Samstag, 25. April 2020

Merkel und ich

Als Angela Merkel 2005 zum ersten Mal Bundeskanzlerin wurde, gehörte ich nicht eben zum Kreis ihrer Fans. Binnen kürzester Zeit wandelte sich das zu einer ausgeprägten Antipathie. Als ich im Juni 2006 zu bloggen anfing, war ich auf scharfem Linkskurs und ein eingeschworener Gegner der großen Koalition. Heute sehe ich mich immer wieder in der Rolle, Merkel vor ihren Kritikern in Schutz nehmen zu müssen. Bei der CDU habe ich trotz allem noch nie mein Kreuz gemacht, noch plane ich, das in der Zukunft zu tun. Woher also dieser Wandel in der Wahrnehmung? Habe ich mich verändert oder Merkel? Oder wir beide?

Obwohl ich Merkel zwischen 2005 und 2009 sicherlich nicht besonder schätzte, lag durch die gesamte erste Amtszeit der Fokus nicht so sehr auf ihrer Person, abgesehen vielleicht von meinem T-Shirt "Nicht meine Kanzlerin". Was man halt so trägt als linksgerichteter Student. Meine Beurteilung der Kanzlerin selbst deckte sich mit der Volker Pispers', der angesichts der damals recht positiven Berichterstattung über die Kanzlerin, die ihren Job gut mache, verzweifelt fragte: "Ja, was macht sie denn?"

Merkel pflegte bereits damals einen Regierungsstil des Über-den-Dingen-Schwebens. Sie überließ es ihrer Ministerriege, die Frontstellung im Rampenlicht zu füllen. Damit ist sie sicher gut gefahren. Meine Hassfigur in jenen Tagen war nicht die Kanzlerin. Diese Rolle kam solchen Bösewichten wie dem damaligen Innenminister Wolfang Schäuble ("Stasi 2.0", ich hatte das T-Shirt) zu, der auf jede Forderung nach einem weitreichenden Umbau des Grundgesetzes noch die Abschaffung eines weiteren Grundrechts hinzuzufügen wusste. Oder Wirtschaftsminister Wolfgang Clement, der mit einzigartiger Empathie die Hartz-IV-Reformen zu verteidigen wusste. Franz Müntefering, der gegen erbitterten Widerstand die Rente mit 67 durchsetzte. Aber nicht Merkel. Die war höchstens die, die solchen Schreckensgestalten politische Deckung gab, aber sie schien kaum selbst etwas leisten zu können.

Wie gesagt, das war politisch gesehen clever. Ein potenzieller Konkurrent nach dem anderen exponierte sich und brannte aus. Ob Friedrich Merz, ob Roland Koch, ob Christian Wulff, ob Günther Oettinger, die ganze Riege des Andenpakts und einige Affiliierte fielen sich selbst und Merkels Stoizismus zum Opfer. Es gab nur wenige, die ihnen nachweinten. An ihre Stelle rückte eine neue Generation von CDU-Politikern. Mir war das damals recht gleich. Einer aus der Riege schien so schlimm wie der andere.

Ich war damals fest im Camp der LINKEn. Die anderen waren die neoliberalen Systemparteien, und gegen die Große Koalition tauchte damals eine Bedrohung am Horizont auf, gegen die die Reformpolitik von Rot-Grün und Merkel I wie ein laues Lüftchen schien. Es war die Riege von Guido Westerwelle, Philipp Rößler und Dirk Niebel, die ihre Zeit gekommen sahen, den Betriebsunfall von 2005 beseitigen und dem Leipziger Parteitag der CDU nachträglich zur Geltung helfen wollten. Allein, es kam anders. Für mich war die Schwarz-Gelbe Koalition 2009 bis 2013 eine entscheidende Weichenstellung; ich habe darüber geschrieben.

Merkel wurde nicht zur Totengräberin des Sozialstaats, wie wir damals befürchteten (und andere hofften). Stattdessen präsidierte sie mit ihrer CDU über seine größte Ausdehnung seit mindestens 1995. Generell aber übernahm die FDP in Merkel II die Rolle, die in Merkel I die SPD gespielt hatte und machte freiwillig den Blitzableiter für den meisten Unsinn, der passierte. Das fing ja schon mit Westerwelles "Hier wird Deutsch gesprochen!" auf der ersten Pressekonferenz an und ging über seine "spätrömische Dekadenz" zu Dirk Niebels Irrlichtereien weiter. Dazu waren sie die Blitzableiter in der Euro-Krise (zusammen mit Wolfgang Schäuble). Erneut schwebte Merkel über den Dingen und taugte wenig zur Hassfigur. Und für ihren Atomausstiegsausstiegausstieg konnte ich sie als Progressiver auch kaum kritisieren. Kurz: Diese Koalition war ein Volldesaster in fast jeder Hinsicht. Die Quittung kam 2013; die FDP flog aus dem Bundestag, und die CDU errang beinahe die absolute Mehrheit.

