Montag, 26. Juni 2023

Rezension: Scott Rehm - Game Angry. How to RPG the Angry Way

Scott Rehm - Game Angry. How to RPG the Angry Way

Pen&Paper-Tabletop-Rollenspiel ist mit Sicherheit ein Nischenhobby. Auch wenn viele Menschen schon einmal davon gehört haben - der neue Dungeons&Dragons-Film mag da auch noch einmal etwas nachhelfen -, so haben doch nur relaltiv wenige schon einmal gespielt, und noch viel weniger sind immer noch aktiv dabei. Die Einstiegshürden für das Hobby sind auch nicht unbedingt klein. Eine der größten ist es, eine Spielleitung zu finden (im D&D-Slang "Dungeon Master", kurz DM, genannt). Denn der Job (und Scott Rehm lässt keinen Zweifel daran, dass es effektiv ein Job ist) ist sehr fordernd und zeitintensiv. Dazu kommt, dass dieser Job sehr schwer zu erlernen ist. Es gibt nur sehr wenig Ratgeber für die Spielleitung, sehr wenig Rollenspieltheorie als Fundament, und das, was es gibt, ist überwiegend Mist. Rehm, der seit Langem die Website The Angry GM betreibt und dort Ratschläge gibt, unternimmt mit diesem Buch den Versuch, das zu ändern.

Das Buch ist in drei große Abschnitte aufgeteilt. Der erste, "The World of Roleplaying Games", ist als Einführung in das Hobby gedacht. In Kapitel 1, "A Fantasy Adventure Story Starring You", erklärt Rehm das Grundprinzip von TTRPGs: man übernimmt als Spieler*in eine Rolle (den "Charakter") und trifft in dieser Rolle Entscheidungen. Als Ergänzung dazu braucht es die im zweiten Kapitel, "The Game Master: The Best Game Mechanic Ever", vorgestellte Spielleitung. Diese simuliert eine Welt, durch die sich die Spielenden bewegen können und die auf sie reagiert. Um das zu tun, benutzt die Spielleitung die in Kapitel 3, "Games and Systems and Editions and Dice and Stuff", kurz vorgestellten Regelsysteme und existierenden Welten. Dazu gehören auch die für Einsteigende immer etwas verwirrend wirkenden Würfel. Rehm konzentriert sich auf Dungeons&Dragons und Pathfinder, zwei Systeme, die den eklatanten Nachteil haben, nicht DSA zu sein.

Ich bin ehrlich gesagt nicht sonderlich überzeugt von der Struktur dieses Ansatzes, weil mir die Fantasie fehlt, dass Leute sich für Rollenspiel interessieren und dieses Buch in die Finger kriegen, bevor sie sich bereits selbst an etwas versucht haben. Und Einführungen in die Frage "was ist Rollenspiel?" gibt es im Dutzend billiger im Internet, und die sind - im Gegensatz zu den meisten Ratgebern - sogar brauchbar und nicht groß von Rehms Version abweichend.

Aber: Solcherart die Szene bereitet, beginnt der zweite Abschnitt, "Getting your (first) game on", in dem die neuen Spielleitungen durch das erste Spiel geleitet werden sollen. Kapitel 4, "Get Ready...get set...", schlägt Rehm vor, ein einfaches vorgefertigtes Abenteuer mit vorgefertigten Helden als sogenanntes "one-off" zu spielen: egal, wie es ausgeht, danach werden neue Charaktere erstellt. Er erklärt das damit, dass das erste Spiel immer schlecht sei. Ich halte nicht viel von diesem Ratschlag; letztlich kann man auch problemlos aus einem schlechten Spiel weitermachen und das weitgehend vergessen. Aber es geht hier auch mehr darum, die Erwartungen an den eigenen Erfolg zu dämpfen. Wer etwas zum ersten Mal macht, kann ja praktisch nur scheitern.

Kapitel 5, "How to be a GM in Four Easy Steps", zeigt sehr schön den Grund für Rehms Persona als "Angry DM" und die miese Qualität der meisten Ratgeber auf: was hier steht, gehört an die zentrale Stelle jedes Grundregelwerks, fehlt aber viel zu oft. Er identifiziert vier grundsätzliche Tätigkeiten der Spielleitung: die Beschreibung der Szene (wo sind die Charaktere und warum), die Einladung zu handeln (also den Spieler*innen eine Entscheidung abzuverlangen), die Kunst der Erzählung (die Welt und die Szene konzise und knapp zu beschreiben) und "action adjudication" (Das Abhandeln von Aktionen: hier müssen die Entscheidungen der Spieler*innen in Ergebnisse übertragen werden.).

