Mittwoch, 7. August 2013

Wie die Progressiven eine Generation verlieren

Von Stefan Sasse

Die Bedeutung ökonomischer Bildung wird besonders von den Wirtschaftsverbänden beständig betont. Nicht ohne Grund - in den letzten Jahren ist das Bewusstsein für die Bedeutung von ökonomischen Prozessen in der Öffentlichkeit immer mehr in den Vordergrund gerückt worden. Konsequenterweise drängen die Schulreformer in den Kultusministerien mit Nachdruck auf die Implementierung von Wirtschaft in die Bildungspläne. Auf diesem Feld aber haben die Progressiven den Kampf um die Deutungshoheit praktisch bereits verloren - mit schwerwiegenden Folgen für die Zukunft.

Die Reformen der jüngsten Zeit in Baden-Württemberg etwa haben dazu geführt, dass Wirtschaft als ordentliches Kernfach in der Oberstufe wählbar ist und wirtschaftliche Inhalte in den Politik- und Erdkundeunterricht integriert werden. Das nötige Fachwissen dafür - in beiden Studiengängen spielte Wirtschaft bislang kaum eine Rolle, was sich erst mit den jüngsten Prüfungsordnungsreformen geändert hat - haben die Lehrer in der Regel nicht, was sie extrem abhängig von offiziellen Fortbildungen oder, im Fall der neu ausgebildeten Lehrer, von an das normale Programm angehängten "Fortbildungen" macht, deren Gewicht aber nicht auf den Inhalten, sondern auf der Didaktik liegt. Entsprechend viel Gewicht haben die wenigen inhaltlichen Informationen, die es zu dem Thema gibt. Ich möchte eine exemplarische Episode zu diesem Thema schildern, um die Problematik deutlich zu machen.

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Angesetzt war ein Planspiel mit dem Namen "Macro", das einen Einblick in die VWL geben sollte. Durchgeführt wird dieses Spiel von der Aktionsgemeinschaft Soziale Marktwirtschaft, einem in Tübingen ansässigen neoliberalen Think-Tank, der im Gegensatz zu seiner progressiven Konkurrenz die Zeichen der Zeit erkannt hat und sein Aktivitätenfeld auf den Bildungssektor verschoben hat, etwa durch Anbieten des Planspiels. Für die Schulen ist das attraktiv, denn ohne weitere Zusatzkosten kann eine interessante Abwechslung zum Schulalltag geboten werden, die von außen geplant und durchgeführt wird - für die chronisch klammen Kommunen und Länder ein verführerisches Angebot.

Gespielt wird in zwei Gruppen (Ländern), die gegeneinander antreten. Aufgeteilt sind die Länder in jeweils vier Sektoren (Private Haushalte, Zentralbank, Unternehmen, Staat); die jeweils eigene Ziele haben. Das Erreichen dieser Ziele wird mit Punkten belohnt, die mit dem jeweiligen Sektor des konkurrierenden Landes verglichen werden. Das Land, das in den meisten Sektoren führt, gewinnt die Spielrunde und Punkte für die Schlussabrechnung. In der Version, die uns vorgestellt wurde (und die bereits reichlich komplex war) existierte keinerlei Außenhandel. Jedes Land war eine in sich völlig geschlossene Volkswirtschaft. Bereits hier wird deutlich, dass das System besser für BWL-Simulationen als für VWL geeignet ist - die Länder müssen sich effektiv wie Unternehmen verhalten, um in dem Spiel "gewinnen" zu können.

Noch wesentlich absurde werden die eigentlichen Ziele und die Mechanismen, mit denen diese erreicht werden. Während noch nachvollziehbar ist, dass die privaten Haushalte ihr Einkommen und die Unternehmen ihren Profit maximieren wollen (Ziele, die einander im Weg stehen), sind die Ziele des Staates (ausgeglichener Haushalt) und der Zentralbank (niedrige Inflation) in ihrer Absolutsetzung völliger Unsinn. Es ist vollkommen legitim, dass die Sektoren sich diese Ziele setzen - das Spiel lässt Alternativen, etwa eine auf Wachstum verpflichtete Zentralbank, überhaupt nicht zu.

