Mittwoch, 13. Dezember 2023

Eine Debatte mit einem Aktivisten der "Letzten Generation"

 

Ich besuchte mit meinem Geschichte-Leistungsfach ein Seminar des Studienhaus Wiesneck (eine Einrichtung der Landeszentrale für Politische Bildung) zum Thema "Protestkulturen im Ost-West-Konflikt". Die Thematik ist Sternchenthema im Abitur, weswegen das Seminar Gelegenheit für eine gute Vertiefung war. Neben einer Betrachtung der Aufstände 1953, 1956 und 1968 sowie der Solidarnosz im Ostblock und den 68ern, der Frauenbewegung, der Friedensbewegung, den Querdenkern und Fridays for Future im Westen hatten wir am letzten Tag auch einen Aktivisten der Letzten Generation zu Gast. Sein Besuch war in eine generelle Diskussion zu den Formen und Grenzen von demokratischem Protest eingebettet. Die anwesenden insgesamt 19 Schüler*innen sollten dabei in eine kritische Diskussion mit ihm gehen. Diese will ich im Folgenden für das interessierte Publikum protokollieren.

Der Vortrag begann mit dem Werdegang. Während des Studiums war dem 25jährigen immer mehr klar geworden, dass er eine moralische Verantwortung empfand, aktiv etwas zu tun, bevor er in den Beruf eintreten würde, in dem er dann vielleicht andere Spielräume haben wird. Den Aktivismus mit dem Studium zu verbinden ist dabei eine seiner persönlichen Hauptherausforderungen. Nach dieser kurzen Vorrede begann er mit seinem Vortrag.

Die Klimakrise - ein Begriff, den er wegen des fortgeschrittenen Standes derselben vor "Klimawandel" bevorzugte - stelle ein globales Problem auf mehreren Ebenen dar, von Umweltfolgen zu Migration. Das Hochwasser im Ahrtal nannte er als eine Art Wasserscheide, anhand der ein stärkeres Bewusstsein für den Klimawandel entstanden sei. Die Klimakrise sei eine Krise sui generis, die nicht mit anderen Krisen vergleichbar sei. Daraus resultiere eine andere Legitimationsgrundlage für Protest.

Dafür entscheidend seien die Kipppunkte, auf die auch der Name der Gruppe Bezug nimmt: "Letzte Generation vor den Kipppunkten". Das Konzept markiert Punkte, die einen Point of No Return darstellen, nach dem keine Reparatur von schädlichen Dynamiken durch den menschengemachten Klimawandel mehr möglich ist. Wo diese genau liegen, ist natürlich unklar; Wissenschaftler*innen entwickelten deswegen Szenarien. Das positive Szenario sehe vor, dass wir die Emissionen auf null reduzieren, während das negative Szenario von einer Beibehaltung des Status Quo ausgehe. Bei nur 2° Erwärmung, ein zunehmend unrealistisches Ziel, träten bereits eine große Menge Kipppunkte auf, vom Auftauen der Permafrostböden bis zur Änderung von Meeresströmungen.

Die wissenschaftliche Grundlage derart gelegt, leitete er zum Thema "Ziviler Ungehorsam" über. Diesen sieht er in einer längeren historischen Tradition, als ein legitimes Mittel, um auf aktuelle Missstände und Ungerechtigkeiten aufmerksam zu machen. Der genutzte Vergleich war (natürlich) Martin Luther King. In die Tradition dieses aufmerksam Machen von Missständen stellt er auch die Letzte Generation. Er definiert zivilen Ungehorsam als bewusstes Überschreiten von Grenzen, um auf Ungerechtigkeiten aufmerksam zu machen. Die Verbindung von zivilem Ungehorsam und der Klimakrise machte er am Beispiel eines niederländischen Protests gegen klimaschädliche Subventionen deutlich, weil hier sowohl Schädlichkeit als auch Ungerechtigkeit der aktuellen Politik deutlich würden. Diese Proteste entstanden durch Extinction Rebellion und erreichten fünfstellige Teilnehmendenzahlen pro Tag. Diese Demos waren unangekündigt, das Erzeugen einer Störung war bewusstes Ziel der Proteste, um so Aufmerksamkeit zu erzeugen. Über 27 Tage Protest und 9000 Festnahmen überforderten die Behörden derart, dass es ihnen nicht möglich war, sie zu unterdrücken. Dies habe eine Reaktion der Politik erzwungen. Die Regierung entwickelt derzeit einen Plan, bis 2030 aus fossilen Subventionen auszusteigen, was in Deutschland nicht eben auf der Tagesordnung steht.

