Donnerstag, 22. Oktober 2020

Tod eines Lehrers

 

In Frankreich hat ein islamistischer Terrorist den Geschichtslehrer Samuel Paty ermordet. Abgesehen von der persönlichen Betroffenheit, die das bei mir als Geschichtslehrer auslöst, hält der Mord ein Brennglas über ein Problem, das seit Jahren vor sich hinköchelt und das von der Klima- und Coronakrise zwar zeitweise überdeckt, aber nie gelöst wurde. Es geht um das leidige Thema der Integration von Muslimen in die liberalen Gesellschaften Europas. Und ich muss ehrlich sagen, dass sich meine Perspektive auf dieses Thema langsam aber sicher zu wandeln beginnt. Nicht so sehr wegen dieses Mordes; der packt, wie gesagt, eher das Brennglas darüber. Nein, hier ist mehr am Werk, und ich will hier versuchen, ohne Anspruch auf Vollständigkeit meine Gedankenprozesse deutlich zu machen und hoffentlich eine interessante und gewinnbringende Debatte zu starten.

Zuerst einmal dazu, warum ich mich mit dem Thema so schwer tue und überhaupt einen Bewusstseinswandel habe. Ich betrachte mich grundsätzlich als einen progressiven und liberalen Menschen. Allein schon deswegen konnte und kann ich mit dem Leitkultur-Geschwurbel, das so häufig in dieser Debatte bestimmend war, wenig anfangen.

Ich bin fundamental der Überzeugung, dass DeutscheR zu sein unabhängig von Migrationshintergrund, Hautfarbe oder Religion ist. Ich glaube nicht daran, dass es einen Buy-In in eine spezifische "Leitkultur" braucht, ob Goethe oder Oktoberfest, um vollwertig StaatsbürgerIn dieses Landes zu sein. Was zählt ist die Akzeptanz des Rechtsstaats und der in der Verfassung niedergelegten Werte. Alles andere ist optional.

Leider wir die Integrationsdebatte schon immer durch diejenigen vergiftet, die eigentlich kein Interesse an Integration haben, weil sie fundamental daran zweifeln, dass bestimmte eingewanderte Gruppen - seien es türkisch-, afghanisch-, somalisch- oder syrischstämmige Gruppen - einen Platz in diesem Land und dieser Gesellschaft haben. Dass diese Leute so tonangebend waren und die Debatte so lange vergiftet haben, ist ein Versagen der gesamten liberalen Mehrheitsgesellschaft.

Aber: Auch die progressive Seite hat versagt. Seit dem spektakulären Scheitern der Multi-Kulti-Idee in den 2000er Jahren ist keine alternative Erzählung vertreten worden, wie Integration eigentlich funktionieren sollte, ist der Ablehnung von rechts zwar ein grundsätzlich diffuses Willkommenheitsgefühl von links entgegengesetzt worden, aber nie eine positive Vision davon, wie eine gelungene Integration aussehen kann. Es fehlt, gewissermaßen, an einer progressiven Leitkultur. Diese Kritik ist nicht neu, ich habe sie hier schon mehrfach geäußert.

Ich frage mich allerdings in letzter Zeit häufiger - und hier kommen wir zum vorliegenden Fall - ob ich es mir nicht zu bequem darin gemacht habe, diesen Zustand zu analysieren, und den ein oder anderen Lösungsvorschlag zu machen. Ich glaube, in meiner Frontstellung gegen all die Rechten, die vor allem seit Beginn der Flüchtlingskrise 2015 rassistische Parolen in die Welt trompetet haben, bin ich allzu nachlässig gegenüber den "bad apples" geworden, die leider ungeachtet selbiger rassistischer Parolen tatsächlich existieren und die ein gewaltiges Problem darstellen. Ich habe, kurz gesagt, das Gefühl, auf diesem Feld genau den Fehler begangen zu haben, den ich immer Leuten wie Stefan Pietsch oder R.A. im Umgang mit den Rechtsextremisten vorgeworfen habe. Viel zu häufig "ja, aber" zu sagen, wegzuschauen, zu verharmlosen, das Thema zu wechseln.