Irgendwann einmal kommt es in Fantasy-RPGs zu einem Kampf. In Kapitel 6, "Let's You and Them Fight", erläutert Rehm die Grundregeln dafür. Die Spielleitung muss sämtliche Gegner (oft irgendwelche Monster) steuern und die Welt im Blick behalten. Die Grundregeln aus Kapitel 5 gelten dabei weiterhin. Rehm lässt die Spielleitung vier "Hüte" tragen: den Schiedsrichter*innenhut, um Regeln zu klären; den Monster-Hut, um die Gegner zu steuern; den Buchhalter*innenhut, um die Informationen wie Trefferpunkte u.Ä. zusammenzuhalten, und den Jockey-Hut, um das Spiel am Laufen zu halten (Rehms Devise, dass schnelle Entscheidungen besser sind als gute Entscheidungen, sei an dieser Stelle wegen ihrer Wichtigkeit und der häufigen Verstöße dagegen besonders betont).

Ist das erste Abenteuer solcherart zu Ende gebracht, stellt Rehm in Kapitel 7, "Now What?", die titelgebende Frage. Letztlich läuft es darauf hinaus, sich auszuprobieren und eigene Abenteuer zu schreiben.

Damit geht es in den dritten Abschnitt, "Running Less Worse Games", der das eigentliche Herz des Buches ausmacht. Hier finden sich die wichtigen und zentralen Ratschläge, und in meinen Augen hätte etwas mehr Gewicht hier und der Verzicht auf die Vorstellung, dass komplette Anfänger*innen das Buch lesen werden, dem Ganzen gut getan. Aber gut; es ist, was es ist, und hat eigentlich keine Konkurrenz.

Kapitel 8, "The Heart of the Game", befasst sich grundlegend mit dem Verhältnis von Spielleitung und Spielenden. Rehm betont, dass die ganze Anziehungskraft eines TTRPG darin besteht, Handlungsfähigkeit (agency) zu haben. Er unterscheidet drei Arten von Handlungsfähigkeit: die Freiheit, mit der Situation umzugehen, also zu entscheiden, was die Charaktere tun; die Freiheit zu der Situation, also ob die Charaktere sich überhaupt in diese begeben wollen; und die Freiheit des Ziels, also zu entscheiden, was die Charaktere wollen. Vor allem letzteres ist eine gewaltige Herausforderung, weil die Spielleitung ja Abenteuer planen muss; entscheiden sich die Spielenden, etwas anderes tun zu wollen, ist diese Arbeit erstens wertlos und zweitens muss die Spielleitung improvisieren (siehe weiter unten). Ich habe eine andere Spielleitungsphilosophie als Rehm und sehe deswegen die zweite Freiheit als weniger wichtig und die dritte als nicht-existent, aber das wäre Gegenstand eines eigenen Artikels.

Aufgabe der Spielleitung ist es außerdem, die "durchgehende Illusion einer Realität" aufrechtzuerhalten, sprich: die Welt sich lebendig anfühlen zu lassen. Dazu kommt, dass die Spielleitung mit den Spielenden interagieren und ihnen etwas bieten muss. Dazu unterscheidet Rehm die recht geläufigen acht Spieler*innenmotivationen: Herausforderung, Entdeckung, Ausdruck, Fantasie, Gemeinschaft, Erzählung, Sinnesgenuss und Unterwerfung. Alle Spielenden sind zu Teilen von diesen Dingen motiviert. Eine glückliche Spielrunde ist eine, in der für alle etwas dabei ist.

