Sonntag, 4. Oktober 2020

Der Kampf um die Deutung der Einheit

 

Gestern feierte die Republik ihre 30jährige Einheit. Gleichzeitig mit dem 30. Jahrestag der politischen, wirtschaftlichen und territorialen Einheit haben wir aber auch einen dreißigjährigen Jahrestag der ständigen Debatte darüber, wie die Einheit zu bewerten ist. Wenig überraschend eignen sich solche Jahrestage immer sehr dafür, dass alle Beteiligten ihre jeweiligen Lieblings-Narrative herunterbeten können. Liegen sie einmal weit genug in der Vergangenheit, sind sie hauptsächlich eine Gelegenheit für HistorikerInnen, mal wieder interviewt zu werden. Aber die AkteurInnen der Einheit sind zu guten Teilen noch am Leben oder sogar in Entscheidungsstrukturen eingebunden, zumindest, wenn man "AkteurInnen" als "war zum damaligen Zeitpunkt bereits in der Politik aktiv" begreift. Von den tatsächlichen EntscheidungsträgerInnen ist niemand mehr in Reichweite echter oder auch nur publizistischer Macht. Ich will im Folgenden eine kurze Analyse des Stands der Debatte abgeben und dabei auch einen historischen Rückblick wagen.

Die Einheit war, als sie nach dem Mauerfall 1989 nach 40 Jahren plötzlich in den Bereich des Möglichen gerückt und als Desiderat deutscher Politik durch Kohls 10 Punkte offen formuliert worden war seinerzeit nicht unumstritten, auch wenn das die heutigen jubelnden Rückblicke oftmals vergessen machen wollen. In der Erinnerungskultur dominieren schwarz-rot-goldene Flaggen und geöffnete Sektflaschen auf einer graffitibesprühten Mauer. Und sicherlich war die Mehrheit der Deutschen dieseits wie jenseits des Eisernen Vorhangs damals für die Einheit. Nur, mehrheitlich ist natürlich nicht "alle". Es lohnt sich daher, einen kurzen Blick darauf zu werfen, wer seinerseits skeptisch in die Zukunft blickte.

In der alten BRD

Auf der westlichen Seite der Grenze war die radikale Linke wenig überraschend nicht begeistert vom Zusammenbruch der Systemrivalin und dem Fixpunkt alternativer Ideen und Politikkonzepte. Damals wie heute aber war sie für das politische Leben der Bundesrepublik marginal.

Relevanter ist da schon die Haltung von Mitte-Links, sprich, der SPD. Unter ihrem Kanzlerkandidaten Oskar Lafontaine wehrte sie sich eine ganze Weile gegen die Idee der Einheit. Sie propagierte im Wahlkampf 1990 eine Konvertierungsrate Ostmark : D-Mark von 2:1 statt 1:1, was zwar sicherlich den wirtschaftlichen Gegebenheiten eher entsprach als Kohls Umtauschrate, aber andererseits den politischen und gesellschaftlichen Realitäten genauso wenig Rechnung trug wie die Idee eines Konföderationsplans für zwei deutsche Staaten und eine bestenfalls mittelfristige Einheit.

Die SPD fand sich damals auf der falschen Seite der Geschichte wieder, überrollt von den Ereignissen und dem politischen Instinkt Kohls. Zudem scheiterte auch ihre eigene Ostdeutschlandstrategie auf ganzer Linie. Anstatt ihre alten "Herzkammern" wie etwa Sachsen wiedererobern zu können, fasste die Partei in den neuen Bundesländern nur eingeschränkt Fuß. Brandenburg wurde zu einer SPD-Bastion, Berlin in den 2000er-Jahren für einen kurzen Moment ebenso, und inzwischen führt die Partei eine Koalition in Mecklenburg-Vorpommern. Aber die Entscheidung, früheren SED-Mitgliedern die Aufnahme zu verweigern, garantierte das Fortbestehen einer starken Konkurrenz von links.

