Mittwoch, 13. September 2023

Rezension: Juli Zeh - Corpus Delicti. Ein Prozess (Teil 1)

 

Juli Zeh - Corpus Delicti. Ein Prozess (Hörbuch) (Fragen zu Corpus Delicti) (Lektüreschlüssel)

Im Jahr 2009 veröffentlichte die Schriftstellerin Juli Zeh einen dystopischen Roman über eine Gesundheitsdiktatur. Das Genre der Dystopie ist keines, dass in der deutschsprachigen Literatur große Beliebtheit hätte. Man verbindet es vielmehr mit Namen wie Orwell oder Huxley. Der dicht geschriebene, zuerst als Theaterstück entstandene Roman eignet sich natürlich hervorragend als Schullektüre. Als solche ist er mittlerweile auch im Abitur Baden-Württemberg - wie in dem zahlreicher anderer Bundesländer - sehr zum Wohle des Geldbeutels Zehs zur Pflichtlektüre avanciert. In der Corona-Pandemie erhielten sowohl Juli Zeh als auch Corpus Delicti einen unerwarteten Aufschwung an öffentlichem Interesse. Der Roman lässt sich mittlerweile kaum mehr lesen, ohne dass nicht sofort Bezüge zur Pandemie aufkommen würden. Das liegt natürlich nicht nur an der Thematik des Romans, sondern auch an der Autorin.

Juli Zeh ist eine streitbare Persönlichkeit. Zudem ist sie im Gegensatz zu den meisten Autor*innen, deren Lektüre in der Schule gelesen wird, sehr lebendig und kann in Debatten um die Deutung ihrer Werke eingreifen, so sie dies wünscht. Im Gegensatz zu vielen anderen Autor*innen wünscht Juli Zeh dies dezidiert. So begnügt sie sich nicht damit, dass andere ihr Werk interpretieren, sondern hat sogar eine Art offiziellen Begleitband verfasst und äußert sich immer wieder in der Öffentlichkeit zu ihrem Werk.

Und damit nicht genug: Juli Zeh gehört wie Richard David Precht in die Kategorie der öffentlichen Intellektuellen, die gerne zu allen Themen der Gegenwart befragt und in Talkshows eingeladen werden, weil sie pointierte, oft polarisierende Thesen vertritt und mit einer Lust an der Provokation zum Besten gibt. Wie man das bewertet hängt vom eigenen Standpunkt gegenüber dem ab, was man einerseits als gute Debattenkultur betrachtet und andererseits die Prämisse des eigenen Wertesystems bildet. Ich möchte im Interesse der Transparenz gleich zu Beginn deutlich machen, dass ich kein Fan von Juli Zeh bin. Das muss nicht den Umgang mit ihren Werken beeinflussen. Ich finde die Person Goethe auch eher abstoßend, ohne dass dies meine Liebe zu Faust beeinflussen würde, und so sympathisch mir Büchner auch sein mag, so wenig kann ich Woyzeck abgewinnen.

Bevor ich mich ausführlicher mit dem Roman beschäftigen will, sei hier eine kurze Inhaltsangabe gegeben:

Der Roman spielt im 21. Jahrhundert in einer von der Regierung namens "Methode" beherrschten Gesundheitsdiktatur. Die Bevölkerung wird streng überwacht und kontrolliert, um Krankheiten auszurotten. Die Protagonistin, Mia Holl, ist eine treue Anhängerin der Methode. Ihr Bruder, Moritz, wird wegen Mordes und Vergewaltigung verurteilt, obwohl er seine Unschuld beteuert und Mia an der Integrität des Systems zweifeln lässt. Die Handlung zeigt einen Gerichtssaal, in dem verschiedene strafrechtliche Fälle verhandelt werden, darunter auch Mias Verstoß gegen Gesundheitsvorschriften. Der Journalist Heinrich Kramer zeigt besonderes Interesse an ihrem Fall. Mias Beziehung zu ihrem Bruder Moritz, der wegen DNA-Beweisen verurteilt wurde, wird beleuchtet, während sie unter dem Druck des Prozesses leidet: die beiden stritten sich über philosophische Fragen.