Damit ging er zur Letzten Generation über und thematisierte auch gleich die Frage, warum Farbanschläge und Straßenblockaden durchgeführt werden, da dies ja "normale" Menschen störe. Er sieht in der Letzten Generation eine Art Feueralarm, der darauf aufmerksam macht, wie relevant das Problem ist. Ihre Perspektive sei, dass der Staat permanent gegen das Grundgesetz verstoße, da Artikel 20a den Schutz der Lebensgrundlagen vorschreibe und dies nicht eingehalten werde. Den Vorwurf des Pessimismus wies er zurück, wenngleich er das Klimaschutzgesetz (2019) und das BVerfG-Urteil (2021) durchaus würdigte. Als Rückschritt empfindet er die Aufweichung der Sektorziele, vor allem für Volker Wissings Verkehrssektor.

Die Strategie der Letzten Generation bestehe daraus, die Regierungen zu einer vollkommenen Abkehr von den fossilen Energieträgern zu bringen. Das passiert offenkundig nicht (siehe COP28), weswegen die Letzte Generation Druck und Aufmerksamkeit erzeugen wolle. Sein Protestverständnis folge dabei dem unbedingten Primat der Gewaltfreiheit, wodurch neben der Gemeinwohlförderlichkeit eine moralische Überlegenheit gegenüber der Gewalt anwendenden Regierung entstünde. Dieses Verständnis sieht er in der Letzten Generation verwirklicht wird. Die Forderungen der Letzten Generation seien die Wiedereinführung des 9€-Tickets, ein Tempolimit von 100km/h, ein Gesellschaftsrat und der Ausstieg aus fossilen Energieträgern. Bezüglich der Effizienz der Proteste zeigte er sich offen für Kritik und bezeichnete sich selbst als in einem Findungsprozess.

Damit ging es in die offene Diskussion.

Die erste Frage war, dass die Proteste viel Unmut in der Bevölkerung hervorriefen und ob es nicht Sinn mache, sich vor ein Kohlekraftwerk zu kleben. Der Aktivist antwortete, dass alle Menschen gleichermaßen von der Klimakrise betroffen seien. Da wir im globalen Norden wesentlich mehr Emissionen verursachten als der globale Süden, seien wir quasi alle Täter*innen. Zudem würden die fossilen Energieunternehen bereits durch andere Gruppen wie Ende Gelände abgedeckt. Die Sicherung der Unternehmen durch Versicherungen und Lobbyismus führe zudem dazu, dass die Kosten umgelegt würden und die Unternehmen den längeren Atem hätten. Zudem gebe es zu wenig Interesse an solchen Protesten, müsse aber in die Breite getragen werden; es entstehe kein Transfer, kein gesamtgesellschaftliches Verständnis. Die Protestkationen der Letzten Generation erzwängen diese Auseinandersetzung, ein Protest vor dem Kraftwerk nicht, gerade weil der Alltag gestört werde.

Natürlich folgte die Nachfrage nach dem Backlash. Der Aktivist lehnte die Prämisse ab, dass radikaler Protest unweigerlich zu einer Ablehnung des Anliegens führe. Er betonte, dass die Verschiebung des Diskurses von institutioneller Ebene auf die individuelle wenig hilfreich sei, das Fingerzeigen auf individuelle Handlungen sei falsch. Es brauche gesamtgesellschaftliche Resilienz. Er habe das auch getan - Flugscham erzeugen etc. - und sei davon abgekommen, weil er diese Attacken ablehne. Stattdessen brauche es politische Handlungen, verbindlich für alle. Dazu sei eine gesamtgesellschaftliche Debatte über grundlegende Themen wie Individualverkehr notwendig. Seitens der Schüler*innen kam die Kritik, dass das auf die Straße Kleben ja aber genau eine solche Individualisierung betreibe. Der Aktivist erwiderte, dass die Letzte Generation nicht die Weisheit gepachtet habe und nur Aufmerksamkeit erzeugen wolle; die Debatte müsse gesamtgesellschaftlich geführt werden. Abschließend lasse sich die Wirksamkeit der Methoden noch nicht beurteilen, das sei zukünftigen Historiker*innen vorbehalten. Es werde gerade experimentiert, mit offenem Ausgang.

Die nächste Frage war, warum die Proteste in den Niederlanden erfolgreicher seien als in Deutschland. Laut dem Aktivisten seien die Größe des Landes und Zentralität von Den Haag Gründe dafür. Die Niederlande hätten zudem viel früher mit ihren Protesten begonnen. Er sei deswegen optimistisch, dass eine Mobilisierung für Massenproteste stattfinden werde.