Ich erinnere mich noch, dass ich 2013 der Überzeugung war, diese absolute Mehrheit wäre eigentlich gut gewesen. Gut für die demokratische Kultur in Deutschland. Das zeigt einen weiteren Wandel in meiner Einstellung an, vor allem zur CDU als Ganzes. Weder 2005 noch 2009 hätte ich es als möglich erachtet, dass eine Alleinherrschaft der Schwarzen irgendetwas als den Untergang, das Abrutschen in die absolute Diktatur bringen könnte. 2013 war ich indifferent; es war die für mich indifferenteste Bundestagswahl aller Zeiten. Wer gewinnt, schien total Hupe zu sein. Vier weitere Jahre Merkel? Sowieso. Wer ihr Juniorpartner dieses Mal sein würde, war in etwa so spannend Fußball (ich möchte daran erinnern, dass ich zur WM 2014 kein einziges Spiel gesehen habe...).

Der Grund dafür liegt in dem, was ich in meinem Artikel zur Wandlung weg von der Linken auch beschrieben habe. Merkel taugte einfach nicht zum Feindbild, und ihre CDU auch nicht. Wie viele andere erwartete ich 2009 eine radikale neoliberale Regierung, die die Axt an alles legen würde, was mir lieb und teuer war. Nichts davon passierte. Das Leben ging weiter. Es war harmlos.

Diese Harmlosigkeit verkörpert Angela Merkel. Man denke nur zurück an den Moment, in dem sie den Bundestagswahlkampf 2013 im Alleingang entschied. Es war das TV-Duell gegen Peer Steinbrück (Peer Steinbrück! Allein die Idee, er könne Merkel gefährlich werden!), als sie in ihrem Schlussplädoyer die Eiserne Raute formte und direkt in die Kamera sprach: "Sie kennen mich." Das war es. Diese drei Worte definierten im Endeffekt die Wahlkampfbotschaft 2013, und man konnte nur vor dem Fernseher nicken. Jupp, tue ich. Und auch wenn meine Begeisterung mit "lauwarm" geradezu euphorisch verkleidet ist, so habe ich doch, anders als 2009, auch keine negativen Gefühle mehr. Es ist halt einfach. Business as usual. Life goes on.

Mir wäre in dieser Zeit trotzdem nicht in den Sinn gekommen, Merkel zu verteidigen. Auch in ihrer dritten Amtszeit war sie mir politisch viel zu fern.  Aber es ist bemerkenswert, dass es mit 2013 letztlich egal war, ob sie diese antreten würde oder nicht. Ich denke, das hat zwei Gründe.

Zum einen liegt das am Mangel an einer Alternative. War ich zufrieden mit Merkels Politik? Sicher nicht. Erwartete ich mir aus anderer Quelle etwas Besseres? Sicher auch nicht. Peer Steinbrück und Sigmar Gabriel waren weder politisch besonders ansprechend (oder persönlich), noch hatten sie auch nur die Chance eines Schneeballs in der Hölle, das Kanzleramt je anders denn als Besucher zu sehen. Meine zunehmende Distanzierung von der LINKEn tat ihr Übriges. Das Land tuckerte langsam vor sich hin. Eine glaubhafte, für mich ansprechende Alternative war nicht in Sicht. Ich ergab mich in das Schicksal Merkel.

