Dienstag, 22. Oktober 2024

Die Kulturszene geht mit der Kettensäge auf den Klimawandel los und bekommt dabei Hilfe konsensorientierten Populisten - Vermischtes 22.10.2024

 

Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Die "Fundstücke" werden mit einem Abschnitt des Textes, der paraphrasiert wurde, angeteasert. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels empfohlen; ich übernehme keine Garantie für die Richtigkeit oder Vollständigkeit der Zusammenfassungen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten. Dazu gibt es die "Resterampe", in der ich nur kurz auf etwas verweise, das ich zwar bemerkenswert fand, aber zu dem ich keinen größeren Kommentar abgeben kann oder will. Auch diese ist geordnet (mit Buchstaben), so dass man sie gegebenenfalls in den Kommentaren referieren kann. Alle Beiträge sind üblicherweise in der Reihenfolge aufgenommen, in der ich auf sie aufmerksam wurde.

Fundstücke

1) Der grüne Kettensägenmann

Der Artikel setzt sich mit der Symbolik und den aktuellen politischen Entwicklungen in Deutschland und Argentinien auseinander, wobei die Kettensäge als zentrales Symbol sowohl für den argentinischen Präsidenten Javier Milei als auch für den deutschen Vizekanzler Robert Habeck genutzt wird. Während Milei die Kettensäge als Metapher für den Abbau des Staates verwendet, greift Habeck in seiner Rede über das Lieferkettengesetz ebenfalls zur Kettensägen-Rhetorik, um Bürokratie und staatliche Eingriffe zu kritisieren. Der Artikel thematisiert Habecks Versuch, das Image der Grünen zu korrigieren, indem er eine weniger regulierende und marktwirtschaftsfreundlichere Haltung einnimmt. Diese Neuausrichtung der Grünen wird jedoch als riskant angesehen, da sie potenziell die Glaubwürdigkeit der Partei untergräbt und deren Identität infrage stellt. Führende Grünen-Politiker äußern Selbstkritik und betonen, dass die Partei bei Themen wie Klimaschutz, Bürokratie und Migration zu schnell zu weit gegangen sei. Der Text wirft die Frage auf, ob die Grünen durch ihre Selbstkritik alte Überzeugungen aufgeben und wie sie ihre Wählerbasis in Zukunft erreichen wollen. Abschließend wird darauf hingewiesen, dass Habeck sich in eine Richtung bewegen könnte, die als Synthese aus linken und rechten Ideologien verstanden werden könnte, ähnlich wie in den USA mit der "angebotseitigen progressiven Bewegung". (Jonas Schaible, Spiegel)

Die Strategie der Grünen ist ungemein riskant, das kann aus meiner Warte heraus nicht in Zweifel stehen. Ich habe das ja auch in meinem Artikel thematisiert. Meine Frage wäre ein wenig, welche Wählendenbasis die Grünen aktuell haben. Klar, da gibt es diverse Linke, aber die machen niemals genug Leute aus, um die Partei in den zweistelligen Prozentbereich zu bringen. Wollen die Grünen aber in diesem Bereich bleiben und wieder in Richtung 20% laufen, dann kommen sie nicht umhin, die amorphe Mitte zu gewinnen. Vielleicht ist Habecks Hoffnung auch, dass man aus den Trümmern der FDP etwas absaugen kann, indem man sich als neue liberale Alternative positioniert (ist ja nicht so, als ob das Feld in der aktuellen Parteienlandschaft besetzt wäre). Aber die Theorie ist mir nicht ganz klar, weder für die eine Richtung noch für die andere. Dazu passt übrigens, was Gunnar Sohn beschreibt: die reale wirtschaftliche Lage und ihre Wahrnehmung fallen völlig auseinander, und wenn Habeck Erfolg haben will, muss sich das ändern. Ich habe das für die USA ja jüngst auch thematisiert.