Noch schlimmer erging es den noch jungen Grünen. Entschiedener noch als die SPD wandten sie sich gegen die Einheit. In einem bemerkenswerten gemeinsamen Artikel haben die Co-Vorsitzenden Barboeck und Habeck diese Haltung aufgearbeitet und in ein großes Mea-Culpa der Partei zur Einheit verarbeitet:

Die Gespaltenheit und Ohnmacht der Westgrünen vor der Deutschen Frage gipfelte bei der Bundestagswahl im Dezember 1990 in dem Plakat "Alle reden von Deutschland. Wir reden vom Wetter." Grün und übrigens auch rot (hatte doch Oskar Lafontaine als Kanzlerkandidat noch kurz vor dem Mauerfall für einen Aufnahmestopp für innerdeutsche Flüchtlinge aus der DDR plädiert, um ein "Ausbluten" der DDR zu verhindern) hatten nicht die Deutsche Einheit, sondern die ökologische und die soziale Frage fest im Blick. Sie waren jedoch gefangen im gedanklichen Kontext der alten BRD. Es gab einfach keine gemeinsame Basis für eine gemeinsame Antwort auf die Deutsche Frage. Insgesamt fehlte somit in den politisch bräsigen frühen 1990er-Jahren eine gesamtdeutsche Partei, die den historischen Moment konstruktiv für einen Aufbruch fürs gesamte Land hätte nutzen können, der so dringend nötig gewesen wäre. 

Für die FDP und die CDU/CSU dagegen, 1989/90 an der Regierung, war die deutsche Einheit ein einziger Triumph. Daran hat sich bis heute nichts Wesentliches geändert. Die Wende ist ein bürgerliches Projekt, und als solches wurde sie verkauft, empfunden (was eine lang anhaltende und erst jüngst langsam absterbende Dankbarkeit für die Unionsparteien in den neuen Bundesländern mit sich brachte) und erhalten.

Auf der extremen Rechten wurde die Einheit auf der einen Seite als Zusammenbruch des Realsozialismus und Erstarken der Nation begrüßt, aber auf der anderen Seite musste der 2+4-Vertrag, der den endgültigen Verzicht auf die deutschen Ostgebiete festschrieb (was der CDU mit den aussterbenden Vertriebenen noch kurz Probleme machte, wie man etwa an Wolfgang Schäubles Auftritt 1995 sehen kann), ebenso für Ablehnung sorgen wie die Tatsache, dass die Einheit das verhasste Grundgesetz und damit die Identität der Bundesrepublik endgültig als deutsche Identität festschrieb, eine Ablehnung, die die extreme Rechte mit der extremen Linken durchaus zu teilen vermochte - wenngleich aus völlig unterschiedlichen Motiven.

In der alten DDR

Im Osten dagegen war die Mehrheit der Bevölkerung unzweifelhaft begeistert von der Einheit und der Vorstellung, den ungeliebten Realsozialismus endlich loswerden zu können. Gleichwohl zeigt sich an der Einheit einmal mehr, dass die geteilte Ablehnung eines Zustands sich nicht zwingend zu einem Konsens über den gewollten neuen Zustand verbindet.

Denn auch wenn nur rund 20% sich hinter einer rekonstituierten SED (bald in PDS umbenannt) zu versammeln mochten, war anfangs die Idee der Vereinigung selbst auch im Osten skeptisch betrachtet worden. Was man wollte waren mehr Freiheiten und, vor allem, ein Angleichen an den Lebensstandard, der durch das Westfernsehen so unfehlbar an der beständigen Unterminierung des SED-Regimes genagt hatte.

Es war Kohls politisches Talent ebenso wie die Kraft der Umstände, die eine Mehrheit der Bevölkerung davon überzeugten, dass die Synthese dieser Wünsche in der Einheit liege; zusammengefasst im geflügelten Kohl-Wort von den "Blühenden Landschaften", das er nur zu bald bereuen sollte (quasi die 1990-Version von Merkels "Wir schaffen das").

Dieser politische Erfolg Kohls ging weniger zu Lasten der SED-Kader, die sich als außerordentlich kompetent darin erweisen sollten, ihre Pfründe zusammenzuhalten. Stattdessen erledigte er die Bürgerrechtsbewegung der DDR, die, ohne eine einheitliche Führung, Zugangs zu Infrastruktur und Finanzquellen, kaum über 2% bei den Wahlen hinauskam und sich mit den Grünen vereinte - und trotzdem beinahe an der 5%-Hürde scheiterte. Mitte 1990 gab es nur wenig, was so unattraktiv war, wie die Idee einer konföderierten Lösung, einer radikalen Neugründung der BRD oder eines Beibehaltens ostdeutscher Eigenheiten, was auch man unter diesen zu verstehen gedachte.