Mia setzt sich gegen Kramers Ansichten zur Methode zur Wehr und leidet unter dem Verlust ihres Bruders. Eine Vereinbarung mit der Richterin Sophie führt dazu, dass Mia sich den Gesundheitsmaßnahmen unterwirft. Kramer berichtet in einer Talkshow über eine Methodenfeind-Gruppierung namens R.A.K. und betont die Überlegenheit der Methode. Die Handlung vertieft sich in Mias innere Konflikte und ihre Erinnerungen an Moritz. Mia wird von Rosentreter, ihrem Pflichtverteidiger, unterstützt, dessen Strategie ist, Moritz' Fall wieder aufzurollen und seine Unschuld zu beweisen. Ein Gespräch zwischen Mia und Rosentreter offenbart seine persönlichen Beweggründe und seine Beziehungskonflikte. Der Roman erforscht Mias Trauer, ihre Zweifel an der Methode und ihre Auseinandersetzung mit Kramers Ansichten. Das Buch endet mit einer Unterbrechung, als jemand an Mias Tür klingelt.

Kramer betritt Mias Wohnung, was Rosentreter misstrauisch macht. Er teilt Mia mit, dass das Interview abgesagt ist. Ein Wortgefecht mit Rosentreter folgt, das letzterer klar verliert. Kramer durchsucht Mias Sachen, während sie widerwillig über ihren Bruder spricht. Kramer findet ein Foto von Moritz' Selbstmord und geht zufrieden. Mia reflektiert über Kramers Entschlossenheit im Gegensatz zu ihrer eigenen Unsicherheit. Ein Rückblick zeigt Moritz, wie er von Sibylles Tod erzählt und wütend Mias Wohnung verlässt, in dem Glauben, sie halte ihn für schuldig. In der Gegenwart konfrontieren Lizzie, die Pollsche und Driss Mia mit einem Brief, der ihre Wohnsituation gefährdet. Ein Kramer-Artikel beschuldigt Moritz posthum einer terroristischen Bedrohung. Mia debattiert mit ihrem Inneren über Handlungsmöglichkeiten. Die ideale Geliebte drängt Mia zur Aktion gegen die Methode. Mia überlegt ihre Position. In der Vergangenheit wird Moritz verhaftet. Im folgenden Kapitel wird Mia am Flussufer verhaftet, eine Parallele zu Moritz' Erfahrung.

Mias Prozess beginnt wegen angeblicher anti-methodischer Aktivitäten. Bell verliest Anklagen, Rosentreter und Journalisten sind anwesend. Mia argumentiert, dass sie nicht gegen die Methode ist. Rosentreter präsentiert Beweise, die Moritz' Unschuld nahelegen. Das ausbrechende Chaos beendet den Prozess. Driss, die Pollsche und Lizzie verfolgen den Skandal im Fernsehen. Mia steht einem Reporter Rede und Antwort. Als sie nach Hause kommt, bleibt sie trotz Driss' Entschuldigung reserviert. In der Wohnung von Mia feiern Rosentreter und die ideale Geliebte ihren Erfolg und planen weiterhin. Mia erkennt die Bedeutung der Gespräche mit der Geliebten und fühlt sich frei. Rosentreter wird aus der Wohnung geworfen. Mia spricht mit Kramer über die Methode und ihre Bedenken, während Kramer seine Position verteidigt. Mia bereitet sich auf das Interview vor und betont ihre Absicht, nicht falsch dargestellt zu werden. Ein von Kramer niedergeschriebener Monolog von Mia reflektiert ihre Ängste und Zweifel an der Methode und an sich selbst. Kramer plant, Mias Monolog zu nutzen.

Mia wird verhaftet, nachdem gefälschte Anschlagspläne in ihrer Wohnung gefunden wurden. Sie kämpft gegen die Festnahme, wird aber von den Bewohnern weitgehend ignoriert. Im Gefängnis trifft Mia auf Rosentreter, der Klage eingereicht hat. Mia erfährt von den Reaktionen auf ihr Werk, lehnt jedoch die Unterstützung der R.A.K. ab. Kramer verteidigt die Methode in einer Talkshow. Kramer besucht Mia im Gefängnis, versucht, ein Geständnis zu erzwingen, und droht mit Folter. Mia widersteht, wird jedoch gefoltert. Sie kämpft mit den Folgen der Tortur. Kramer erscheint erneut, Mia bedroht ihn mit einer Nadel und entfernt einen Chip. In einer weiteren Verhandlung wird Mia verurteilt, aber dann überraschend begnadigt, um eine Märtyrerin zu verhindern. Kramer plant, Mia durch Umerziehungsmaßnahmen zurück zur Methode zu bringen.