2) Nie wieder vereint

Der Artikel thematisiert den aktuellen Umgang mit antisemitischer Kunst und die Unterstützung antisemitischer Positionen durch Kulturschaffende in Deutschland. Am Beispiel des "Freedom Theatre" in Leipzig wird verdeutlicht, wie Künstler und Kulturinstitutionen sich zunehmend dem Hass auf Israel verschreiben. Trotz des offensichtlichen Antisemitismus, der in den Projekten wie der "kulturellen Intifada" zum Ausdruck kommt, sehen viele deutsche Institutionen offenbar keinen Widerspruch darin, solche Werke zu fördern. Der Text kritisiert die Ignoranz gegenüber Antisemitismus im Kulturbetrieb, obwohl dieser sich selbst als progressiv und divers präsentiert. Der britische Comedian David Baddiel wird zitiert, um zu verdeutlichen, dass Antisemitismus in der Praxis oft ignoriert oder toleriert wird, während andere Diskriminierungsformen ernst genommen werden. Ein weiteres Beispiel ist die Autorin Mithu Sanyal, die trotz ihrer antisemitischen Äußerungen und Inhalte in den Medien weiterhin als progressive Stimme präsentiert wird. Der Artikel macht deutlich, dass der Antisemitismus in der Kunstszene zu einer Art kulturellem Code geworden ist, durch den sich Gleichgesinnte erkennen und solidarisieren können, was die gesellschaftliche Spaltung weiter vertieft. Insgesamt zeigt der Artikel auf, dass Antisemitismus oft ein zentraler Bestandteil der kulturellen Identität von Künstlern geworden ist, die sich als Teil einer globalen Linken verstehen. Die kritische Auseinandersetzung mit diesem Phänomen wird jedoch oft vermieden oder oberflächlich abgehandelt, während sich viele Künstler moralisch überlegen fühlen, indem sie Israel dämonisieren. (Dana von Suffrin, Spiegel)

Mir ist völlig unverständlich, was diese Leute antreibt. Wie kann man so blind für die eigenen Fellow Traveller sein? Kritik an Israel, gut und schön. Da gibt's genug zu kritisieren an der Regierungspolitik. Aber wie kann man ein denkender Mensch sein und Begriffe wie "kulturelle Intifada" benutzen? Ich finde ja schon dieses unter Linken gerade so populäre Gerede vom "Genozid" völlig unerträglich. Gleichzeitig bin ich nicht immer sicher, ob Antisemitismus der richtige Begriff ist oder ob nicht Antizionismus relevanter wäre. Da dann aber gerne Juden außerhalb Israels mit Israel gleichgesetzt werden, ist das wahrscheinlich auch egal. (Und nicht einmal alle in Israel lebenden Juden kann man damit gleichsetzen; wir hatten ja erst im Zusammenhang mit Haaretz thematisiert, dass das Land ja pluralistisch ist.) Insgesamt ist das echt ein Trauerspiel.

3) NDC 3.0 - The emissions path for China that will shape our planetary future.

China ist heute der größte Treiber globaler Emissionen und trägt mehr als 30 % zu den weltweiten Emissionen bei – doppelt so viel wie die USA. Seit dem Pariser Abkommen 2015 hat China 90 % des globalen CO2-Anstiegs verursacht. Chinas industrielle Entwicklung und die Urbanisierung haben zu einer massiven Zunahme des Energieverbrauchs geführt, der auf Kohle basiert. Obwohl China in den letzten Jahren erhebliche Fortschritte im Bereich erneuerbare Energien gemacht hat – 2023 wurden mehr Wind- und Solarkapazitäten installiert als in jedem anderen Land –, bleibt der Emissionsrückgang eine Herausforderung. Chinas Ziel, bis 2060 klimaneutral zu sein, ist von globaler Bedeutung. Trotz des jüngsten Rückgangs bei Kohlekraftwerken hat das Land in den Jahren 2022-2023 erneut Hunderte Gigawatt neue Kohlekraftwerke genehmigt, was das Ziel gefährdet. Dennoch könnten die aktuellen Entwicklungen in erneuerbare Energien und saubere Industrien einen Wendepunkt darstellen. Entscheidend wird sein, ob China seine Dekarbonisierungsziele bis 2025 anpasst und verstärkt umsetzt, um den globalen Temperaturanstieg auf 1,5°C zu begrenzen. (Adam Tooze, Chartbook)

