Samstag, 16. September 2023

Rezension: Juli Zeh - Corpus Delicti. Ein Prozess

 

Juli Zeh - Corpus Delicti. Ein Prozess (Hörbuch) (Fragen zu Corpus Delicti) (Lektüreschlüssel)

Im Jahr 2009 veröffentlichte die Schriftstellerin Juli Zeh einen dystopischen Roman über eine Gesundheitsdiktatur. Das Genre der Dystopie ist keines, dass in der deutschsprachigen Literatur große Beliebtheit hätte. Man verbindet es vielmehr mit Namen wie Orwell oder Huxley. Der dicht geschriebene, zuerst als Theaterstück entstandene Roman eignet sich natürlich hervorragend als Schullektüre. Als solche ist er mittlerweile auch im Abitur Baden-Württemberg - wie in dem zahlreicher anderer Bundesländer - sehr zum Wohle des Geldbeutels Zehs zur Pflichtlektüre avanciert. In der Corona-Pandemie erhielten sowohl Juli Zeh als auch Corpus Delicti einen unerwarteten Aufschwung an öffentlichem Interesse. Der Roman lässt sich mittlerweile kaum mehr lesen, ohne dass nicht sofort Bezüge zur Pandemie aufkommen würden. Das liegt natürlich nicht nur an der Thematik des Romans, sondern auch an der Autorin.

Juli Zeh ist eine streitbare Persönlichkeit. Zudem ist sie im Gegensatz zu den meisten Autor*innen, deren Lektüre in der Schule gelesen wird, sehr lebendig und kann in Debatten um die Deutung ihrer Werke eingreifen, so sie dies wünscht. Im Gegensatz zu vielen anderen Autor*innen wünscht Juli Zeh dies dezidiert. So begnügt sie sich nicht damit, dass andere ihr Werk interpretieren, sondern hat sogar eine Art offiziellen Begleitband verfasst und äußert sich immer wieder in der Öffentlichkeit zu ihrem Werk.

Und damit nicht genug: Juli Zeh gehört wie Richard David Precht in die Kategorie der öffentlichen Intellektuellen, die gerne zu allen Themen der Gegenwart befragt und in Talkshows eingeladen werden, weil sie pointierte, oft polarisierende Thesen vertritt und mit einer Lust an der Provokation zum Besten gibt. Wie man das bewertet hängt vom eigenen Standpunkt gegenüber dem ab, was man einerseits als gute Debattenkultur betrachtet und andererseits die Prämisse des eigenen Wertesystems bildet. Ich möchte im Interesse der Transparenz gleich zu Beginn deutlich machen, dass ich kein Fan von Juli Zeh bin. Das muss nicht den Umgang mit ihren Werken beeinflussen. Ich finde die Person Goethe auch eher abstoßend, ohne dass dies meine Liebe zu Faust beeinflussen würde, und so sympathisch mir Büchner auch sein mag, so wenig kann ich Woyzeck abgewinnen.

Bevor ich mich ausführlicher mit dem Roman beschäftigen will, sei hier eine kurze Inhaltsangabe gegeben:

Der Roman spielt im 21. Jahrhundert in einer von der Regierung namens "Methode" beherrschten Gesundheitsdiktatur. Die Bevölkerung wird streng überwacht und kontrolliert, um Krankheiten auszurotten. Die Protagonistin, Mia Holl, ist eine treue Anhängerin der Methode. Ihr Bruder, Moritz, wird wegen Mordes und Vergewaltigung verurteilt, obwohl er seine Unschuld beteuert und Mia an der Integrität des Systems zweifeln lässt. Die Handlung zeigt einen Gerichtssaal, in dem verschiedene strafrechtliche Fälle verhandelt werden, darunter auch Mias Verstoß gegen Gesundheitsvorschriften. Der Journalist Heinrich Kramer zeigt besonderes Interesse an ihrem Fall. Mias Beziehung zu ihrem Bruder Moritz, der wegen DNA-Beweisen verurteilt wurde, wird beleuchtet, während sie unter dem Druck des Prozesses leidet: die beiden stritten sich über philosophische Fragen.