Durchgeführt wird das Planspiel von zwei VWL-Absolventen, die den Schülern zuerst eine Einführung in die Begrifflichkeiten geben. Bereits hier wird deutlich, dasss das Planspiel von einer Reihe Prämissen ausgeht, die in ihrer vorgestellten Absolutheit nicht zu halten sind. So etwa ist die Aufgabe der Zentralbank für die Aktionsgemeinschaft ausschließlich die Vermeidung (!) von Inflation. Auf meinen Einwand, dass manche Zentralbanken zusätzlich auch auf Wachstumsförderung festgelegt sind, kam nur die etwas pikierte Erwiderung, dass man hier ja nur von "richtigen" Zentralbanken rede. Ähnliche Einstellungen fanden sich etwa auch für die Rolle staatlicher Institutionen.

Noch einmal: es ist absolut valide, eine Volkswirtschaft auf diese Ziele festzulegen. Sie aber als volkswirtschaftliche Gesetzmäßigkeiten zu definieren, ist blanker Unsinn. Genau das tut "Macro" aber. Da die Mechanismen des Spiels nicht offengelegt sind, ist es äußert problematisch nachzuvollziehen, welche Konsequenzen die eigenen Handlungen eigentlich haben. Per Trial&Error (und vor allem den ökonomischen Handlungsanweisungen, die man aus den Leitmedien gewinnen kann) stößt man irgendwann auf die eine "richige" Strategie, die für sämtliche Volkswirtschaften gilt, ob Nicaragua oder Großbritannien, Myanmar oder die USA.

So zeigte sich bald, dass die Parameter, mit denen die einzelnen Sektoren operieren können, häufig keine Funktion haben. Der Staat etwa kann sowohl Privathaushalte als auch Unternehmen besteuern und seine eigene Güternachfrage regeln. Ob man Unternehmen oder Privathaushalte besteuert, hat aber keinerlei Auswirkungen auf das Spiel. Die Erklärung, warum dies so sei, war geradezu absurd: besteuere man die Unternehmen und die Haushalte nicht, so würden schlicht die Preise steigen; im umgekehrten Falle würden die Preise entsprechend sinken. Noch absurder war, dass eine Erhung der staatlichen Nachfrage keinerlei Güter in nennenswertem Ausmaß aus dem Markt zieht, aber das Defizit um ein Vielfaches steigert.

Die Privathaushalte dagegen konnten festlegen, wie viel Lohn sie fordern (je höher, desto weniger Menschen werden eingestellt), wie viele Menschen dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen und wie stark die Bevölkerung zunimmt. Es gab keinen Grund, die Zunahme der Bevölkerung und die Teilnahme am Arbeitsmarkt nicht auf das Maximum zunstellen. Es gab - auf Nachfrage bestätigt - keinerlei negativen Effekte. Abgesehen davon, dass das inhaltlich Quatsch ist, verkompliziert das Vorhandensein von Parametern, die keinen praktischen Effekt haben, das Spiel ohne jeden Nutzen, anstatt sinnvolle Paramter zu geben.

Dies führt dazu, dass Staat und Haushalte gut daran beraten sind, die meiste Zeit einfach gar nichts zu tun. Dies führt zum absurdesten Sektor, den Unternehmen. Nachdem die Strategie von billigen Löhnen und einem staatlichen Ausgleich in der Nachfrage gescheitert war, erklärte man uns, dass die Unternehmen diese Nachfrage über die Investitionen schaffen könnten. Die Investitionen waren dabei neben dem Grad der Beschäftigung (eine andere Zahl als 100% war ebenfalls unsinnig, eine weitere nutzlose Variable), der Menge der produzierten Güter und ihrem Preis eine der Stellschrauben, die den Unternehmen zur Verfügung stand.

Nachdem nun die Privathaushalte keine Nachfrage schaffen konnten (wegen der geringen Löhne, die sie absurderweise aber nicht von verhältnismäßig hohen Sparquoten abhielten) und der Staat es nicht durfte (wegen der Regeln), führte dies allen Ernstes dazu, dass die Menge der produzierten Güter einfach im Gleichschritt mit den Investitionen erhöht und alles eingekauft wurde. Die Unternehmen schufen sich ihre eigene Nachfrage, vollständig. Erklärt wurde das damit, dass die produzierten Maschinen einfach direkt in die Werkhalle gestellt werden, um weitere Maschinen zu produzieren. Alleine die Vorstellung ist vollkommen absurd.
Dies führt zum letzten Sektor von „Macro“, der EZB. Diese muss die Inflation auf die Zielmarke von 0% bringen, was die einzige Möglichkeit für die Spieler dieses Sektors ist, Erfolg zu haben. Akzeptiert wird dabei alles in einem Zielbereich zwischen -1% und 1% Inflation – also dem, was selbst die extrem konservative reale EZB als Stagnation und gigantische Gefahr wertet. Für diese Marke gibt es auch keinen regeltechnischen Grund, denn es handelt sich nur um eine arbiträre Ziellinie. Es wäre problemlos möglich gewesen, wenigstens das reale EZB-Ziel von 2% mit einer Varianz von 1-3% anzugeben. Stattdessen aber entschied man sich, wohl der eindeutigen Botschaft wegen, für die radikale Lösung von 0%. Inflation ist böse. Immer!