Denn ich kann einfach nicht verleugnen, dass in den Ländern Europas - nicht nur Frankreich, sondern auch hier in Deutschland - Subkulturen unter Leuten entstanden sind, die Migrationshintergrund aufweisen. Subkulturen, die es weder mit dem Rechtsstaat, noch mit der Demokratie, noch mit den Werten des Grundgesetzes haben. Subkulturen, in denen eine virulente Ablehnung zu diesen Werten hochkocht. Und Subkulturen mit genügend Mitgliedern, die gewaltbereit sind.

Diese Subkulturen lassen sich nicht über einen Kamm scheren, und ich bin sicher kein Experte für das Thema. Deswegen sollten alle folgenden Ausführungen dazu als Beobachtungen eines beobachtenden Laien betrachtet werden, die durch meine eigenen Erfahrungen geprägt sind. Anekdotische Evidenz also. Es gibt diverse ForscherInnen, die das wesentlich strukturierter auf der Platte haben als ich hier. Ich will daher einige Beispiele geben.

Unter Deutschtürken, besonders jungen, männlichen Deutschtürken, verbreitet sich in den letzten Jahren immer mehr der aus der Türkei gesteuerte Osmanenkult. Mir fällt das im Geschichtsunterricht auf, wo ich immer mehr Fragen zu Glanz und Glorie des Osmanischen Reichs bekomme, das mit der modernen Türkei ebenso gleichgesetzt wird wie mit den nahöstlichen Großreichen vorher - ein brillanter Propagandaerfolg Erdogans und der AKP. So erfuhr ich jüngst von einem Schüler, dass die chinesische Mauer zur Abwehr der Osmanen gebaut worden sei. Er war geradezu entsetzt als ich ihm auf der Karte zeigte, wie weit Istanbul von Westchina entfernt liegt, und glaubt mir immer noch nicht, dass die Mauer rund 1000 Jahre vor der Etablierung Osmans erbaut wurde - was den Chinesen beeindruckende Voraussicht in zukünftige Bedrohungen attestieren würde.

Derart krude Propaganda, so fruchtbar sie auch ist, ist aber leider nicht alles, was aus Ankara in die türkische Diaspora fließt. Zunehmend gilt die offizielle Parteilinie der AKP - eine Verherrlichung Erdogans und eine Absolutsetzung dessen, was er als "türkische Interessen" sieht - als Grundpfeiler türkischer Identität. Zunehmend muss man sich im Klassenraum AKP-Propaganda erwehren und sieht sich Schülern (alle männlich) gegenüber, die die Größe der türkischen Nation verteidigen, als ob sie sie persönlich beträfe - obwohl sie oft schon in der vierten Generation hier leben! Gleichzeitig geht damit eine Verherrlichung patriarchalischer Lebensformen einher. Ich bemerke im Unterricht etwa zunehmend offen, geradezu herausfordernd vorgetragene Forderungen nach der Entrechtung von Frauen. Die Vorstellung, dass Homosexuelle Rechte hätten, wird geradezu mit Abscheu begegnet.

Doch damit nicht genug. Der wohl gefährlichste Einfluss Erdogans und der AKP hier in Deutschland ist in der Auswahl der Imame, die die Moscheen im Land kontrollieren. Diese Leute kommen aus der Türkei und wurden auf die religiöse und politische Linie eingeschworen, die sie an die türkischstämmigen Westeuropäer weitergeben - gerade an die jüngeren Leute. Alternativen gibt es nicht. Nicht zuletzt die Konservativen im Land haben immer wieder verhindert, dass es eine vernünftige staatliche Aufsicht und Ausbildung von Imamen in Parallele zum Religionsunterricht an Schulen und der staatlichen Aufsicht darüber gibt. Stattdessen driftete muslimischer Religionsunterricht in den privaten, unkontrollierten Bereich ab.

Nicht vergessen sollte man auch, dass die mit 20.000 Mitgliedern größte rechtsextreme Gruppe in Deutschland aus Deutschtürken besteht, die einer faschistischen Ideologie anhängen. In all diesen Fällen hat der deutsche Staat viel zu lange still gesessen. Und das kann man eben nicht nur auf die Blockierhaltung von konservativen und rechtsdemokratischen Elementen in Deutschland schieben, wenngleich die sicher ihren Anteil haben. Aus falsch verstandener Toleranz und dem Glauben, es sei rassistisch entsprechende Forderungen zu erheben, haben wir Progressiven selbst viel zu lange all das laufen lassen.

