegen Hass und Drohungen kämpft

„Leider ist die Hemmschwelle gegenüber Politikerinnen und Politikern immer weiter gesunken, sodass man sich auch schon auf kommunalpolitischer Ebene drastischen Angriffen ausgesetzt sieht“, sagt Strack-Zimmermann. Es sei ihr daher mehr als wichtig, Vergehen strafrechtlich zu verfolgen. „Die Leute müssen, auch auf die harte Tour, lernen, dass man mit geistigem Dünnpfiff und drastischen Beleidigungen oder Drohungen nicht ungeschoren davon kommt.“ 250 Strafanzeigen pro Monat hätten sie dieses Jahr gestellt, sagt Schulz. Vor allem in NRW, zum Teil in Berlin. [...] Strack-Zimmermann ist kein Einzelfall. „Unsere Analysen und Beratungen zeigen, dass es eine klare Zunahme von Anfeindungen im Zusammenhang mit Themen im Umfeld des Ukraine-Kriegs gibt“, sagt Josephine Ballon, Head of Legal bei HateAid zu Business Insider. Die NGO unterstützt Menschen im juristischen Kampf gegen Hass und Hetze. „Wir sehen, dass unsere Klientinnen und Klienten im politischen Bereich stärker von solchen Anfeindungen betroffen sind“, sagt Ballon. Häufig treffe es Personen, die schon in der Corona-Krise attackiert wurden. Die Zahl der von HateAid bearbeiteten Fälle, in denen es um justiziable Beleidigungen und Drohungen im Zusammenhang mit der Ukraine-Krise gehe, nehme zu. (Josh Groeneveld, Business Insider)

Es ist ein Graus, diesen Trend zu beobachten. Ich bin natürlich nicht 100% sicher, ob gerade nur eine größere Sichtbarkeit von Gewalt- und Morddrohungen gegen Politiker*innen besteht und das Ganze deswegen ein statistisches Artefakt ist, aber ich fürchte dass nicht. Strack-Zimmermann ist sicherlich ein Extremfall, was die schiere Masse an Drohungen und Hass anbelangt, aber ein Einzelfall ist sie nicht. Alle Bundestagsabgeordneten berichten davon, und wenn man den aktuellen Forschungen glauben darf, hat die Frequenz mit Corona sprunghaft zugenommen und mit dem Ukrainekrieg noch einmal.

Das ist auch deswegen so problematisch, weil Strack-Zimmermann ja noch relativ privilegiert ist: als Bundestagsabgeordnete und Ausschussvorsitzende bekommt sie wenigstens Polizeischutz. In der Lokalpolitik gibt es oft überhaupt keinen Schutz für die Betroffenen, und gerade in Regionen, in denen die AfD besonders stark ist, kann das geradezu zu einer Vertreibung demokratischer Politiker*innen aus dem öffentlichen Leben und damit der Schaffung von effektiv rechtsfreien Zonen führen. Diese Gewalt bedroht die Demokratie ins Mark, viel mehr als viele andere Aufregerthemen, und müsste viel, viel mehr diskutiert und angegangen werden.

4) Die Argumentationstricks der Klimabremser

Werden Sie immer hellhörig, wenn politisch so getan wird, als könnten Sie allein das Klima retten. Da will jemand bewusst den politischen und strukturellen Charakter der Bewältigung der Klimakrise verschleiern. [...] Interessant hierbei ist nun jedoch zu beobachten, wie schnell die FDP ihr Herz für Geringverdiener entdeckt, wann immer es um die Verteidigung der Automobilindustrie geht. Arme Menschen dürfen in der Theorie mobil sein, wenn es darum geht, für die Automobilität zu kämpfen. Aber bitte keine soziale Mobilität! [...] Hinsichtlich ihrer Vision zur Umweltpolitik erklärt die FDP, sie wolle »die Förderung einer lebendigen, innovativen Start-up-Kultur. Erfindergeist muss Entfaltungsmöglichkeiten bekommen, sodass alle von den Ideen profitieren und ungewöhnliche Ideen zur Marktreife gebracht werden können. Diese dürfen sich dann im marktwirtschaftlichen Wettbewerb beweisen .« Das klingt auch so viel besser als: »Wir haben zwar keine Ahnung, aber man muss doch mit so einer Klimakatastrophe irgendwie Geld machen!« (Samira El Ouassil, SpiegelOnline)

Ich finde diesen Artikel so gar nicht gut. Zum einen verstehe ich die Fokussierung auf die FDP nicht. Klar, die sind in der Ampel in Regierungsverantwortung und damit sichtbarer als die CDU, aber bei der wären viele dieser Vorwürfe an der viel besseren Adresse. Und die Vorwürfe sind zudem in meinen Augen auch schlicht falsch und entspringen einem Schwarz-Weiß-Denken. Ich teile viele der Politikansätze der FDP nicht oder zumindest nicht in der von der Partei vertretenen Ausprägung, aber der Bad Faith dieses Artikels ist schon bemerkenswert. Denn die FDP will nicht bewusst verschleiern; Appelle an die Eigenverantwortung gehören schlicht zum liberalen Id.

