Montag, 28. September 2020

Wenn Identitätspolitik in die Schule umschlägt

 

Im Jahr 2019 veröffentlichte die New York Times ein gewaltiges Essay-Projekt verschiedenster Autoren mit aktivistischem, wissenschaftlichem und journalistischem Hintergrund. Der Name des Projekts war schlicht "1619", und die Essays wurden durch eine einzige, große thematische Linie verbunden: Dass die Geschichte der Vereinigten Staaten von Amerika nicht mit der Unabhängigkeitserklärung von 1776 oder den Unruhen in den Jahren zuvor beginnt, sondern vielmehr im Jahr 1619, mit der Ankunft der ersten Sklaven in der Neuen Welt. Das Projekt wurde in der progressiven Seite des Spektrums mit viel Enthusiasmus aufgenommen und fand, in der polarisierten Gesellschaft der gegenwärtigen USA, wenig überraschend kaum Gegenliebe oder auch nur Rezeption im eher konservativen Spektrum. Dies hat sich geändert; die unerbittliche Dynamik der Identitätspolitik hat dafür gesorgt, dass das 1619-Projekt nun zu einem Glaubenssatz der Rechten geworden ist. Ungewöhnlicherweise hat dieser Streit allerdings seinen Weg in die Schulen gefunden - wo er nun wirklich gar nichts verloren hat.

Die Geschichte der Geschichte

Um zu verstehen, was hierbei genau abgelaufen ist, müssen wir zuerst noch einmal etwas tiefer die Wurzeln des Projekts untersuchen und seine Umdeutung im Kampf der Parteien betrachten. Ideengeschichtlich lässt sich das Projekt in das Umfeld der Black-Lives-Matter-Proteste einordnen, in den Versuch, Afroamerikaner und ihre Geschichte sichtbarer zu machen. Solche Versuche sind nicht neu; seit 1926 (!) feiert das Land etwa jeden Jahr den "black history month", der sich spezifisch der Sichtbarmachung schwarzer Geschichte widmet. Der Erfolg ist bislang eher überschaubar, der Einfluss auf die Curricula eher gering. Wenig überraschend fand das 1619-Projekt begeisterte Rezeption im progressivem Spektrum. Zwar gab es auch kritische Stimmen, aber ein Großteil der Kritik befasste sich weniger mit dem Projekt an sich, sondern einzelnen Essays oder auch nur Teilen dieser Essays. Das war von den Machern auch durchaus intendiert; letztlich handelt es sich, ähnlich dem deutschen "Historikerstreit" der 1980er Jahre, um eine große, öffentliche Debatte von herausgehobenen WissenschaftlerInnen. Eine Weile lang wurde das Für und Wider in den Leitmedien diskutiert, wurden einzelne Interpretationsstreitpunkte hervorgehoben, wurde die schiere Existenz des Projekts gefeiert. Dann verschwand es, angesichts der sehr realen Proteste um den Tod George Floyds, die ausbrechende Covid-19-Pandemie und die generelle Schrecklichkeit von Trumps Regierung wieder vom Radar. Doch seit dem Spätsommer 2020 erlebt das Projekt eine zweite Welle von öffentlicher Aufmerksamkeit, dieses Mal allerdings aus der Gegenrichtung. Für die Republicans war "1619" eine wirkungsvolle Chiffre, um ihre eigene Anhängerschaft zu mobilisieren. Es ist vermutlich nicht übermäßig verwegen anzunehmen, dass praktisch kein Trump-Fan diese Essays gelesen hat (ich würde vermuten, dass die meisten progressiven Fans sie auch nicht gelesen haben, aber das nur am Rande). Entsprechend fruchtbar ist dieser Boden zum Setzen eines eigenen Narrativs. So behaupten republikanische Politiker, FOX-Talkshowhosts und Talk-Radio-Moderatoren etwa, das 1619-Projekt erkläre, dass heute noch Sklaverei in den USA existiere oder dass die USA zerstört werden müssten und was der Hass-Propaganda nicht mehr ist. Das ist natürlich alles Quatsch, aber überprüfen wird das ohnehin niemand. Und es interessiert auch kaum. Soweit, so normal. Ich glaube, die wenigsten Progressiven haben sich je die Mühe gemacht, die Artikel Eric Ericksons tatsächlich zu lesen oder mehr FOX News zu schauen als die Ausschnitte aus den Late-Night-Comedy-Shows präsentieren, von daher ist das nichts Neues unter der Sonne. Der relevante Aspekt für mich ist viel mehr, dass der identitätspolitische Wettkampf um das 1619-Projekt in den Bildungssektor hinübergeschwappt ist - und dort hat er schlicht nichts zu suchen.