Man könnte nun einwenden, dass es ja nur um ein Spiel gehe und dass man das Ganze ja nicht ernst nehmen muss. Spiele sind schließlich immer genau das, Spiele, und versuchen sich allenfalls modellhaft der Realität anzunähern. Diese Argumentation aber verfehlt den Punkt. Es geht schließlich nicht darum, ob eine ökonomische Theorie die Wirklichkeit genau abbildet oder nicht (das tun sie nicht, das wissen die Ökonomen ja auch selbst, und die Veranstalter des Spiels betonten das ebenfalls). Worum es geht ist der vermittelte Eindruck, dass es eine einzige richtige Wirtschaftspolitik gebe, die sich vorrangig in einer Nicht-Aktivität des Staates erschöpft.

Dass es überhaupt verschiedene Theorien gibt, verschiedene wirtschaftliche Ansätze, von denen bisher (und wohl auch zukünftig) keiner als alleine richtiger erkannt werden konnte, wird hier absichtlich unter den Tisch gekehrt. Wirtschaftspolitik zu verstehen und zu beurteilen, mithin das erklärte didaktische Ziel eines solchen Spiels, ist so schlechterdings unmöglich. Welchen Sinn macht denn ein mehrstündiges Planspiel, wenn es überhaupt nicht möglich ist, einmal verschiedene Pfade auszustesten und deren spezifische Vor- und Nachteile zu erkunden? Ein Pfad mit harter Inflationskontrolle ist problemlos möglich und hat durchaus auch seine Vorteile, aber genauso möglich wäre ein wachstumsorientierter Pfad mit mehr Inflation.

All das geschieht aber überhaupt nicht. Stattdessen wird man zu der Erkenntnis gezwungen, dass die neoklassische Wirtschaftslehre das einzig Wahre ist, was von den Veranstaltern in ihren „Informations“-Vorträgen sogar offen bestätigt wird. Selbst wenn das nicht intellektuell in höchstem Maße unredlich wäre, handelte es sich dabei um eine flagrante Verletzung des für den Politikunterricht essenziellen „Beutelsbacher Konsens“, der eine direkte Beeinflussung der Schüler verbietet und stattdessen als Ziel die Mündigmachung des Schülers sieht, der in der Lage sein soll, eigene Urteile zu fällen. Mit Planspielen wie „Macro“ geschieht das genaue Gegenteil, und die Kultusministerien sollten deswegen auch folgerichtig davon absehen, den einfachen Weg zu beschreiten und diese Programme einfach ungeprüft zu übernehmen. Die Schule ist kein Ort für Propaganda, und der Politiklehrer kein Instrument dafür.

2 Kommentare:

  1. Das nötige Fachwissen dafür - in beiden Studiengängen spielte Wirtschaft bislang kaum eine Rolle, was sich erst mit den jüngsten Prüfungsordnungsreformen geändert hat - haben die Lehrer in der Regel nicht, was sie extrem abhängig von offiziellen Fortbildungen oder, im Fall der neu ausgebildeten Lehrer, von an das normale Programm angehängten "Fortbildungen" macht, deren Gewicht aber nicht auf den Inhalten, sondern auf der Didaktik liegt.

    ECHT...EIN SUPER-SATZ.....

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  2. Das Problem mit eigentlich nicht dafür ausgebildeten Lehrern findet man in jedem Fach, sobald ein eher neues Thema wichtig wird, kommt es ins Curriculum, aber man hat noch keine dafür ausgebildeten Lehrer. Wünschenswert wäre es mal, sich die Qualität und Quantität der angebotenen Lehrerfortbildungen anzusehen.

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