In der neuen BRD

Einem kurzen Einheitsboom folgte ab 1992, unter anderem wegen eines starken Zinsanstiegs durch die Bundesbank und des Zusammenbruchs weiter Teile der DDR-Wirtschaft, der Kater. Die gleichzeitige Krise auf dem Balkan führte zu einem massiven Anstieg der Flüchtlingszahlen, die für viele ehemalige DDR-BürgerInnen der erste Kontakt mit größeren Migrantenmengen war. Die Reaktion darauf war nicht schön. Es zeigte sich, dass die DDR trotz aller linkstotalitären Rhetorik nicht viel mehr als ein dünnes Tuch über Rechtsextremismus, Rassismus und ethnische Intoleranz hatte werfen können - wenig überraschend, sieht man sich die tatsächliche Politik der Diktatur gegenüber den wenigen EinwanderInnen an, die sie hatte.

Die folgenden "Baseballschlägerjahre" wurden zwar seinerzeit wenig mit der Einheit verknüpft. Spätestens der Aufstieg der AfD hat aber alle Narrative, die in den Jahren vorher gerne erzählt worden sind, in Frage gestellt - und gleichzeitig re-affirmiert, denn natürlich kann man sowohl in der vorangegangenen SED-Diktatur wie auch im Wirken der Treuhand den Grund für diesen Aufstieg erkennen, wenn man nur will. Und das Schöne daran ist, dass nichts davon komplett falsch ist. Ein Kern Wahrheit findet sich noch in jedem der Narrative.

Insgesamt aber änderte sich der Kontext der Diskussionen nur wenig. Für die radikalere Linke war klar, dass die Einheit ein tragischer Akt war. Sie akzeptierten den Untergang der SED-Diktatur zwar - zu offenkundig deren Scheitern, deren repressiver Charakter. Aber sie ersetzten sie quasi umstandslos durch den Mythos des "Anschlusses" an die BRD, beklagten stets das Verpassen der Gelegenheit zur grundsätzlichen Neugründung Deutschlands als soziale und pazifistische Mittelmacht. Quasi eine späte Verwirklichung des Traums von 1952, als die Stalinnote das Fenster zu einer solchen Möglichkeit aufzustoßen schien.

Ansonsten verlegte sich die PDS darauf, die Bundesregierung von links auf den Feldern der sich rapide wandelnden Sicherheitspolitik sowie der Erhaltung und des Ausbaus des Sozialstaats zu attackieren und sich als Sachverwalterin der Interessen Ostdeutschlands zu gerieren, ein politisches Branding, das auch deswegen so erfolgreich war, weil es für die westliche Politik so gelegen kam (blockte es doch eine erfolgreiche West-Expansion der PDS) und durch die westlich geprägten Medien mit ihrem Exoten-Blick auf Ostdeutschland ständig re-affirmiert wurde.

Die SPD dagegen warf nach ihrer verheerenden Niederlage in den Bundestagswahlen 1990 ihre Positionen schnell über den Haufen und verlegte sich darauf, den "Reformstau" unter Kohl und die offensichtlichen Rückschläge beim "Aufbau Ost" anzuprangern und sich als bessere Vollender der Einheit zu präsentieren - wenngleich in ihrer aktuellen Form. Das bedeutete eine Ablehnung aller Alternativen und eine Anerkennung der wiedervereinigten BRD, wie sie Kohl 1990 geschaffen hatte - ein Prozess, der erstaunlich reibungsfrei vonstatten ging und 1998 in der Kanzlerschaft Gerhard Schröders mündete.

Weder CDU noch FDP hatten je Grund, ihr Narrativ großartig zu überarbeiten. Sie waren die Parteien der Einheit, und als solche waren sie mit sich im Reinen. Insgesamt funktionierte diese Strategie für die CDU wesentlich besser als für die FDP, die das Schicksal der Grünen teilte und im Osten nie wirklich verlässlich Fuß fassen konnte. Das überrascht angesichts der fehlenden liberalen Strukturen nach 40 Jahren realsozialistischer Diktatur aber sicher auch kaum.