Dass das Argument der Geringverdienenden gerade hier hochkommt - geschenkt. Aber auch die FDP ist sehr um soziale Mobilität bemüht und hat das als großes Ziel; man könnte sogar argumentieren mehr als linke Parteien (weil diese eher die Lebensumstände verbessern wollen, während es der FDP genuin um Moblität geht). Damit ist nichts über die Wirksamkeit der Politikansätze gesagt, die wir sehr gerne diskutieren können. Aber zu behaupten, Christian Lindner wolle, dass Menschen arm bleiben, ist einfach nur doofe ad-hominem-Attacke. Dasselbe gilt dann auch für den Punkt mit den Startups. Deren Förderung und die Entwicklung neuer Techniken ist kohärente FDP-Politik seit Langem; der Vorwurf des "Klimakatastrophe zu Geld machen" führt da in meinen Augen völlig in die Irre.

Wie gesagt, ich stimme der FDP bei ihren Politikansätzen - vor allem in ihrer Exklusivität - oft nicht zu. Aber ich muss die Sachen schon ernstnehmen. Ich habe darüber auch mit Benedikt Becker im Podcast gesprochen.

5) Meinungsfreiheit heißt nicht Widerspruchsfreiheit

Denn Reporter ohne Grenzen bewertet nicht nur staatliche Verfolgung. So hätten hierzulande Angriffe auf Journalisten bei Demonstrationen stark zugenommen. Auch die Medienvielfalt sei durch Zusammenlegung oder Schließungen von Zeitungen bedroht. Stutzig macht jedoch ein weiterer Grund, der dazu beigetragen habe, dass Deutschland fünf Plätze verloren hat: Journalisten erlebten „zunehmend Queerfeindlichkeit, Sexismus und Rassismus, vor allem, wenn sie über diese Themen berichten“. [...] Doch subjektives Sicherheitsempfinden ist kein verlässliches Kriterium. Und Reporter ohne Grenzen ist gut beraten, das Renommee seiner Ranglisten nicht dadurch zu gefährden, indem man Reflexe übernimmt, vor denen auch manche Journalisten nicht gefeit sind: Meinungsfreiheit mit Widerspruchsfreiheit zu verwechseln – und auf Widerspruch mit dem erstbesten Ismus-Vorwurf zu kontern. (Denis Yüzel, Welt)

Sorry, aber Yüzel schreibt hier Unsinn. Es geht ja nicht um "Widerspruch". Wenn jemand einen Artikel über Transmenschen schreibt und dann einen bösen Lesendenbrief bekommt, dann ist das Widerspruch. Wenn jemand einen solchen Artikel schreibt und dann Morddrohungen erhält, ist das kein Widerspruch. Ob wir reine Beleidigungsnachrichten zum Widerspruch adeln wollen, überlasse ich allen selbst. Aber das Thema hier ist wirklich nicht nur "Widerspruch". Ich wöllte Yüzel oder andere Weltreporter*innen hören, wenn Ulf Poschardt die nächste Kolumne zum Autofahren schreibt und er dann Morddrohungen von der Letzten Generation kriegt. Ich bin sicher, das würde dann auch als "Widerspruch" gewertet und total lässig behandelt werden. /Ironie

Nebenbei bemerkt ist das ohnehin nur ein winziger Nebenkriegsschauplatz, der Deutschland im 0,0X-Spektrum von Punkten gekostet hat. Der Löwenanteil geht auf den RBB-Skandal zurück (von dem Yüzel zurecht anmerkt, dass er im Ranking 2024 noch durch die Döpfner-Affäre ergänzt werden wird) sowie auf physische Übergriffe auf Journalist*innen. Genauso wie bei Fundstück 3 sehe ich hier das eigentliche, zentrale und viel zu wenig addressierte Problem. Politische Gewalt nimmt zu - und damit ist echte Gewalt gemeint, nicht das Sich-auf-Straßen-kleben. Darüber müsste man viel mehr reden.

Resterampe

a) Realsatire.

b) Ein Thread zur Strompreissubvention.

c) Die FT hat einen Hintergrundartikel zum Verhältnis Deutschlands mit Polen (und umgekehrt).

d) Eigentlich völlig logisch, aber gut das mal so ausbuchstabiert zu bekommen.

e) Das ist einfach so ein schräger, dummer Vergleich.

f) Subjektives Rechtsempfinden, mal andersrum.

g) German exceptionalism.

h) Bei der FDP ist auch die Nerdstream Era angekommen. Sehr gut! :) SPD Social Media indessen gewohnt peinlich.

i) Harter Verriss des Hoyer-DDR-Buchs.

j) Weiteres Beispiel für Gewalt gegen Politiker*innen.

k) Das Ausmaß der Korruption am SCOTUS, vor allem von Thomas, nimmt immer krassere Dimensionen an.

l) Cooler Thread zum Thema Fortschrittsglaube 1900 bis heute.

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