Ich will auch gar nicht zu sehr auf den Einfluss der Türkei abheben, das ist ja nur eine dieser Subkulturen. Es ist auch nein anhaltendes Thema etwa unter den mehrheitlich jungen und männlichen Geflüchteten. Was mir hier besonders auffällt - vor allem aus Erzählungen von KollegInnen, die im Geflüchtetenbereich arbeiten - ist einerseits die identitätspolitische Dimension dieser Überzeugung, die wie im Fall der Deutschtürken solche Haltungen und ihre aggressive Zurschaustellung als essenziellen Teil ihrer Identität sieht.

Auffällig ist dabei, dass diese Leute keine Ahnung von ihrer eigenen Religion haben. So erzählte mir eine Kollegin jüngst, dass sich bei ihr im Religionsunterricht Geflüchtete weigerten, am Unterricht teilzunehmen. Ihre Religion verbiete ihnen, sich über andere Weltreligionen zu informieren (was der Bildungsplan sinnvollerweise vorsieht). Es ist schwer zu sagen, ob das nur als vorgeschobenes Argument betrachtet wird, um auf einfache Art Unterricht schwänzen zu können, oder ob echte Überzeugung dahintersteht. Eine entsprechende Sure zu zitieren ist den Leuten aber sicherlich nicht möglich.

Generell gibt es praktisch keine Kenntnis bei diesen Leuten über den Koran; das haben sie mit vielen religiösen FanatikerInnen gemeinsam. Viele Evangelikale haben ja auch sehr merkwürdige Vorstellungen dessen, was angeblich in der Bibel steht. So ist das auch hier. Nicht, dass eine bessere Korankenntnis das Problem grundsätzlich angehen würde; mir fällt nur auf, dass meine Grundthese seit vielen Jahren, dass es nicht um Religion, sondern Identität geht, fundamental bestätigt ist. Der Islam per se, so viel sei den rechten Freunden gesagt, ist nicht das Problem.

Wohl aber, dass der Islam - hier mal mit breitem Pinsel gezeichnet - bereit ist, diese beknackten Identitätskrieger ebenso in seiner Mitte zu dulden wie die politischen Imame. Dass er kein Problem damit, extremistische Salafisten in Fußgängerzonen als offizielles Aushängeschild der ganzen Weltreligion herumlaufen zu lassen. Und dass die Islamkonferenz ebenso wie der Zentralrat der Muslime weiterhin enorme Schwierigkeiten haben, selbst das absolute Mindestmaß zu erfüllen, wie die Anerkennung des Existenzrechts Israels und ähnlicher Selbstverständlichkeiten.

Ihr merkt schon beim Lesen, dass dieser Artikel insgesamt etwas strukturlos ist, fürchte ich. Ich schreibe meine Gedankenprozesse auf, mir quasi etwas von der Seele (das klingt so pathetisch...). Ich bin froh, dass ich da im linken Spektrum nicht der Einzige bin, wenngleich das Erscheinen der folgenden Artikel während meiner Arbeit an diesem hier natürlich auch auf meine mangelnde Arbeitsdisziplin in diesem Fall hindeutet. So hat Kevin Kühnert in einem Gastartikel für den Spiegel sehr deutliche, klare und wohl formulierte Worte gefunden, besser vermutlich, als ich das kann. Und Sascha Lobo, der das Thema in seinem Buch "Realitätsschock" (hier besprochen) bereits untersucht und da für meine Gedankenprozesse wertvolle Grundlagenarbeit gelegt hat, hat auch mit einem eigenen Artikel nachgelegt. Aber zurück zum Thema. 