Die Struktur einer Spielrunde erklärt Kapitel 9, "How it All Fits Together". Dazu gehört erst einmal der organisatorische Teil: die Einleitung der Sitzung. Man sollte erst einmal Zeit für Smalltalk lassen, dann organisatorischen Kram besprechen, dann die letzte Sitzung zusammenfassen, dann starten. Das Spiel selbst teilt Rehm in die aus der D&D-Nomenklatur entlehnten Action, Scene, Adventure und Campaign auf. Eine einzelne Handlung ist die kleinste Einheit des Rollenspiels, während eine Szene so lange andauert, bis alle Handlungen durchgeführt wurden (eine Klippe erklettert, ein Kampf gewonnen, eine Wache bestochen, etc.). Das Abenteuer enthält die gesamte abgeschlossene Handlung, während eine Kampagne mehrere Abenteuer miteinander verknüpft. Eine Spielsitzung besteht aus mehreren Szenen, ein Abenteuer dauert mehrere Spielsitzungen und Kampagnen können Jahre dauern. Szenen haben dabei letztlich die Funktion, den Spielenden Anlass für Handlungen zu geben, während die Abenteuer ihrerseits den Anlass für Szenen und die Kampagnen den Anlass für Abenteuer bieten. Auf diese Art und Weise ist alles strukturiert.

Nachdem die Struktur geklärt wurde, kehrt Rehm zur kleinsten Einheit zurück und bespricht in Kapitel 10, "Advanced Action Adjudication", wie Handlungen der Spielenden von der Spielleitung umgesetzt werden. Zwei Grundregeln: je weniger Würfelwürfe, desto besser, und die Regeln sind nur Werkzeuge (was auch viel zu wenige Spielleitungen beherzigen). Von dort ausgehend definiert Rehm die Axiome der Handlung: sie werden erklärt (durch die Spielenden), haben eine Absicht und eine Herangehensweise. Sie bestehen nicht aus Regeln (also nicht: "Ich benutzen Betören auf die Wache", sondern "Ich umgarne die Wache mit flirtigen Avancen"). Danach kommt eine der entscheidensten Lektionen, die ebenfalls viel mehr Spielleitungen beherzigen sollten. Die Spielleitung muss sich fragen, ob die Handlung erfolgreich sein kann, ob sie scheitern kann und ob Risiko besteht. Können die Charaktere nicht erfolgreich sein, scheitern sie automatisch. Können sie nicht scheitern, schaffen sie es. Besteht kein Risiko, können sie es einfach immer wieder versuchen. In all diesen Fällen muss nicht gewürfelt werden. Jede Handlung muss zudem Folgen haben (ansonsten braucht es ebenfalls keine Abhandlung).

Eine weitere wichtige theoretische Unterscheidung wird in Kapitel 11, "Encountering Resistance", erläutert: die zwischen Szenen und Encountern (wofür es kein vernünftiges deutsches Wort gibt; am ehesten noch "Zusammenstöße"). Eine Szene ist eine, in der Spielende und Spielleitung einfach nur durch Sprache miteinander interagieren, etwa ein Gespräch mit NPCs (Non-Player-Characters, also alles, was nicht Charaktere der Spielenden sind, siehe Kapitel 12), während eine Encounter dann entsteht, wenn den Charakteren Widerstand entgegen schlägt. In diesem Fall müssen sie Widerstand überwinden, und dazu braucht es Regeln. Aber das ist nicht das Entscheidende.

Das Entscheidende ist die "dramatische Frage", also worum es geht. Etwa: "Können die Charaktere es schaffen, den Hinterhalt der Goblins zu überleben?" Diese Frage klar gestellt zu haben ist wichtig, weil sie das Ende des Encounters definiert. Die feigen Goblins werden nicht bis zum Letzten kämpfen; wenn die Charaktere ernsthaft Widerstand leisten, ist der Hinterhalt gescheitert und sie werden vermutlich fliehen. Zudem braucht ein Encounter einen Konflikt; reine Gefahr reicht dafür nicht aus. Sobald ein solcher aber existiert, muss die Spielleitung in Gestalt der Gefahr (ob natürlich oder kreaturengemacht) gegen die Charaktere vorgehen, um Spannung zu erzeugen. Ein guter Encounter aber braucht außerdem Entscheidungspunkte, an denen die Spielenden etwas entscheiden müssen (die Grundidee des TTRPG) und eine Struktur, anhand der diese abgehandelt werden können. Rehm liefert hier gute Beispiele.

Diese Lektionen zum Bau von Encountern sind wohl die wertvollsten, die er insgesamt zu bieten hat. Sie haben unser eigenes Spiel wahnsinnig verbessert.