It's the institutions, stupid

Bedauerlicherweise kommt man nicht umhin festzustellen, dass es die Progressiven waren, die hier den ersten Stein warfen. Oder den ersten Schuss abfeuerten. Oder das erste Curriculum schrieben. Welche Ausdrucksweise man hier auch immer bevorzugen möchte. Im Januar 2020 hatten die Schuldistrikte von Chicago, Washington, D.C., und Buffalo (NY) den Unterricht von "1619" in ihren Curricula verankert. Für solche Entscheidungen ist in den USA, die eine lange Tradition basisdemokratischer Gremien haben, das so genannte "school board" zuständig, eine Art Gemeinderat für Schulen, der aus gewählten VertreterInnen und Experten besteht. Diese school boards treffen viele der Entscheidungen, für die bei uns das Kultusministerium zuständig wäre. Da sie zu einem Großteil gewählt sind, bilden sie in ihrer Zusammensetzung die politisch aktive Bevölkerung ab. Ich sage hier bewusst nicht "die Bevölkerung"; die Wahlbeteiligung bei solchen Wahlen erreicht regelmäßig keine zweistelligen Werte, und das Engagement in einem school board erfordert sehr viel Zeit. Traditionell bestimmten daher weiße Frauen der oberen Mittelschicht die Geschicke der school boards, weswegen diese bislang eher strukturkonservative Institutionen waren. Mit schöner Regelmäßigkeit zensierten sie Bücher für den Gebrauch an Schulen - darunter sehr viele Klassiker amerikanischer Literatur - und bestimmten darüber, welche Schulbücher genutzt wurden. Die Verbreitung zahlreicher evolutionsleugnender Biologiebücher in den Südstaaten etwa ist eine direkte Folge der republikanischen Dominanz in den school boards. Die Arbeit dieser Institutionen ist sehr örtlich begrenzt, weswegen sie meist nicht über die Lokalpresse hinauskommen. Es ist eine klassisch konservative Einrichtung: so nahe wie möglich an den Leuten, die sie betrifft, ihnen direkt verantwortlich, staatliche Funktionen auf Freiwillige auslagernd. Entsprechend verteidigten Konservative diese Institutionen stets gegen den Einfluss der Bundesbehörden, über die Progressive gerne versuchen, die Schulen zu reformieren. Die große Verantwortung und Machtfülle bei gleichzeitigem Amateurstatus garantiert, dass niemand, der einer Vollzeitstelle nachgeht, vernünftig in solchen Gremien engagiert sein kann; es ist ein klassisches Caritas-Anliegen. Bei Schulthemen bedeutet dies zwangsläufig: Hausfrauen mit Kindern aus der oberen Mittelschicht, denn nur sie haben die Freizeit dafür. Und bis 2016 waren sie überwältigend konservativ. Nur, seither ist Donald Trump Präsident, und in der Revolution in den Vorstädten eines der größten Realignments seit den 1980er Jahren ist auf dem Weg. Weiße Mittelschichtenfrauen aus den wohlhabenden Vorstädten wählen inzwischen mehrheitlich Democrats. Damit gibt es plötzlich statt rechtsradikaler eben auch linksradikale school boards. Und diese verankern eben statt der Bibel plötzlich das 1619-Projekt im Curriculum. Nicht, dass das eine oder das andere dorthin gehören würde.