Soviel zum Inhalt.

Zeh hat auch ein Begleitbuch geschrieben: "Fragen an Corpus Delicti". Dieses ist eine Reaktion auf die ungewöhnliche Situation, in der sie sich befindet: als noch lebende Gegenwartsautorin ist ihr Buch in mehreren Bundesländern Abiturlektüre und wird deswegen in außerordentlich hohem Maße rezipiert. Entsprechend viele Fragen gehen bei ihr ein. Anders als Peter Stamm, der mit seinem Roman „Agnes“ vor einigen Jahren in derselben Situation war (siehe hier), beantwortet sie solche Fragen.

Sie bekommt und beantwortet so viele davon, dass sie sie zu einem weiteren Buch zusammengefasst hat. Im Endeffekt liegt damit eine Art novellisiertes Q&A vor, in dem ein fiktiver Gesprächspartner ihr die Fragen stellt, die sie beantworten möchte, was sie dann noch ausführlich tut. Dabei arbeitet sie sich methodisch (hahaha) von der Genese des Romans zu seinen Leitmotiven und Figuren vor. Zeh erklärt dabei, dass ihr Schaffensprozess unterbewusst ablaufe und sie daher ihr eigenes Werk selbst interpretieren müsse, was sie letztlich nur zu einer weiteren interpretierenden Person mache, die nur deswegen über mehr Qualifikationen als die meisten anderen Leute verfüge, weil sie ständig danach gefragt werde.

Ihre auch oft in Interviews geäußerte Ablehnung von Deutschlehrkräften, die auf der realitätsfernen Vorstellungen beruht, diese würden im Unterricht Interpretationen vorgeben, scheint hier eine wichtige Rolle zu spielen: denn egal, wie oft Zeh beteuert, dass sie keine endgültige Version vorgeben möchte, wird ihre in Buchform gegebene Antwort schon allein wegen des Mediums als eine Art letztgültige Version aufgegriffen werden. Inhaltlich findet sich wenig grundlegend Neues, aber die Aufbereitung ist gründlich und einem Lektüreschlüssel deswegen tatsächlich vorzuziehen.

Weniger gut gefällt mir der Teil des Buchs, in dem Juli Zeh was ihre politischen Positionen darlegt. Ich bin hier etwas zwiegespalten: auf der einen Seite finde ich es gut, dass sie ihr Buch explizit als politisch bezeichnet (wenngleich ich es für eine gewagte Behauptung halte, dass es ihr einziges politisches Buch sei) und zu ihren Überzeugungen steht und diese auch offen vertritt, anstatt irgendeine Form von Äquidistanz oder Neutralität zu behaupten. Auf der anderen Seite kann ich mit vielen ihrer Positionen schlicht nichts anfangen.

Dies betrifft vor allem ihre Absolutsetzung des Individuums, nicht prinzipiell, sondern in der übersteigerten Form, in der sie dies gerne tut. Wie wir noch sehen werden, schlägt dies auch auf die Romanhandlungen durch. Gleichzeitig ist mir Ihr Verständnis von Widerstand zutiefst zuwider, was ich ebenfalls noch in der folgenden Rezension thematisieren werde.

Dazu kommt, dass sie sich selbst aus dem eigentlichen politischen Bereich herausnimmt. Auf die Frage, ob sie politisch engagiert sei, erwidert sie, dass sie das nicht denke, sondern dass sie nur in Talkshows und Essays (die ja in den reichweitenstärksten Medien abgedruckt werden) nachdenke. Diese heuchlerische Distanz von Politik dient der eigenen Überhöhung und drängt Politik selbst, was viel schlimmer ist, in einen irgendwie schmutzigen Bereich, den man eigentlich meiden sollte. Diese Vorstellung einer klaren Trennung der Lebensbereiche durchzieht ihr komplettes Denken: der Staat solle einige wenige Dinge klar regeln und sich anderweitig heraushalten. Das ist als politische Zielsetzung auch völlig in Ordnung, gerät bei Zeh allerdings zu einer Art Statement über die Natur der Dinge: so hat es zu sein, weil es die einzig richtige Form ist, in der Gesellschaft sich organisieren kann. Dieser Absolutheitsanspruch tritt bei ihr immer wieder auf.

Weiter geht es in Teil 2.

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