Ich glaube immer noch, dass das Beste, was uns passieren kann, eine Art Systemwettbewerb bei der Bewältigung der Klimakrise ist. Wenn sich China zu einer oder der führenden Nation auf dem Feld von Dekarbonisierung und Verbreitung von Erneuerbaren entwickelt, und der Westen das als legitimatorische Herausforderung begreift, die unbedingt anzugehen ist (und noch wichtiger Länder wie Indien oder Brasilien), dann wäre viel gewonnen. Am Ende könnte eine verschärfte Rivalität dann mehr Positives bewirken als alle Klimaabkommen seit 1992. Das ist natürlich eine reichlich optimistische Sicht, und sein Vertrauen auf eine Diktatur wie China zu legen ist ein auf tönernen Füßen stehendes Vertrauen. Aber andererseits haben wir derzeit so wenig Grund zur Hoffnung, dass selbst diese Strohhalme positiv sind.

4) Don’t be seduced by the myths of the economic right

Der Artikel argumentiert, dass die politische Diskurslandschaft im Vereinigten Königreich weiterhin von marktwirtschaftlichen und konservativen Grundsätzen dominiert wird, sowohl bei den Konservativen als auch bei der Labour-Partei. Die Autoren des Pamphlets „Foundations: Why Britain has stagnated“ behaupten, dass die britische Elite die Probleme des Landes nicht verstehe und durch zu viele staatliche Eingriffe das Wirtschaftswachstum behindere. Sie schlagen vor, Hindernisse für Investitionen und Handel zu beseitigen und auf den freien Markt zu setzen. Der Text kritisiert diese Analyse als „Marktfundamentalismus“, der die bestehenden Probleme, wie die Privatisierung und Deregulierung, verschlimmert habe. Beispiele wie der mangelnde Ausbau der Infrastruktur, die Privatisierung des Wassermarktes und das Fehlen von Investitionen im Nuklearbereich verdeutlichen, dass diese Politik gescheitert sei. Labour, so wird weiter argumentiert, habe diese Ideen weitgehend übernommen, wodurch die Partei ihre Fähigkeit verloren habe, eine echte Alternative zur konservativen Politik zu bieten. Statt auf staatliche Investitionen zu setzen, folge Labour demselben deregulierten Ansatz, was die politische Dominanz der Rechten unterstreiche. (David Edgertin, The New Statesman)

Das ist immer das Problem, wenn es einen großen wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Konsens gibt. Die Fähigkeit, überhaupt in anderen Möglichkeitsräumen zu denken, geht verloren. Das war ja schon öfter so. Der klassische Liberalismus der 1920er Jahre konnte auf die Weltwirtschaftskrise nicht reagieren, obwohl praktisch alle Akteure seinen Anweisungen folgten. Entsprechend siegten allerorten diejenigen, die den Konsens in Frage stellten, ob das wie in den USA die demokratischen Democrats mit dem keynesianisch angehauchten New Deal, die antimodernistischen Totalitären in Sowjetunion oder Nazideutschland oder die imperialistischen Ultranationalisten wie in Japan waren. Und dreißig Jahre später war der nun dominante Keynesianismus nicht mehr in der Lage, Antworten zu geben, und wurde von einem neuen Konsens abgelöst, der zwar seit den 2010er Jahren spürbar nicht mehr in der Lage ist, Antworten zu geben, aber für den es bisher keinen überzeugenden Ersatz gibt.

5) The Phony Populism of Trump and Musk

Der Artikel beschreibt Donald Trumps Wahlkampfveranstaltungen als ein paradoxes Spektakel, bei dem ein reicher Mann, der insgeheim die arbeitende Bevölkerung verachtet, von diesen Menschen gefeiert wird. Trump und andere reiche Populisten, wie Elon Musk, nutzen ihre Bühne, um gegen vermeintliche Eliten zu wettern, obwohl sie selbst Teil dieser Elite sind. Der Begriff "Pluto-Populismus" beschreibt diese Taktik: Wohlhabende Individuen geben vor, das Volk zu repräsentieren, während sie in Wirklichkeit ihre eigene Macht und ihren Reichtum sichern wollen. Diese populistischen Bewegungen zielen auf wohlhabende Wähler ab, die sich sozial benachteiligt fühlen und Rache an vermeintlichen Feinden wollen. In Wahrheit profitieren die Anführer wie Trump und Musk von diesen Bewegungen, während das Leben ihrer Anhänger sich kaum verbessert. Der Artikel warnt, dass autoritäre Regierungen, die von solchen Figuren unterstützt werden, letztlich die Freiheiten der Bürger einschränken und das Land in eine „Diener-Gesellschaft“ verwandeln, in der das Volk den Mächtigen dient. (Tom Nichols, The Atlantic)