Linker Kulturkampf im Klassenzimmer

Ich habe kein Problem damit, wenn etwa eine Geschichtslehrkraft das 1619-Projekt zum Thema macht und die SchülerInnen eine informierte Position pro oder contra dazu ausarbeiten lässt. Es ist hervorragend geeignet, um im Einklang mit den Prinzipien des Beutelsbacher Konsens' die Setzung von Narrativen in der Geschichte und generell die Bewertungskompetenz zu üben. Nur, das machen die nicht. Stattdessen wird das Unterrichten des kompletten Projekts aufs Curriculum gesetzt. Und mit Verlaub, das ist Unfug. Erstens ist das Projekt dafür viel zu umfangreich, das geht also nur zu Lasten anderer Inhalte oder extrem verkürzt und oberflächlich. Zweitens ist das Projekt selbst eine einzige These, ein Versuch, ein Narrativ zu setzen. Anerkannte historische Weisheit ist es sicher nicht. Hier wird im Endeffekt versucht, Geschichtspolitik zu machen. Und das kann man in der öffentlichen Debatte versuchen (Stichwort Statuen), aber es gehört nicht in die Bildungsinstitutionen. Ich bezweifle auch aus geschichtsdidaktischer Sicht, dass das Projekt sonderlich geeignet wäre, das damit angestrebte Ziel zu erfüllen. Es handelt sich schließlich um eine Essay-Sammlung aus dem Jahr 2019. Nicht nur hat sie damit ein klares Ablaufdatum, sie ist eine politische Momentaufnahme. In seinem Kern ist das 1619-Projekt ein journalistisches Projekt. Das macht es als Gegenstand für den Geschichtsunterricht nur dann nützlich, wenn man die Geschichte des Jahres 2019 behandelt. Anders ausgedrückt: Als Unterrichtsgegenstand ist das 1619-Projekt im Politikunterricht besser aufgehoben als im Geschichtsunterricht. Es könnte etwa als Anschauungsbeispiel von Debatten in Medien dienen oder so etwas. Aber für den Geschichtsunterricht würde ich es eher als Anstoß nehmen, Quellenmaterial für die entsprechenden Ereignisse und Zeitabschnitte zu integrieren. Das allerdings überfordert ein school board dann doch bei weitem (was im Übrigen einer der Gründe ist, warum ich diese Institution für riesigen Bockmist halte; unsere Bildungsplan-Ausschüsse arbeiten wesentlich besser an konsensualen Verfahren).