Mia setzt sich gegen Kramers Ansichten zur Methode zur Wehr und leidet unter dem Verlust ihres Bruders. Eine Vereinbarung mit der Richterin Sophie führt dazu, dass Mia sich den Gesundheitsmaßnahmen unterwirft. Kramer berichtet in einer Talkshow über eine Methodenfeind-Gruppierung namens R.A.K. und betont die Überlegenheit der Methode. Die Handlung vertieft sich in Mias innere Konflikte und ihre Erinnerungen an Moritz. Mia wird von Rosentreter, ihrem Pflichtverteidiger, unterstützt, dessen Strategie ist, Moritz' Fall wieder aufzurollen und seine Unschuld zu beweisen. Ein Gespräch zwischen Mia und Rosentreter offenbart seine persönlichen Beweggründe und seine Beziehungskonflikte. Der Roman erforscht Mias Trauer, ihre Zweifel an der Methode und ihre Auseinandersetzung mit Kramers Ansichten. Das Buch endet mit einer Unterbrechung, als jemand an Mias Tür klingelt.

Kramer betritt Mias Wohnung, was Rosentreter misstrauisch macht. Er teilt Mia mit, dass das Interview abgesagt ist. Ein Wortgefecht mit Rosentreter folgt, das letzterer klar verliert. Kramer durchsucht Mias Sachen, während sie widerwillig über ihren Bruder spricht. Kramer findet ein Foto von Moritz' Selbstmord und geht zufrieden. Mia reflektiert über Kramers Entschlossenheit im Gegensatz zu ihrer eigenen Unsicherheit. Ein Rückblick zeigt Moritz, wie er von Sibylles Tod erzählt und wütend Mias Wohnung verlässt, in dem Glauben, sie halte ihn für schuldig. In der Gegenwart konfrontieren Lizzie, die Pollsche und Driss Mia mit einem Brief, der ihre Wohnsituation gefährdet. Ein Kramer-Artikel beschuldigt Moritz posthum einer terroristischen Bedrohung. Mia debattiert mit ihrem Inneren über Handlungsmöglichkeiten. Die ideale Geliebte drängt Mia zur Aktion gegen die Methode. Mia überlegt ihre Position. In der Vergangenheit wird Moritz verhaftet. Im folgenden Kapitel wird Mia am Flussufer verhaftet, eine Parallele zu Moritz' Erfahrung.

Mias Prozess beginnt wegen angeblicher anti-methodischer Aktivitäten. Bell verliest Anklagen, Rosentreter und Journalisten sind anwesend. Mia argumentiert, dass sie nicht gegen die Methode ist. Rosentreter präsentiert Beweise, die Moritz' Unschuld nahelegen. Das ausbrechende Chaos beendet den Prozess. Driss, die Pollsche und Lizzie verfolgen den Skandal im Fernsehen. Mia steht einem Reporter Rede und Antwort. Als sie nach Hause kommt, bleibt sie trotz Driss' Entschuldigung reserviert. In der Wohnung von Mia feiern Rosentreter und die ideale Geliebte ihren Erfolg und planen weiterhin. Mia erkennt die Bedeutung der Gespräche mit der Geliebten und fühlt sich frei. Rosentreter wird aus der Wohnung geworfen. Mia spricht mit Kramer über die Methode und ihre Bedenken, während Kramer seine Position verteidigt. Mia bereitet sich auf das Interview vor und betont ihre Absicht, nicht falsch dargestellt zu werden. Ein von Kramer niedergeschriebener Monolog von Mia reflektiert ihre Ängste und Zweifel an der Methode und an sich selbst. Kramer plant, Mias Monolog zu nutzen.

