Freitag, 5. Juli 2019

Die Europawahl - europäisch betrachtet

In meinem ersten Artikel zur Europa-Wahl hatte ich mich auf die deutsche Perspektive beschränkt. Ich möchte nun einen etwas weiter gefassten Blick nachreichen. Ich möchte mich dazu im Folgenden mit der neuen Zusammensetzung des Parlaments und den sich daraus ergebenden Veränderungen für die EU-Politik, der Personaldebatte um die europäische Spitzenpositionen und einem Blick auf die innenpolitischen Verschiebungen einiger ausgewählter Staaten beschäftigen. Ich versuche, mich dabei auf jene Bereiche zu beschränken, von denen ich einigermaßen zuversichtlich bin fundierte Meinungen beitragen zu können; die Auswahl ist daher keine Reflektion von Wichtigkeit, sondern meiner persönlichen Grenzen. Damit genug der Vorrede, los geht's.

Beginnen wir mit dem eigentlichen Wahlergebnis. Die erste Merkwürdigkeit ist natürlich die Teilnahme Großbritanniens, die die Stimmengewichte durch die Zahl der Abgeordneten verschiebt, was sehr wichtig wird, wenn der Brexit im Oktober wirklich kommt und diese Abgeordneten dann das Parlament verlassen. So sind die Labour-Abgeordneten aktuell ein nicht zu unterschätzender Machtfaktor für die S&D, während die EVP keinerlei Abgeordnete aus dem Königreich in ihren Reihen weiß. Umgekehrt haben die Europaskeptiker mit den Tories und die Europagegner mit der neuen Brexit-Partei gleich zwei britische Bestandteile von erheblicher Größe, ebenso die ALDE. Dadurch gewinnen im EP durch einen Brexit die EVP, die Grünen und die Linke an Einfluss, während die Genannten eher verlieren.

Auffällig ist zudem, dass die klassische "große Koalition" der christdemokratischen und sozialdemokratischen Parteien keine eigene Mehrheit mehr zustandebringt und nun auf die Hilfe der Grünen und/oder Liberalen angewiesen ist, eine Entwicklung, die wir in vielen europäischen Ländern seit Längerem beobachten können. Grüne und Liberale sind zudem stärker als früher. Die Grünen profitierten zwar bei weitem nicht so stark wie in Deutschland von der neuen Klimasensibilität, konnten ihren Anteil aber steigern, während die Liberalen besonders durch den Einzug von Macrons Parteigenossen an Gewicht zulegen konnte und bei EU-Reformvorhaben eine wesentlich bedeutendere Rolle als ehedem spielen dürfte.

Insgesamt ist zu sehen, dass die Parteien ihre Abstände zueinander verringern. Liberale, Grüne und Rechte werden größer, EVP und S&D kleiner. Eine Konsolidierung findet statt, womit sich die Gewichte bei der Mehrheitsfindung verschieben. Positiv zu bemerken ist außerdem, dass die Wahlbeteiligung europaweit - wenngleich mit enormen Unterschieden - zugenommen hat. Der leichte Trend zu einer Europäisierung der europäischen Politik scheint sich fortzusetzen.

Insgesamt aber ändert sich an der fachpolitischen Ausrichtung des EP wenig. Der Konsens zum Freihandel hat durch rechtspopulistische Zugewinne zwar eingebüßt - von etwa 70% der Abgeordneten auf 65% -, bleibt aber deutlich bestehen, so dass hier keine grundsätzliche Neuausrichtung zu erwarten ist und nicht einmal sonderlich viele Detailänderungen. Umgekehrt ist nicht mit einem neuen Schwung beim Klimaschutz zu rechnen, weil die Zugewinne der Grünen durch Verluste der Nordlinken (die mit deren Grünen eine Fraktionsgemeinschaft bilden) praktisch aufgehoben werden. Es bleibt abzuwarten, ob das hervorgehobene Profil der Klimapolitik sich über den Sommer halten und dann ins EP zurückwirken wird. Aktuell jedenfalls spielt das Thema keine große Rolle.