Die Rechtsextremisten feierten immer wieder Achtungserfolge, vor allem in Sachsen, konnten aber vor dem Aufstieg der AfD nie ihr Desiderat erreichen: ein Einbrechen in bürgerliche Wählerschichten. Solange die PDS sich außerdem als Anwältin der enttäuschten Ostdeutschen gerierte, statt eigenen Gestaltungsanspruch anzumelden, gab es auch eine wesentlich weniger schmutzige Adresse für solche Proteststimmen.

Der wilde Osten

Die Debatten, die in den überwiegend westlich dominierten Medien über den Aufstieg der AfD im Osten geführt wurden erinnern stark an die, die 2005 über den Aufstieg der LINKEn und zuvor über die Beharrung der PDS geführt wurden. Der Osten wurde allzu oft als eine Art fremdes Land betrachtet. JournalistInnen durchreisen die ostdeutsche Provinz für ihre Reportagen wie sie auch durch Großbritannien, Polen oder die USA reisen würden und brachten beflissen Homestories nach Hause, die einen Hauch schlechtes Gewissen ("So leben die von uns ignorierten Ostdeutschen") mit genug Kritik an den Ostdeutschen selbst vereinten, als dass man sich nicht gar zu schuldig hätte fühlen müssen.

Ihren Höhepunkt erreichte diese Tendenz während der Hartz-IV-Zeit, in der in Ostdeutschland das Zentrum der Anti-Hartz-Proteste entstand. Während auf der einen Seite die Klischees faulen Hartz-IV-BezieherInnen nur allzu oft ostdeutsche Herkunft hatten, kapitalisierten alle möglichen Gruppen auf der anderen Seite von einer diffusen Unzufriedenheit, die seinerzeit die endgültige Etablierung der LINKEn in Gesamtdeutschland befeuerte - die exakt gleiche Gemengelage, die 2015ff. zum Aufstieg der AfD beitrug und den Verdacht entstehen lässt, dass in Ostdeutschland strukturelle Dynamiken unter der Oberfläche wirken, die sich der politischen Gesäßgeographie weitgehend entziehen und durchaus spezifisch für die neuen Bundesländer sind.

Diese Betrachtung des Ostens als unbekanntes Land, der ich auch selbst schuldig bin - ich habe keinerlei familiären Verbindungen nach Ostdeutschland, noch habe ich mich je sonderlich damit beschäftigt oder kenne bewusst Leute von dort - hat in den vergangenen Jahren wenig Gutes dazu beigetragen, die Einheit tatsächlich als ein gemeinsames Erlebnis zu beschreiben. Die westliche Sicht war tatsächlich triumphal, und man überließ die Sicht des Ostens allzu oft den professionellen BeschwerdeträgerInnen.

30 Jahre später

Wir befinden uns gerade, so denke ich, an einer Wasserscheide. Es gibt noch immer genügend AkteurInnen der Wende, die persönliche Verbindungen dazu haben. So ist etwa Gregor Gysi oder Petra Pau in der LINKEn, Angela Merkel oder Friedrich Merz in der CDU, Wolfgang Kubicki in der FDP, und so weiter. Aber gleichzeitig gibt es eben viele Leute in diesen Parteien, die die Wende allenfalls als Jugendliche erlebt haben. Die FDP und die Grünen etwa werden aktuell von diesen Leuten geführt. In 10 Jahren, wenn Deutschland genauso lange wiedervereinigt wie getrennt sein wird, wird dies auf alle zutreffen. So wie 1990 niemand mehr an der Regierung war, der die Nazi-Diktatur in irgendeiner verantwortungsvollen Position erlebt hat, wird dasselbe 2030 für die DDR gelten. Für mich selbst ist sie ein rein historisches Thema; beim Mauerfall war ich fünf Jahre alt.

Was wir gerade erleben ist also mehr ein Kampf um die Deutungshoheit für eine Zeit nach den persönlich Betroffenen. Ein häufiger Versuch, der mir dabei begegnet, ist die Verabsolutierung der DemonstrantInnen von 1989/90. Zwar gingen viele Menschen auf die Straße, aber natürlich längst nicht alle. Wie bei jeder Revolution gab es Leute, die abseits standen, und Leute, die dagegen waren. Bei der Amerikanischen Revolution etwa dürfte rund ein Drittel aller EinwohnerInnen der Kolonien gegen die Unabhängigkeit gewesen sein, einem Drittel war das Thema egal, und nur ein Drittel kämpfte aktiv gegen die Briten - nichts, was man angesichts der 1776 umgebenden Folklore so vermuten würde.