Eher auf bekannten Pfaden wandelt er in Kapitel 12, "Being Other People", in dem es um die Darstellung von NPCs geht. Rehm ist wichtig, nicht zu übertreiben (was leider sehr oft vorkommt), damit das Ganze nicht zum Slapstick verkommt, und betont, dass nur wichtige NPC volle Persönlichkeiten brauchen. Alle anderen sind Staffage mit Persönlichkeit. Für relevante NPC fordert er Persönlichkeit (wie redet die Figur?), Haltung (Körperhaltung der Spielleitung), Pause (um für Antworten Zeit zu gewinnen) und einen Tick (der die Person einzigartig macht). Versuchen die Charaktere in einem Gespräch, Widerstand zu überwinden, wird das Gespräch zu einem Encounter; Rehm bietet hier ein gutes System an, um das Ganze abzuhandeln, das völlig unabhängig vom Spielsystem ist.

In Kapitel 13, "A Bunch of Narrative BS", geht es dann ums Geschichtenerzählen. Rehm bedient sich hier klar bei der Erzähltheorie; wer sich damit auskennt, dem wird das alles bekannt vorkommen. Jede Handlung braucht einen Beginn ("inciting incident"), Hindernisse, eventuell einen Twist und am Ende ein Finale, gefolgt von einem kurzen Epilog. Ohne diese Struktur fühlen sich Geschichten nicht rund an; 99,9% aller Unterhaltungsprodukte folgen ihr. Rehm betont zudem die Bedeutung von Pacing (einmal mehr fehlt ein gutes deutsches Wort), also dem richtigen Spannungsgehalt mit steigender und fallender Handlung.

Darauf folgen mit Kapitel 14, "A Bunch of More Narrative BS", einige weitere relevante (wenngleich für mich nicht neue) Grundregeln. Einerseits gilt es, sich nicht in "Realismus" zu verbeißen, sondern auf Plausibilität zu achten. Auch das gilt für jeden guten Film; es erhält die Illusion einer Welt aufrecht. Zudem betont Rehm die Notwendigkeit, den angemessenen Ton zu treffen - eine dramatische Konfrontation mit dem Drachen sollte nicht durch Comedy-Einlagen zerstört werden.

Falls die Pläne scheitern, bietet Kapitel 15, "Ready for Anything", einige Hinweise zum Improvisieren. Von der Wichtigkeit guter Aufschriebe zu einem simplen "just go with the flow" ist eine Menge dabei. Rehm schließt dieses Kapitel mit einer Daumenregel, Probenmodifikatoren in D&D und Pathfinder über den Daumen zu peilen; für Spielende anderer (besserer) Systeme ist das natürlich wenig hilfreich.

Auf der Metabene gibt es, wie Kapitel 16, "When Everything Goes Wrong", leider ebenfalls einige Dinge, die schief laufen können. Charaktere können sterben (ein umstrittenes Thema, meine Meinung findet sich hier), Spielende können nicht zur Gruppe passen oder fallen ständig aus oder kommen zu spät. Rehm argumentiert in letzteren Fällen für klare Ansagen und entsprechende Konsequenzen; ohne einen sozialen Grundkonsens lasse sich Rollenspiel nicht betreiben. Da hat er zweifellos Recht.

Das letzte Kapitel, "To Be Continued", rührt die Werbetrommel dafür, Abenteuer in Kampagnen zu verwandeln und längere Erzählstrange laufen zu lassen. Ich kann das nur unterstützen; ich spiele nichts anderes als Kampagnen. Viel besseres Spiel.

Ich denke, aus meiner Rezension wurde soweit deutlich, dass ich Rehms Buch grundsätzlich sehr schätze. Die darin enthaltenen Lektionen sind super und haben unser eigenes Spiel massiv verbessert, obwohl wir bereits seit zwei Jahrzehnten spielen. Wer nach dem Buch weiterlesen will, dem sei der Blog Rehms empfohlen - vor allem allerdings die älteren Einträge. Seine neuen haben die unangenehme Eigenschaft, in sehr vielen Worten Altbekanntes neu aufzukochen, und er war ohnehin noch nie jemand, der sich kurz fasst.

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