Zum anderen liegt das an ihrer Politik selbst. Es ist glaube ich müßig darüber zu spekulieren, ob Merkel einfach einen politischen Lern- und Wandlungsprozess vollzogen hat, der zu ihren Positionsänderungen führte, oder ob sie nach aktueller Demoskopie regierte. Das wird sich nie abschließend klären lassen. Vielleicht fällt auch beides zusammen. Fakt aber ist, dass selten jemand dermaßen aus der Mitte heraus regierte wie Merkel. Fand sie sich jemals nicht in der Mitte, änderte sie ihre Politik entsprechend. Anders als 2005 und 2009 konnte man 2013 kaum mehr befürchten, dass sie die Republik in eine neoliberale Dystopie mitverwandeln würde; im Zweifelsfall einfach nur aus Apathie heraus. Pisper's Wort von "was macht sie denn?" behielt Gültigkeit. Aus Sicht eines eher linksliberal orientierten Beobachters war das wohl das Beste, was von der CDU zu erhoffen war. Stand 2013 bestand Merkels einzig kontroverse Entscheidung im Atomausstiegsausstiegausstieg, und das war kaum etwas, das einen progressiven Kritiker wie mich auf die Barrikaden bringen dürfte. Bezeichnenderweise geschah diese eine kontroverse Entscheidung Merkels im Rahmen einer medial breit rezipierten Katastrophe, in diesem Fall dem Reaktorunfall von Fukushima. Rückblickend konnte man das als Fanal ansehen.

Aber 2013 war kaum abzusehen, dass die Flüchtlinge das beherrschende Thema werden würden. Sigmar Gabriel hatte sich in einer spektakulären strategischen Fehleinschätzung das Wirtschaftsministerium ja deswegen geschnappt, weil er davon ausging, dass der Ausbau der erneuerbaren Energiequellen und der weitreichende Umbau des deutschen Energiemarkts das beherrschende Thema der Legislaturperiode sein würde. Nicht umsonst ließ er sich auf einer Reise nach Grönland mit der Kanzlerin fotographieren; telegener als Merkel auszusehen ist nun wahrlich nicht schwer. Die Abwicklung der Eurokrise überließ man gerne Bad Boy Schäuble, der alle weitergehenden Ambitionen mittlerweile beerdigt hatte und für niemanden mehr eine Gefahr darstellte. Als das schicksalhafte Jahr 2015 begann, war das beherrschende Thema einmal mehr Griechenland. Alexis Tsipras hatte die Wahl gewonnen und sagte "Oxi."

Dann kam das Jahr 2015. Wie Millionen anderer Deutscher auch empfand ich tiefe Anteilnahme und Solidarität gegenüber den Flüchtlingen. Merkels Entscheidung, rund eine Million dieser Menschen aufzunehmen, unterstützte ich (und tue das heute noch) aus ganzem Herzen. Zum ersten Mal fühlte ich mich mit ihr auf einer Wellenlänge.

Man kann nicht behaupten, dass der Doppelschlag von 2016 - Brexit und die Wahl Trumps - mich in irgendeiner Weise aufgeschlossener gegenüber der zunehmenden Kritik von rechts an ihrer Person gemacht hätten. Merkel ließ von Anfang an wenig Zweifel an ihrer Antipathie zu Trump und all den anderen rechtspopulistischen Machogestalten, eine Haltung, die angesichts meiner eigenen Evolution zu dieser Frage umso hervorstechender war.

Der endgültige und bisher letzte Anstoß für einen Wandel meiner Haltung zu Merkel von der wohlwollenden Indifferenz hin zu einer widerwilligen Verteidigungshaltung erfolgte um 2017 mit dem Aufstieg der AfD. Die völlig maßlose Fokussierung auf das Flüchtlingsthema in den Medien, die zunehmende Aggressivität, die sich gegen die Person Merkel spezifisch entlud und vor allem die deutliche Bedrohung, die von rechts auf die Demokratie unleugbar seit spätestens 2016 einwirkte.

Und das ist denke ich der entscheidende Punkt, der mich dazu bringt, inzwischen in einer (eher realitätsfernen) fünften Amtszeit Merkel ein Netto-Gut statt eines Schadens zu erkennen. Bisher sah ich in ihr vor allem eine Bremse für eine Politik, wie ich sie bevorzugen würde; ihre brillante Strategie hatte - sicher unter Ausnutzung diverser struktureller Faktoren, die an dieser Stelle keine Beachtung finden können - alle potenziellen Gegner neutralisiert. Alle, bis auf einen.

Und dieser eine erhob sein widerwärtiges Haupt mit voller Gewalt vor allem seit 2017 und wollte es bis zum Ausbruch der aktuellen Corona-Krise auch nicht wieder senken. Der Rechtspopulismus war im Aufwind, in der ganzen westlichen Welt und darüber hinaus. Und seine Gefahr für mich und mein ganzes Leben ist real, wesentlich realer, als es die Gefahr durch Merkel und Westerwelle je gewesen sind. Und das Problem bleibt bestehen: eine Alternative ist nicht wirklich in Sicht.