Mia wird verhaftet, nachdem gefälschte Anschlagspläne in ihrer Wohnung gefunden wurden. Sie kämpft gegen die Festnahme, wird aber von den Bewohnern weitgehend ignoriert. Im Gefängnis trifft Mia auf Rosentreter, der Klage eingereicht hat. Mia erfährt von den Reaktionen auf ihr Werk, lehnt jedoch die Unterstützung der R.A.K. ab. Kramer verteidigt die Methode in einer Talkshow. Kramer besucht Mia im Gefängnis, versucht, ein Geständnis zu erzwingen, und droht mit Folter. Mia widersteht, wird jedoch gefoltert. Sie kämpft mit den Folgen der Tortur. Kramer erscheint erneut, Mia bedroht ihn mit einer Nadel und entfernt einen Chip. In einer weiteren Verhandlung wird Mia verurteilt, aber dann überraschend begnadigt, um eine Märtyrerin zu verhindern. Kramer plant, Mia durch Umerziehungsmaßnahmen zurück zur Methode zu bringen.

Soviel zum Inhalt.

Zeh hat auch ein Begleitbuch geschrieben: "Fragen an Corpus Delicti". Dieses ist eine Reaktion auf die ungewöhnliche Situation, in der sie sich befindet: als noch lebende Gegenwartsautorin ist ihr Buch in mehreren Bundesländern Abiturlektüre und wird deswegen in außerordentlich hohem Maße rezipiert. Entsprechend viele Fragen gehen bei ihr ein. Anders als Peter Stamm, der mit seinem Roman „Agnes“ vor einigen Jahren in derselben Situation war (siehe hier), beantwortet sie solche Fragen.

Sie bekommt und beantwortet so viele davon, dass sie sie zu einem weiteren Buch zusammengefasst hat. Im Endeffekt liegt damit eine Art novellisiertes Q&A vor, in dem ein fiktiver Gesprächspartner ihr die Fragen stellt, die sie beantworten möchte, was sie dann noch ausführlich tut. Dabei arbeitet sie sich methodisch (hahaha) von der Genese des Romans zu seinen Leitmotiven und Figuren vor. Zeh erklärt dabei, dass ihr Schaffensprozess unterbewusst ablaufe und sie daher ihr eigenes Werk selbst interpretieren müsse, was sie letztlich nur zu einer weiteren interpretierenden Person mache, die nur deswegen über mehr Qualifikationen als die meisten anderen Leute verfüge, weil sie ständig danach gefragt werde.

Ihre auch oft in Interviews geäußerte Ablehnung von Deutschlehrkräften, die auf der realitätsfernen Vorstellungen beruht, diese würden im Unterricht Interpretationen vorgeben, scheint hier eine wichtige Rolle zu spielen: denn egal, wie oft Zeh beteuert, dass sie keine endgültige Version vorgeben möchte, wird ihre in Buchform gegebene Antwort schon allein wegen des Mediums als eine Art letztgültige Version aufgegriffen werden. Inhaltlich findet sich wenig grundlegend Neues, aber die Aufbereitung ist gründlich und einem Lektüreschlüssel deswegen tatsächlich vorzuziehen.

Weniger gut gefällt mir der Teil des Buchs, in dem Juli Zeh was ihre politischen Positionen darlegt. Ich bin hier etwas zwiegespalten: auf der einen Seite finde ich es gut, dass sie ihr Buch explizit als politisch bezeichnet (wenngleich ich es für eine gewagte Behauptung halte, dass es ihr einziges politisches Buch sei) und zu ihren Überzeugungen steht und diese auch offen vertritt, anstatt irgendeine Form von Äquidistanz oder Neutralität zu behaupten. Auf der anderen Seite kann ich mit vielen ihrer Positionen schlicht nichts anfangen.

Dies betrifft vor allem ihre Absolutsetzung des Individuums, nicht prinzipiell, sondern in der übersteigerten Form, in der sie dies gerne tut. Wie wir noch sehen werden, schlägt dies auch auf die Romanhandlungen durch. Gleichzeitig ist mir Ihr Verständnis von Widerstand zutiefst zuwider, was ich ebenfalls noch in der folgenden Rezension thematisieren werde.