Diese Subkulturen haben sich natürlich auch bei den Geflüchteten gebildet und verfestigt. Es schmerzt, diese Erkenntnis auszusprechen. Einerseits, weil die Entwicklung generell traurig und schrecklich ist, und weil so viele Unschuldige mit den in den Strudel gezogen werden - guilty by association. Andererseits, weil das der Dauertenor der Rechten war, die Warnungen vor Parallelgesellschaften und irgendwelcher düsterer, integrationsunwilliger Subkulturen. Natürlich auch, weil es immer doof ist, wenn der Gegner mal mit was Recht hatte, aber hauptsächlich deswegen schmerzhaft, weil man sich eingestehen muss, eher reflexhaft darauf reagiert zu haben.

Damit meine ich nicht, dass meine Kritik grundsätzlich falsch gewesen wäre, schließlich ging es diesen Leuten ja nicht darum, eine bessere Integration zu erreichen. Sachlich gesehen stehe ich zu meiner Kritik. Nein, der Punkt ist, dass ich mich selbst nicht genug mit dem Problem auseinandergesetzt habe. Anstatt nur festzustellen, was diese Leute alles nicht sind und tun - etwa die Anwesenheit von MigrantInnen auf einem fundamentalen Level überhaupt zu akzeptieren - und das zu kritisieren, hätte auch die Anerkennung des trotzdem bestehenden Problems stehen müssen. Aber die kam nicht, aus Angst vor der Assoziierung, aus Bequemlichkeit vermutlich auch, auch aus falsch verstandenem Idealismus vielleicht.

Die Struktur dieses Artikels ist eh nicht mehr zu retten, daher komme ich an dieser Stelle noch einmal auf den konkreten Fall Paty zurück. Obwohl das in Frankreich passiert ist, hält er viele Lektionen für uns hier in Deutschland bereit. Paty unterrichtete im Rahmen des Geschichte-/Politikunterrichts die Mohammedkarikaturen. Das Thema war Meinungsfreiheit, und er nutzte sie als Fallbeispiel. Nach allem, was man liest, machte Paty alles richtig. Wichtiges Normenthema, check. Aktueller Bezug, check. Er hat seinen muslimischen SchülerInnen sogar angeboten, den Raum zu verlassen, wenn sie Karikaturen nicht sehen wollten. Rücksicht und Respekt, alles da.

Es ist auch auffällig, dass der Mörder kein Schüler Patys war. Stattdessen wurde Paty zum Gegenstand einer Hetzkampagne innerhalb dieser Subkulturen, wie man sie aus anderem Kontext auch kennt - man denke nur, um ein berühmtes Beispiel aufzugreifen, den QAnon-Blödsinn von Hillary Clintons Kinderporno-Ring unter einer Washingtoner Pizzeria. Wie in den USA führte die Verschwörungstheorie auch hier zu Gewalt. Die erwähnten unkontrollierten Subgruppen teilten auf Facebook - wo auch sonst? - die offensichtlich bescheuerte Lügengeschichte, Paty habe Pornographie gezeigt.

Das ist ein identitätspolitischer Faktor. In der Kulturkrieger-Ideologie, in der diese Subgruppen mariniert sind, ist die eingebildete bewusste Blasphemie der "Ungläubigen", ihr gezielter Versuch, Ehre und Integrität "der Muslime" zu beschädigen, fest eingebaut. Wer sich in solchen Kreisen bewegt, glaubt daran, dass das staatliche Schulsystem jungen Muslimen im Unterricht Pornos zeigt. Oder dass Joe Biden das Blut von Kindern auf einem satanistischen Altar opfert. Die Mechanismen sind in all diesen Spinnergruppen dieselben.

Aber, und das sei zum Abschluss noch einmal eindringlich wiederholt, die Gefahr bei diesen spezifischen Gruppen ist ihre wesentlich zu große Verankerung in der weiteren Kultur. Wo Attila Hildemann sich zwar als Stimme der Mehrheitsdeutschen aufspielen kann, aber genug Pushback aus allen möglichen Richtungen der Gesellschaft bekommt, haben diese Fanatiker es geschafft, allzu unwidersprochen als Stimme "des" Islams gelten zu dürfen. Das liegt auch daran, dass wir mit rassistischer Ablehnung bis wohlmeinender, aber fehlgeleiteter Indifferenz dem Islam gegenüberstehen. Aber eben nicht nur.

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