Daraufhin kam die Frage eines DRK-Mitglieds, wie sich die Kollateralschäden - Stichwort Behinderung von Rettungsarbeiten - auf die Allgemeinheit auswirkten und wie das gerechtfertigt werde. Der Aktivist erklärte das zu einer Abwägungssache; der Schaden für Dritte lasse sich nie zu 100% ausschließen. Er schwanke selbst immer wieder bei diesem Thema und empfinde es als schwierig. Es gebe aber ein Sicherheitskonzept, weswegen er die notwendige Gewissensabwägung üblicherweise für den Protest entscheide.In 99% der Fälle funktioniere die Bildung von Rettungsgassen; die Proteste würden so geplant, dass Rettungswägen durchkämen. Für die meisten Menschen bestünde zudem immer die Gefahr von Staus.

Eine weitere Frage betraf die relative Aussichtslosigkeit europäischer Maßnahmen im globalen Maßstab, weil Länder wie Indien, China, die USA etc. viel gewichtiger seien und die Letzte Generation keinen Einfluss auf diese habe. Der Aktivist beantwortete dies damit, dass einerseits die Pro-Kopf-Emissionen der entwickelten Länder immer noch viel höher seien und wir zudem inzwischen die klimaschädlichen Unternehmen weitgehend outgesourced haben, so dass die Berechnungen nicht korrekt seien. In autokratischen Systemen seien die Proteste zudem schlicht nicht möglich. Wir hätten in demokratischen Rechtsstaaten daher eine höhere Verantwortung. Zudem sei etwa China Vorreiter bei Erneuerbaren Energien. Er äußerte die Hoffnung, dass dieses Bewusstsein dann mittelfristig in diese Länder umschwappe.

Die nächste Frage bezog sich auf den Energiemix: bauten andere Länder nicht verstärkt Atomkraftwerke? Der Aktivist erklärte, dass sie auch viele Erneuerbare bauten und ein anderes Wirtschaftssystem hätten, ging aber schnell zum grundsätzlichen Punkt, dass er anderen Ländern nichts vorschreiben wolle und eher über ein globales System nachdenken wolle. Eine weitere Nachfrage postulierte, dass bisher eine Zentralisierung der Produktion von Erneuerbaren in China gewesen sei und dies nun wegen des zunehmenden Konflikts diversifiziert werde. Der Aktivist stimmte hier zu.

Daraufhin kam die Frage, wie die Letzte Generation mit staatlichen Maßnahmen wie dem Einfrieren von Konten umgehe. Der Aktivist bedankte sich für die "empathische Frage" und erklärte, es sei erschreckend, wie die Debatte um eine "kriminelle Vereinigung" betrieben werde. Es gebe weder Gewalt noch Extremismus. Ein Systemsturz werde nicht beabsichtigt. Das Einnisten solcher Ideen in den Köpfen durch ständige Wiederholung sei problematisch. Das Szenario einer zukünftigen AfD-Regierung sei hier besonders angsteinflößend, weil diese dann auf Kriminalunterlagen zurückgreifen könne, um Aktivist*innen politisch zu verfolgen; gleichwohl sei er optimistisch, dass diese Einschätzung nicht haltbar sei.

Eine weitere Frage betraf das Missverhältnis der geringen Größe der Letzten Generation gegenüber der Wirkung: sei das nicht undemokratisch, weil sie sich gegen eine klare Mehrheit stellten? Dies, so der Aktivist, treffe auf jede Protestbewegung zu. Er nutzte erneut den Vergleich mit Martin Luther King, der ebenfalls unbeliebt war und mit einer Minderheit gegen eine Mehrheit antrat. Er sieht die Letzte Generation auch als Weiterentwicklung aus der Grundlagenarbeit von Fridays for Future. Er sieht die Kritik aber auch als Indikator für den Erfolg der Proteste.

Eine persönliche Frage war, wie der Aktivist zur Letzten Generation kam. Seine Geschichte ist der Ausbruch aus dem Alltag während eines Erasmus-Jahrs in Frankreich, bei dem er Aktivistinnen der Letzten Generation kennenlernte. Vorher sei er nie politisch gewesen, weil er privilegiert und nicht betroffen sei. Bei der Klimakrise habe er aber eine persönliche Betroffenheit gefühlt. Er ging zu Vorträgen, machte ein Protesttraining, stellte kritische Fragen und wurde überzeugt. Er habe aber nie Interesse gehabt, an gewalttätigeren, gegen die Polizei gerichteten Protesten wie in Lützerath teilzunehmen.