Dazu kommt, dass sie sich selbst aus dem eigentlichen politischen Bereich herausnimmt. Auf die Frage, ob sie politisch engagiert sei, erwidert sie, dass sie das nicht denke, sondern dass sie nur in Talkshows und Essays (die ja in den reichweitenstärksten Medien abgedruckt werden) nachdenke. Diese heuchlerische Distanz von Politik dient der eigenen Überhöhung und drängt Politik selbst, was viel schlimmer ist, in einen irgendwie schmutzigen Bereich, den man eigentlich meiden sollte. Diese Vorstellung einer klaren Trennung der Lebensbereiche durchzieht ihr komplettes Denken: der Staat solle einige wenige Dinge klar regeln und sich anderweitig heraushalten. Das ist als politische Zielsetzung auch völlig in Ordnung, gerät bei Zeh allerdings zu einer Art Statement über die Natur der Dinge: so hat es zu sein, weil es die einzig richtige Form ist, in der Gesellschaft sich organisieren kann. Dieser Absolutheitsanspruch tritt bei ihr immer wieder auf.

Mehrmals thematisiert sie auch die Rolle von 9/11 und der Terrorgesetzgebung auf ihr Wirken. Es mag mit dem großen zeitlichen Abstand zusammenhängen, aber dieser Einfluss ist in Corpus Delicti nur sehr abgedämpft zu spüren und gerät gegenüber den gesellschaftlichen Themen - vor allem ihrem Kampf gegen Gesundheitspolitik, die sie vehement ablehnt - deutlich ins Hintertreffen. Wenn Zeh erklärt, dass Gesundheit als Thema ihrer Dystopie letztlich ein willkürlich gewählter Gegenstand sei, ist das Kokettieren. Das Thema ist ihr allzu nahe und bestimmt ihre öffentlichen Auftritte seither auch stark, und die Ähnlichkeiten zwischen ihr und ihrer Hauptfigur Mia Holl sind auf diesem Gebiet zu augenscheinlich, um nicht direkt aufzufallen.

Natürlich gibt es auch offizielle Lektüreschlüssel. Ich habe den von Westermann, "EinFach Deutsch: Corpus Delicti...verstehen" gelesen. Diesen Teil kann ich kurz machen. Knapp die Hälfte des Leitfadens besteht aus einer inhaltlichen Zusammenfassung, die keine Wünsche offen lässt (und, ja, die Lektüre des Buchs weitgehend erspart) und auch zum schnellen Nachblättern des Inhalts sehr gut geeignet ist (wofür sie eigentlich gedacht ist). Dem folgt ein Abschnitt über die Autorin und die Genese des Romans, bevor eine viel zu kurze Analyse der Personen und der Leitmotive folgt, eher ein extrem knapper Überblick über die Rezeption (mit sehr merkwürdigen Schwerpunktsetzungen) folgt, ehe der Band mit zwei Beispielklausuren und Musterlösungen abschließt, wie sie zumindest in Baden-Württemberg vollkommen irrelevant sind. In Kürze: ich kann in diesen Lektüreleitfaden nicht sonderlich empfehlen und würde daher dazu raten, das Glück mit einem anderen, etwa von Klett oder Reclam, zu versuchen. Ich habe allerdings ehrlich gesagt nicht den Nerv, noch einen zu lesen.

Und so viel zu den Begleitwerken. Nun zum eigentlichen Thema: was halte ich von Juli Zehs Werk?

Wie bereits eingangs erwähnt sind meine Gedanken zwiespältig. Einerseits ist die Thematik grundsätzlich eine, die ich feiere: Dystopien sind ein spannendes Genre, das zudem in der deutschen Literatur aus irgendeinem Grund nicht sonderlich beliebt zu sein scheint; es ist eher ein angelsächsisches Phänomen. Die Funktionsweise eines totalitären Systems zu erkunden ist auch immer ein relevanter Gegenstand, weil die Demokratie in beständiger Gefahr ist.