Und so ist in der Populärdarstellung heute jedeR EinwohnerIn der DDR beim Widerstand gewesen, genauso wie nach 1945 auch jedeR gegen die Nazis gewesen sein will. Nur ein paar arme Schweine, deren Mittäterschaft im Regime etwa durch die Birthler-Behörde (später Gauck-Behörde) aktenkundig war, konnten sich dem Ganzen nicht entziehen. Aber sie spielten auch keine Rolle mehr. Lothar Bisky, dem der Bundestag aus diesen Gründen (ein erstmaliger Vorgang) die Vizepräsidentschaft verweigerte, war der letzte dieser Art. Gregor Gysi, der mittlerweile auch nur noch in der dritten Reihe seiner Partei steht, ist das letzte prominente Parteimitglied, bei dem möglicherweise eine IM-Zusammenarbeit bestanden hatte. In fünf Jahren wird allein aus biologischen Gründen keineR mehr übrig sein.

Stattdessen erzählt man sich bereits jetzt die Geschichte, dass die Menschen 1989/90 alle auf die Straße gingen, um für oder gegen genau das zu kämpften, was man selbst vertritt. Für CDU/CSU oder FDP sind das natürlich das Bekenntnis zur sozialen Marktwirtschaft und den bundesrepublikanischen Rechtsstaat. Für die LINKE ist es, wie etwa Gregor Gysi in einem aktuellen Artikel zu verkaufen versucht, die Hoffnung auf ein besseres Land, für mehr Solidarität, Gerechtigkeit und Mindestlohn. Und natürlich steckt in all dem ein Körnchen Wahrheit, aber zutreffend ist davon nichts und alles. Revolutionen wie die von 1989/90 sind viel zu vielschichtig, spontan und chaotisch, zu allumfassend, um direkt auf das eigene Parteiprogramm heruntergebrochen werden zu können.

Relevant ist deswegen auch eher, was PolitikerInnen zur Einheit sagen, wenn es unsere Gegenwart betrifft. So ist etwa Manuela Schwesigs harsche Kritik an Angela Merkel, nicht genug für Ostdeutschland zu tun, in Kontinuität der seit 1990 florierenden Erzählung vom Sonderweg Ostdeutschlands zu sehen, in der professionellen Bedenkenträgerei, die man für sich in Anspruch zu nehmen hofft, in der die echten oder imaginierten Sorgen der ostdeutschen Bevölkerung - die stark auf diejenigen verengt wird, die schon vor der Wende dort lebten - instrumentalisiert sind, um selbst politische Vorteile zu erlangen. Das kann die CDU in Sachsen so gut wie die LINKE Thüringens, die SPD Mecklenburg-Vorpommerns wie die AFD Sachsen-Anhalts. Besorgniserregend ist hier eher, wie diese Anti-Establishment, Anti-Bundesrepublik-Rhetorik über alle Parteigrenzen hinweg mehrheitsfähig ist, wie sie beständig reproduziert wird.

Ich habe die Hoffnung, dass es irgendwann gelingen wird, die Probleme des Einheitsprozesses aufzubereiten, ohne dass man gleich das eigene Parteiprogramm mit einbaut. Aber ich gehe davon aus, dass das eine Aufgabe für die Geschichtswissenschaft sein wird. Wie auch das Dritte Reich erst vernünftig erschlossen werden kann, seit seine AkteurInnen von der Bildfläche verschwunden sind, wird auch die DDR erst dann begriffen werden können, wenn diejenigen, die persönlichen Anteil an ihr oder ihrem Verschwinden gehabt haben, einer neuen, unbeeinflussten Generation Platz gemacht haben. Vielleicht ist es dann auch endlich möglich, Ostdeutschland nicht mehr als Exoten zu betrachten, der in der Erbmasse der Großeltern enthalten war; oder als Kolonie eines erfolgreicheren Westens, dem man sich nicht zugehörig fühlt. Schön wäre das.

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