Backlash

Es ist nicht allzu weit hergeholt anzunehmen, dass die obigen Ansichten von den meisten school boards geteilt werden. Denn auch wenn einige hervorgehobene Distrikte wie etwa Chicago ihre Curricula entsprechend angepasst haben, kann man kaum von einer weit verbreiteten Annahme des Projekts sprechen, das auch nur annähernd die Mandatierung von "Intelligent Design" in den Südstaaten-Lehrplänen erreichen würde. Monatelang hat das Thema auch niemanden interessiert: Chicago etwa integrierte das Projekt bereits im Herbst 2019 in seine Curricula. Aber zu dieser Zeit lag Trump im amerikanischen Wahlkampf auf noch nicht meilenweit zurück und war dringend auf der Suche nach einem Kulturkampf-Thema, um seine Basis zu mobilisieren. Die geplante Einführung des Projekts an einigen kalifornischen Schulen weckte offensichtlich sein Interesse. In der für ihn üblichen Missachtung jeglicher Verfassungsstrukturen erklärte er, jeder Schule die Finanzierung zu streichen, die das Projekt unterrichten würde. In der für sie üblichen Missachtung jeglicher Verfassungsstrukturen sprangen die restlichen republikanischen PolitikerInnen auf den Zug auf. Dass sie zuvor jahrzehntelang die local control der school boards als uramerikanischste Errungenschaft gefeiert und sich jede Bildungspolitik des Bundes verboten hatten, spielte keine Rolle mehr. Stattdessen begann eine Lawine an Falschbehauptungen und Verzerrungen die üblichen Kommunikationskanäle zu fluten. Seit einigen Wochen hat sich das Thema in die Topriege rechtsradikaler Talking Points hervorgearbeitet. Trump, mit dem sicheren Gespür für den identitätspolitischen Kulturkampf, legte mittlerweile nach. Der Tonfall ist dabei ziemlich eindeutig:
"We want our sons and daughters to know the truth. America is the greatest and most exceptional nation in the history of the world. Our country wasn't built by cancel culture, speech codes, and crushing conformity. We are not a nation of timid spirits."
“Critical Race Theory, the 1619 Project, and the crusade against American history is toxic propaganda—an ideological poison that, if not removed, will dissolve the civic bonds that tie us together.”
Trump verlangte außerdem eine Verehrung von Robert E. Lee - spezifisch, weil er Lincoln besiegte (nicht, dass das stimmen würde, aber das führt an dieser Stelle zu weit). Zudem bezeichnete er das ganze Projekt als "twisted lies", was ebenfalls eine völlig überbordende Eskalation extremistischer Rhetorik ist. Man kann sich kritisch mit dem Projekt auseinandersetzen, wie das etwa dieser Artikel im American Conservative tut, aber wenn man es als "Lügen" abstempelt, als verdorbene Lügen noch dazu, dann wird jede kritische Auseinandersetzung sofort beendet.
Doch nicht nur will er exekutiv die Schulen durch Finanzentzug an die Kandare legen; er gründete zudem die "1776-Kommission", die "eine patriotische Erziehung an unseren Schulen" sicherstellen soll. Allein diese Ankündigung dürfte jedem auch nur halbwegs demokratisch gesinnten Menschen die Schauer über den Rücken jagen. Wenn staatliche Institutionen von patriotischer Erziehung reden, endet jegliches Schulsystem, wie wir es kennen - ob in der Sowjetunion oder in Nazideutschland, ob in Venezuela oder Honduras. Und genau das ist die Absicht Trumps und der Republicans, die ihn stützen (sprich: praktisch alle). Eine Pro- oder Contra-Abwägung für historische Bewertungen kann nicht entstehen, wenn die eine Seite der bewussten, "verdorbenen" Lüge bezichtig und ein rechtsextremer Gegenentwurf direkt aus dem Oval Office diktiert wird - mit der gesamten Macht der Präsidentschaft. Die Identitätspolitik läuft hier völlig Amok und zerstört die Bildungspolitik.

Dröhnendes Schweigen

Am schlimmsten an der Sache ist, wie wenig Widerstand sich gegen diese neuesten proto-faschistischen regt. Wo noch kurz zuvor moderate liberals (etwa Jonathan Chait, Yascha Mounk etc.) wie conservatives (etwa Andrew Sullivan) in großen Tönen mit mindestens so großer Besorgnis über die die Meinungsfreiheit gefährdende Political Correctness an amerikanischen Hochschulen empörten und vor dem Ende freier Debatte warnten, ist dieser offensichtliche, wesentlich gefährlichere - weil von der ganzen Macht bundesstaatlicher Institutionen unterfütterte - Angriff auf die Meinungsfreiheit nicht so wichtig. Die gleichen Verdächtigen, die letzthin in einem massiv publizierten Brief das gottgegebene Recht Joanne K Rowlings verteidigten, Hass gegen Transmenschen zu verbreiten, bleiben gegenüber diesen massiven Angriffen wenn nicht stumm, so doch merkwürdig gedämpft. Es ist genau das, was ich in meiner eigenen Kritik an diesen Leuten immer hervorgehoben habe: Ihnen geht es nicht um Meinungsfreiheit per se; sie fühlen sich in ihrer eigenen dominanten Stellung im Diskursgewebe bedroht. Trumps Angriffe aber bedrohen sie nicht, und deswegen halten sie die Klappe, gründen keine eigenen Zeitschriften und Newsletter zum Schutz von Meinungsfreiheit und Freier Lehre. Die wurde in ihren Augen dadurch bedroht, dass sie die Anliegen von Minderheiten ernst nehmen sollten. In diesem Kampf haben sie keine Einsätze. Entsprechend sind die so laut tönenden Verteidiger der Meinungsfreiheit nirgendwo zu sehen. Dasselbe Phänomen können wir seit 2016 beobachten. Es ist ein Trauerspiel.

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