Gleichzeitig allerdings sollte man vorsichtig sein: der Totalitarismus ist weitgehend verschwunden. Die große Gefahr für Demokratien heute ist nicht er, sondern der Autokratismus. Totalitäre Systeme haben jede Anziehungskraft verloren. Die Warnung vor ihnen erscheint daher ein wenig aus der Zeit gefallen, weil nur schwer vorstellbar ist, wie die Gesellschaft sich ihnen unterwirft und sie überhaupt erst attraktiv finden soll. Das gilt für andere antidemokratische und antiliberale Gesellschaftsmodelle in viel geringerem Maße.

Ich glaube, dass einer meiner großen Kritikpunkte an der Rahmenhandlung von Corpus Delicti auch darauf zurückzuführen ist: die Welt ist nicht sonderlich glaubhaft. Nun hat Zeh es, wenn man ihren Aussagen in "Fragen zu Corpus Delicti" glauben darf (und ich denke, das darf man) es auch nicht darauf angelegt, glaubhaft zu sein und ganz bewusst viele Festlegungen nicht getroffen. Sie wollte generelle Aussagen machen. Allein, das führt dazu, dass zahlreiche relevante Bereiche ausgespart oder in geradezu absurde Konstruktionen ausgelagert werden. So liest die gesamte Gesellschaft eine gedruckte Zeitung namens "Der gesunde Menschenverstand", in dem ein einzelner Starjournalist den Ton angibt, der deswegen ein Star ist, weil er komplexe philosophische Grundlagentexte mit "überzeugender Argumentationsführung" schreibt. Damit reüssiert er auch in der Talkshow "Was alle denken" mit ihrem Moderator Würmer (beide Namen sehr subtil...). Das ist dermaßen entfernt von aller Realität, dass es mich beständig aus der Lektüre reißt. Auch die anderen Personen und ihre Motive bleiben nebulös. Ich kann nicht erkennen, wie das Leben in diesem Staat tatsächlich vor sich geht.

Das liegt sicher an der Genese des Romans. Ursprünglich hatte Zeh ihn als Theaterstück geschrieben, und die Reduktion auf wenige Orte (am besten drinnen) und wenige Personen und keinerlei Schnickschnack kam dieser spröden Setzung natürlich entgegen. Aber für einen Roman ist das nicht ganz unproblematisch. Dasselbe gilt für die Dialoge, die ihre Herkunft von der Bühne kaum verleugnen können: die Personen deklamieren eher Monologe aneinander hin, als dass sie miteinander sprechen.

Zeh gibt dies auch unumwunden zu: die Figuren sind eher Container für Ideen und philosophische Positionen, als dass sie Charaktere wären. Besonders nervig find ich dies bei den Figuren von Moritz und der Idealen Geliebten. Moritz spricht beständig in schwülstigen Erklärungen, in denen sich Satzkonstruktionen aufeinanderstapeln. Seine Dialoge sind im Endeffekt Essays. Ich kann gar nicht zählen, wie oft ich beim Lesen die Augen verdreht habe. Diese Art von Exposition mit dem Zaunpfahl empfinde ich als entmündigend (angesichts der Autorin und dem Gegenstand des Romans ironisch, ich weiß). Die Figur der Idealen Geliebten hat dasselbe Problem, wenngleich glücklicherweise nicht ganz so sehr im Dialog selbst, sondern eher in ihrer Struktur: sie ist erkennbar ein Gedankenkonstrukt, nicht nur aus einer Watsonischen Perspektive, sondern auch aus einer Doylistischen. Es ist eine unglaubliche Künstlichkeit, die den ganzen Roman durchzieht und die selbstverständlich ein bewusstes Stilmittel Zehs ist. Das ist eine Geschmacksfrage; ich kann damit nichts anfangen und bevorzuge es, wenn Themen und Leitmotive implizit thematisiert werden und nicht explizit. Vermutlich ist dies auch ein Grund dafür, dass ich privat so wenig Romane lese.

Soviel zur Struktur des Romans. Ich könnte diese vermutlich viel leichter verzeihen, wenn mich der Inhalt nicht auch so häufig abstoßen würde. In einem gewissen Rahmen ist dies natürlich eine positive Sache, weil emotionale und intellektuelle Reaktionen auf Literatur ja genau das sind, was Literatur erreichen soll und kann, was ihre eigentliche Stärke ist. Angenehm ist es deswegen allerdings noch lange nicht.