Damit können wir zum Kampf um die Postenvergabe zurückkehren. Bestand 2014 noch Einigkeit, dass die von den europäischen Parteien aufgestellten Spitzenkandidaten Juncker und Schulz die einzig annehmbaren Alternativen für das Amt des Kommissionspräsidenten waren, so ging dies den diesjährigen Spitzenkandidaten Weber und Timmermanns nicht so.

Dies hat mehrere Grüne, die gleich erörtert werden sollen, aber vorweg eine andere Feststellung: obwohl die von den Parteien bestimmten Kandidaten nicht gewählt wurden und damit ein relativer Machtverlust des EP einhergeht, ist der Präzedenzfall von 2014 nicht ungeschehen gemacht worden. Der Prärogativ des Parlaments, Kandidaten zu benennen, die erstrangig behandelt werden, wurde nicht angetastet. Stattdessen wurde die informelle Setzung neuen EU-Verfassungsrechts von 2014 (Legitimierung der Kommissionspräsidenten durch die Wahl des EP) bestätigt und um einen wichtigen Faktor ergänzt: was passiert, wenn die Kandidaten des EP keine Mehrheit finden?

Diese Frage wurde nun beantwortet: in dem Fall einigen sich die Institutionen auf alternative Kandidaten, deren Wahl ultimativ beim Parlament liegt. Dieses verteidigt so seine Prärogative, lädt aber Rat und Kommission ein, gegebenenfalls Kompromisskandidaten bereitzustellen.

Das ist natürlich eine rosige Sichtweise, die sich aus der Betrachtung konsitutioneller Verhältnisse ergibt. Für die beteiligten Institutionen ist das Ergebnis nicht so gut und stellt erst einmal eine Niederlage der EVP und S&D sowie des Parlaments als Ganzem dar. Worin also liegen die Ursachen dieser Niederlage?

Ein wichtiger Teil der Antwort liegt im oben beschriebenen Wahlergebnis. EVP und S&D waren arrogant genug anzunehmen, dass ihre informelle Große Koalition sie wie 2014 zum Sieg tragen würde. Die Aufstellung von zwei weiteren Kandidaten durch die Grünen und die ALDE zeigten dabei aber bereits an, dass es im Gebälk knirschte. Das EP hätte sich als Institution hier wesentlich früher auf gemeinsame Listenkandidaten einigen müssen, oder wenigstens eine Art Präferenzverfahren vereinbaren. Das hätte allerdings erfordert, die diffizilen (weil Parteiflügel und Nationengrenzen überspannenden) Aushandlungsprozesse innerhalb von S&D und EVP auch noch für die Grünen und die ALDE zu öffnen.

Das Resultat war so, dass S&D und EVP sich auf Kandidaten einigten, die zwar innerhalb der Partei Kompromisskandidaten waren, die aber - in merklichem Gegensatz zu Schulz und Juncker - nicht über eine große Verankerung in den EU-Institutionen verfügten. Diese mangelnde Verankerung zeigte sich dann in der Unfähigkeit des ostentativen Wahlsiegers Weber, eine Mehrheit im Parlament zusammenzubekommen (die Juncker und Schulz bereits VOR ihrer Wahl gesichert hatten), ein Effekt, der dann auch Timmermanns erfolglosen Koalitionsbildungsversuch begleitete. Dadurch öffnete sich die Tür für den Europäischen Rat, eigene Kompromisskandidaten vorzuschlagen und ultimativ durchzusetzen. Für das Europäische Parlament dürfte damit klar sein, dass eine Aushöhlung der 2014 mühsam erkämpften Prärogative nur möglich ist, indem die Institution zusammensteht und ihre Rechte parteiübergreifend gegen Rat und Kommission verteidigt - was dezidierte Europapolitiker benötigt. So oder so bleibt es spannend.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Hinweis: Nur ein Mitglied dieses Blogs kann Kommentare posten.