Denn alles, was nach Merkel kommt, kann aus meiner Sicht nur schlimmer werden. Man sieht das an dem kurzen Intermezzo mit ihrer handverlesenen Nachfolgerin Annegret Kramp-Karrenbauer, die bereits für eine deutliche Neuorientierung der CDU nach rechts stand (nicht, dass an der grundsätzliche Mitte-Rechts-Haltung der Partei und Merkels ein großer Zweifel bestanden hätte; man muss sich nur ihre Haltung zur Homo-Ehe oder zur Wirtschaftspolitik ansehen). Und AKK errang ihren Posten nur äußerst knapp gegen den Politrentner Friedrich Merz, der sich anschickt, genau jene Politik wieder aus der Jauchegrube herauszubuddeln, die spätestens mit dem Scheitern der schwarz-gelben Koalition nach 2009 endgültig erledigt schien - und die in weiten Teilen sogar darüber hinaus geht.

In dieses Bild fügt sich die Gründung der so genannten "Werte-Union" - erneut völlig über Gebühr gehypt und groß gemacht - ebenso ein wie der Skandal um Hans-Georg Maaßen, einen der schlimmsten Verfassungsschutzpräsidenten aller Zeiten in einem Amt, das an Fehlbesetzungen und Desastern nicht eben arm ist. Wie könnte ich als jemand, der eher progressiv veranlagt ist, einer Zeit nach Merkel aktuell optimistisch entgegensehen? Alles, was ihr nachfolgt, ist aus meiner Perspektive schlimmer.

Denn auch wenn Merkel nie in Gefahr war, einen SPD-Mitgliedsantrag zu stellen, so hat sie doch die lange verschleppte Modernisierung ihrer Partei auf vielen Feldern vorangetrieben oder sich ihr wenigstens nicht in den Weg gestellt. Die CDU ist heute kein Hindernis mehr für Gleichberechtigung, ob zwischen den Geschlechtern, Ethnien oder sexuellen Orientierungen. Das ist vor allem ihr Verdienst, und ihre Kritiker werden es ihr nie verzeihen und nicht ruhen, ehe sie es so weit als möglich rückgängig machen können. Warum also sollte ich wollen, dass Merkel das Kanzleramt räumt?

Denn das andere Problem bleibt unausgeräumt. Was wäre die Alternative? Ein CDU-Kanzler, der die Partei rechter positioniert, als sie es aktuell ist, und aus Gründen der aktuellen Parteistruktur praktisch garantiert die Machtstellung innehaben wird, ob mit Jamaika, ob mit Schwarz-Grün oder gar mit Schwarz-Blau. Mein Vertrauen darin, dass ein CDU-Vorsitzender Merz nicht mit der AfD zusammenarbeiten würde, reicht gerade so weit, wie ich ihn werfen kann.

Und selbst wenn wir das bestmögliche Ergebnis (aus progressiver Sicht) annehmen, eine Mehrheit für Grün-Rot-Rot - wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass eine nun oppositionäre CDU nicht sofort einen scharfen Rechtsruck hinlegt und sich der AfD annähert, mithin der größten Gefahr für die deutsche Demokratie seit 1933? Die Ereignisse aus Thüringen zum Jahreswechsel 2019/20 etwa lassen genauso wenig Hoffnung aufkommen wie die Probleme in Sachsen - und die Positionierung der dortigen CDU.

Nein. Merkels Zeit ist aller Wahrscheinlichkeit nach abgelaufen, aber ich kann mit wenig Hoffnung auf eine Zeit nach ihr zurückblicken. Das liegt wahrlich nicht daran, dass ich ein großer Fan ihrer Politik wäre. Zu sehr ist sie für meine Präferenzen ein Blocker, Verhinderer, Verzögerer. Zu sehr vertritt sie gegensätzliche Positionen. Ich kann mit ihr nur leben, das ist letztlich alles.

Die weltweiten Ereignisse seit 2016 haben mir aber eine neue Wertschätzung dafür verschafft, was es heißt, mit einer ideologisch entgegengesetzten Regierung leben zu können. Ich könnte nicht mit einer Trump-Regierung leben, lebte ich in den USA. In meinen Augen vergisst die aktuelle Debatte gerne, welchen Wert es darstellt, dieses Problem in Deutschland nicht zu haben. Und das ist, im Guten wie im Schlechten, Teil des Phänomens Merkel. Und erklärt vielleicht, warum sie ausgerechnet bei einem konservativer Grundhaltungen wenig verdächtigen Menschen wie mir in diesen Tagen einen widerwilligen Verteidiger findet.

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