Ein Thema, das selbst Leute, denen das Buch besser gefällt als mir als Problem aufgebracht haben, ist das große Potential für Fehlinterpretationen: Zeh argumentiert explizit nicht generell wissenschafts- oder staatsfeindlich, kann aber sehr leicht in diese Richtung gelesen werden. Es erfordert schon eine sehr präzise Lektüre, Zeh hier nicht misszuverstehen, und selbst dann sind ihre späteren Anmerkungen in Interviews, Podcasts und natürlich ihrem Nachgeschobenen Erklärbuch einerseits sehr hilfreich, andererseits aber auch eine Interpretation vorgebend, was die gesamte Problematik mit dieser Art von Äußerungen einmal mehr aufzeigt. Ihr eigener politischer Aktivismus, vor allem während der Corona-Pandemie, hilft da auch nicht eben, das Bild zu klären.

Ein weiterer Punkt, der mir Bauchschmerzen bereitet, ist die Figur von Heinrich Kramer. Literarisch gesehen ist er die Verkörperung und Personifikation des Systems, ist wenn nicht der Erfinder der METHODE so doch zumindest ein zentraler Einfluss. Seine Fähigkeit, überall ein- und auszugehen und alles stets zu wissen und zu beeinflussen ist von Zeh explizit so angelegt. Gleichzeitig allerdings hat sie ihn bewusst als einen Journalisten inszeniert. Nimmt man ihr eigenes bestenfalls ambivalentes Verhältnis zum Journalismus hinzu, entsteht hier ein weiterer problematischer Interpretationskomplex, bei dem das Standbein der Demokratie, die Freie Presse, als elementares Standbein eines totalitären Systems erscheint. Diese Argumentation hat besonders während der Corona-Pandemie neuen Auftrieb bekommen und ist mehr als problematisch.

Zeh macht es sich auch generell wesentlich zu einfach, wo ist und die Gegenseite geht. Die METHODE ist eine solche Übersteigerung jegliche Idee von Körperoptimierung und Gesundheitspolitik, dass sie letztlich ein Strohmann, ein argumentativer Pappkamerad wird, den dann mit großem Getöse einzureißen extrem leicht ist. Zeh verwirft jegliche Vorstellung von Gesundheit als politischer und gesellschaftlicher Zielvorstellung (nicht meine Interpretation, sie sagt das im Begleitbuch explizit), was man natürlich machen kann, was allerdings in sich eine ziemlich radikale Forderung ist. Das darum herum konstruierte totalitäre System lässt dies dann als eher moderat erscheinen. Der Totalitarismus allerdings ist eine Übersteigerung Zehs. Sie sagte in ihrem Begleitbuch explizit, dass das Problem aller Gesundheitspolitik die Entmündigung der Menschen sei, denen es eigentlich zu gut gehe, die quasi in einem ständigen Wellnesshotel lebten. Diese politische Einstellung der Autorin findet sich letztlich 1:1 in der gesamten Anlage des Romans wieder. Für Zeh ist bereits das Rauchverbot in Gaststätten ein Schritt in den Totalitarismus. Kaum überraschend also, dass einer der ersten Schritte Mia Holls zur gedanklichen Freiheit im Roman das Rauchen eine Zigarette ist und dass dies für das Regime einen besonderen Anlass der Provokation darstellt.

Es ist die Absolutheit der Positionen Zehs und Mia Holls, die mich so abstößt. Auf der einen Seite erhebt die METHODE einen Anspruch der Absolutheit, der Letztgültigkeit, der auf geradezu absurde Weise übersteigert ist: in der Person Kramers wird die Unfehlbarkeit und der Status als bestmögliche Variante explizit gemacht. Wenn allerdings ein System für sich Unfehlbarkeit reklamiert, weiß man eigentlich bereits, dass es intellektuell unehrlich, totalitär und grundsätzlich auf der bösen Seite steht. Mia setzt aber ihrerseits ihren eigenen Widerstand ebenfalls absolut: Ist der Radikalismus, der ihren eigenen Widerstand gegen die METHODE auszeichnet, der aber in der Inszenierung des Romans als positiv gewertet wird.