Die nächste Frage betraf die Grünen. Die Frage nahm die Prämisse an, dass diese zu wenig täten und zu sehr andere Themen belegten, so dass unklar sei, wen man denn in dieser Frage überhaupt wählen solle. Es bestehe etwa eine Sympathie für die CDU, aber deren Position zu Klima sei indiskutabel. Der Aktivist antwortete, dass dies Stärke und Schwäche der Demokratie sei: ein Zwang zum Kompromiss. Diesem unterlägen natürlich auch die Grünen. Deswegen sei es wichtig, sowohl zu wählen als auch kritisch zu sein. Er vertraue demokratischen Werten und der Demokratie, aber es gebe keine Partei, mit der er sich 100% wohlfühle, und das könne es in der Demokratie auch nie geben. Deswegen seien andere Partizipationsformen wie Protest und ziviler Ungehorsam so wichtig. Er schloss mit einem Aufruf, immer wählen zu gehen.

Daraufhin wurde gefragt, ob an der Letzten Generation medialer Rufmord betrieben würde; die Person empfinde die Proteste zwar nicht als super, aber auch nicht als so schlimm wie oft dargestellt. Der Aktivist erklärte, grundsätzlich frustriert über die Berichterstattung zu sein, betonte aber, dass Angriffe auf den Status Quo immer kritisiert würden. Es gehe ja nicht um das wissenschaftliche Wissen (das eindeutig sei), sondern um die Kommunikation dieser Ergebnisse und ihrer Dringlichkeit. Deswegen sei er auch froh, dass niemand über das "beknackte" Tempolimit diskutieren wollte, das nur Symbolpolitik sei. Er sei frustriert über das Derailing des Hauptthemas durch solche Nebensächlichkeiten.

Eine weitere Frage war, wie viele Möglichkeiten die Letzte Generation habe, Themen in den Medien zu platzieren. Der Aktivist erklärte, dies sei ein Auf und Ab, wie auf einer Sinuskurve. Manchmal gelinge es, in die Nachrichten zu kommen, manchmal nicht. Zudem seien nicht alle Medien wegen ihrer jeweiligen Haltung interessiert, die Letzte Generation zu Wort kommen zu lassen. Vielleicht bestehe auch die Furcht einer Art Gehirnwäsche durch die Letzte Generation. Deswegen empfinde er Austauschformate wie das aktuelle auch als wertvoll. Ein kompletter Konsens sei aber weder erreichbar noch erwünscht.

Das rief die Nachfrage hervor, wie man sich über Stereotype beschweren könne, die durch die eigene Protestform direkt hervorgerufen werden müssten. Aktuell funktioniere es ja wohl nicht, weil die Ablehnung groß sei. Dem Aktivist war wichtig, dass die Letzte Generation nicht geliebt werden wolle. Fridays for Future sei geliebt worden, und sie seien geliebt worden von der Politik, die Verantwortung auf die Bewegung abgeschoben habe. Die Letzte Generation wolle aber die Verantwortung klar der Politik zuweisen.

Eine weitere Frage betraf seine persönlichen Kosten. Der Aktivist, der auf Lehramt studierte, erklärte, dass er ein Problem habe, weil er vermutlich bald einen Eintrag im Vorstrafenregister wegen Nötigung haben würde, der eine Einstellung an der Schule verhindere. Er habe in einem langen Prozess aber die Entscheidung getroffen, dass ihm sein Gewissen wichtiger sei, und drückte die Hoffnung aus, dass eine spätere Neubewertung erfolgen werde. Wenn dies nicht passiere, wolle er auch kein Teil dieses Systems werden. Er wolle auch nicht nur fachliche Inhalte vermitteln, sondern Menschen zum kritischen Hinterfragen erziehen. Das müsse er dann anderweitig tun.

Danach wurde gefragt, was geschehe, wenn die Regierung das Klimaschutzgesetz nicht hinreichend überarbeite. Der Aktivist drückte Vertrauen in die Gerichte aus. Demokratie bestehe zudem aus ständigen Aushandlungsprozessen, so dass Nachbesserungen möglich seien. Gleichzeitig laufe aber die Zeit davon; es seien nur noch wenige Jahre Zeit, bevor sich die Zeitfenster (Kipppunkte!) schlössen. Der Rechtsstaat und die Demokratie seien naturgemäß langsam und könnten auch durch Proteste nur eingeschränkt beschleunigt werden.

Damit endete die Runde. Ich hoffe, das war für euch einigermaßen interessant. Für mich sehr beruhigend war einerseits der Realismus des Aktivisten, andererseits sein klares Bekenntnis zur Demokratie. Egal wie man zu den Protestmethoden steht, Antidemokrat*innen sind es nicht. Das ist schon viel wert.

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