Das ist auch so eine Konstante aller dieser Populisten von Orban über Farage zu Le Pen hin zu Trump: die Schicht, für die sie zu sprechen vorgeben, ist nie die, aus der sie selbst stammen, und sehr häufig auch nicht die, aus der sich ihre Anhänger*innenschaft rekrutiert. Das liegt natürlich viel daran, dass es üblicherweise so ist, dass die tatsächlich Abgehängten politisch kaum mobilisierbar sind. Mobilisiert werden diejenigen, die fürchten, abgehängt zu werden. Das erklärt auch die für viele Linke so unerklärliche Gegnerschaft dieser Leute zum Sozialstaat: sie sind (noch) nicht von ihm abhängig, hoffen, es nie zu sein und schauen auf diejenigen herab, die es sind. Auch, dass Milliardäre sich hier zum Vorkämpfer gegen "die Eliten" machen, während sie gleichzeitig in Golfclubs und in Davos herumhängen, ist kein großes Mysterium: es geht nicht um Glaubwürdigkeit, sondern darum, einen Champion zu bekommen. Das wissen wir seit 2016: dass Trump ein Superreicher ist, der Lobbyismus betreibt ohne Ende, war nie ein Geheimnis. Vielmehr war der Eindruck wichtig, dass er diesen Lobbyismus in den Dienst seiner Anhänger*innenschaft stellen würde. Daran hat sich in acht Jahren nichts geändert. Warum auch?

Resterampe

a) Guter Ted-Talk zu Fleischkonsum.

b) Gute Ausgabe vom Siebten Tag.

c) Use credit cards, not payments apps. Hier in Deutschland sowieso noch mal seine eigene Diskussion. Aber ja gerne mehr Regulierung. Aber Paypal will ich nicht missen.

d) Sehr guter Austausch, der mal wieder das Beste an Twitter zeigt.

e) Richtige Erkenntnis, nur...was folgt?

f) Dafür gibt es halt auch echt keine Rechtfertigung.

g) Thüringen: CDU, BSW und SPD können sich zunächst nicht auf Wagenknechts Forderungen zu Krieg und Frieden einigen. Merkwürdige Formulierung. "Forderungen zu Krieg und Frieden".

h) “Megalopolis” and “Joker: Folie à Deux”; or, The Virtue of Burning Money.

i) Auf Behörden kann man sich verlassen… Echt furchtbar, das ist so eine Fehlentscheidung.

j) Einreiseverbot für Greta Thunberg? Eine bemerkenswert illiberale Forderung. Lob für Anna Schneider; sehr konsequent.

k) What is the pro-Palestinian argument?

l) What Went Wrong at Blizzard Entertainment

m) Zum Thema linker Antisemitismus.

n) Sechs Schlussfolgerungen aus der Weidel-Wagenknecht-Debatte. Nichts davon ist überraschend.

o) Trumps Lügen sind wirklich krass. Weitere Beispiele. Und noch mehr. Und die NYT schießt mal wieder den Vogel ab.

p) Darf man ruhig auch feststellen.

q) Echt beeindruckend.

r) Homophobie im Fußball. Guter Punkt dazu.

s) Normalisierung devianten Verhaltens.

t) Zum Begriff des Konservativen.

u) Zum Interregnum.

v) Mir fallen weniger Attacken auf Trump ein, die weniger wirkungsvoll sein dürften.

w) Ok, krass.

x) Eine konstruktive Kritik von Lindners Privatrentenvorschlägen.


Fertiggestellt am 12.10.2024

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