Die Erzählperspektive ist grundsätzlich auktorial; der Erzähler kommentiert immer wieder das Geschehen und ordnet es ein. Deswegen kann mit einer gewissen Sicherheit die Position Mias, so diese nicht in einen interpretierbaren Kontext gestellt wird (was.de facto nicht passiert) als letztgültiges Urteil gesehen werden. Auch hier besteht großes Potential für missverständliche Interpretationen das Werks.

Zuletzt stört mich auch der unpolitische Charakter des Widerstands. Dies ist ein generelles Problem in Deutschland: Widerstand wird grundsätzlich als ein individueller Widerstand die existenziellen Siege und der Verabsolutierung des Individuums gesehen (ich habe darüber an anderer Stelle geschrieben). Mias großes Pamphlet, in dem sie der METHODE unter großzügiger Verwendung der Anapher des Personalpronomens „Ich“ das Vertrauen entzieht, ist einzig und allein ihr persönlicher Text.

Die Demokratie ist für Zeh ein System, dessen einzige Legitimation darin liegt, die maximale Entfaltung des Einzelnen zu ermöglichen. Es gibt, quasi in den Worten Thatchers, keine Gesellschaft. Mia entzieht zwar der METHODE mit großem rhetorischem Getöse das Vertrauen, es gibt aber nichts, dem sie dieses Vertrauen geben würde. Entsprechend hohl bleibt die Systemkrise der METHODE. Zwar gibt es Proteste, die Mia offensichtlich inspiriert hat, doch diese hängen allein von der Glaubwürdigkeit ihrer Person und dem Vertrauen in das System ab, dem es dann mit fadenscheinigen Methoden gelingt, ihre Glaubwürdigkeit zu zerstören, was die Masse der Menschen sofort wieder auf Linie bringt.

Darin ist implizit ein sehr abwertendes Bild der Mehrheitsgesellschaft verwoben, die letztlich wie Schafe bestimmt werden will. Auch dies macht Zeh in ihrem Begleitbuch explizit. Es ist ein elitäres Bild einiger weniger, die wach genug sind, ihre eigene Entmündigung zu begreifen und sich gegen sie zu stellen, allerdings als Individuen und ohne jegliche Organisation oder Vorstellung, was danach Besseres kommen solle. Zeh würde dies vermutlich als aufklärerisch sehen, doch habe ich hier meine Zweifel. Die Aufklärer schließlich hatten als Ziel, die Menschen zur Mündigkeit zu erziehen - ein Anspruch, den Zeh mit Verve ablehnen würde.

Das alles macht die Lektüre von „Corpus Delicti“ für mich zu einer schwierigen Angelegenheit. Ich kann mich natürlich daran reiben und an manchen Stellen Widerspruch leisten, aber das gewählte Sujet erschwert das gleichzeitig: es ist ja gerade der Absolutismus, der dem hier im Weg steht. Für Mia Holl wie für Juli Zeh gibt es nur zwei Positionen, jeglicher Mittelweg, jeglicher Graubereich existiert nicht. Entweder ich unterwerfe mich mit Leib und Seele dem totalitären System der METHODE, oder ich breche mit seinen Zielen und Vorstellungen komplett und gehe in eine radikalindividualistische Richtung, die in letzter Konsequenz aber auch ein gesellschaftliches Extrem darstellt, bin gleich sie hier als positive Alternative dargestellt ist. Letztlich können wir alle froh sein, in einer pluralistischen Demokratie zu leben, in der wir manche Ideen verwerfen, andere in Ansätzen übernehmen und wieder andere weiterentwickeln können. Alles, was es dafür braucht, ist es, andere Ansätze als die eigenen grundsätzlich als legitim aufzufassen.

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