Montag, 16. September 2019

Einmal unter die 5%-Hürde und zurück: Die FDP im Spannungsfeld einem sich verändernden Parteiensystems

Die FDP ist eine Konstante der bundesdeutschen Politik. Mit Ausnahme einer kurzen Periode von 2013 bis 2017 war sie in jedem deutschen Bundestag vertreten. Keine Partei war so lange an der Regierung beteiligt. Als einzige Partei überlebte sie die Konsolidierungsprozesse des bürgerlich-rechten Lagers, in deren Verlauf die CDU zwischen 1949 und 1961 jede andere Partei aufsaugte oder in die Bedeutungslosigkeit drängte. Im Drei-Parteien-System hatte sie eine prekäre Stellung erst als einzige Oppositionspartei, dann als natürlicher Koalitionspartner der SPD inne. Sechzehn Jahre lang war sie dann als Teil der Regierung Kohl nicht wegzudenken. Seither sucht sie, wie die anderen deutschen Parteien auch, im fragmentierten Parteiensystem nach einem neuen Platz, ohne diesen bislang gefunden zu haben - auch das ein Schicksal, das sie mit allen anderen Parteien teilt.

Die FDP kann auf eine lange Geschichte zurückblicken. Zwar existiert die Partei in ihrer heutigen Form erst seit 1949, jedoch kann der deutsche Liberalismus auf eine lange Tradition zurückblicken, die, je nach Lesart, bis in die Zeit der Befreiungskriege zurückreicht, ihren Ausdruck aber spätestens mit dem Widerstand gegen die Reaktion der Karlsbader Beschlüsse findet. In dieser Zeit geriet der Liberalismus mehrmals in die Krise, spaltete sich, fand wieder zusammen, erlebte Aufs und Abs. So interessant ein Nachverfolgen dieser wechselhaften Geschichte auch wäre, wollen wir uns hier auf die bundesdeutsche Geschichte der FDP konzentrieren, um zu verstehen, aus welchen Traditionslinien die Partei kommt.

Der Liberalismus kam aus dem Zweiten Weltkrieg in einer tiefen Krisenerfahrung. In der Weimarer Republik waren seine Strömungen völlig marginalisiert und im Kampf zwischen den Extremen von links und rechts und der Konkurrenz einer katholischen Sammlungspartei einerseits und einer klassenbasierten Sammlungspartei andererseits zerrieben worden. Wie für die CDU auch lag für die Gründer der FDP die Lösung nahe: Ein Überleben war nur möglich, in dem es EINE liberale Partei gab, nicht mehr mehrere.

Die Strömungen, die in der FDP vereinigt wurden, wollen wir vereinfacht als nationalliberal, fortschrittsliberal und wirtschaftsliberal bezeichnen.

Die Nationalliberalen stellen den rechten Rand dieses Spektrums; sie waren es, die sich im Kaiserreich abspalteten und mit Bismarck zusammentaten. Aus ihren Reihen kamen die späteren Vernunftrepublikaner, deren größter Triumph die Person Gustav Stresemanns war. Sie vertraten konservative Ansichten in Sozial- und Außenpolitik und waren ansonsten Freunde der Großindustrie, die sie als essenziell für den Aufbau eines starken Staats betrachteten. Ihre undemokratischen Extremisten haben sie in Weimar an die DNVP ab; ihre eigene Partei, die DVP, verschwand nach dem Tod Stresemanns in mehreren Radikalisierungswellen in der Bedeutungslosigkeit. Dieser Zweig verließ die FDP überwiegend über den Streit über die Ostpolitik zwischen 1969 und 1971 und schloss sich der CDU an.

Die Fortschrittsliberalen waren die Erben der Demokratisierungsbestrebungen des 19. Jahrhunderts. Als drittgrößte Partei (DDP) bildeten sie die Mitte der "Weimarer Koalition"; keine andere Partei hatte mehr Einfluss auf die Gestaltung der Verfassung Weimars (und später des Grundgesetzes). Sie vertraten sozial progressive Ansichten und suchten einen Ausgleich zwischen den Interessen der Wirtschaft und der Arbeitnehmer; ihre Sympathien liegen seit jeher auf Freiberuflern und kleineren Betrieben als bei den ständig durch Monopolbestrebungen die freie Marktwirtschaft gefährdenden Großbetrieben. Nach der Machtübernahme Kohls 1982 schlossen sich einige Mitglieder der SPD an; andere blieben in der Partei.

Die Wirtschaftsliberalen schließlich bilden die breite, diffuse Mitte zwischen diesen beiden Polen. Sie hatten nie eine eigene Partei; stattdessen neigten sie stets demjenigen der beiden Pole zu, der aktuell der ansprechendere war. Hier finden sich jene, deren Freiheitsbegriff weniger emanzipatorisch als der der Fortschrittsliberalen, aber deutlich offener als der der Nationalliberalen ist. Ihr Fixpunkt ist die Begrenzung des Staates zur Sicherung der bürgerlichen Existenz. Ihr Misstrauen richtet sich gegen Sozialdemokratie und Christdemokratie gleichermaßen. Ihr Leitstern ist der Selbstständige; sei es als Freiberufler, sei es als Unternehmer. Sie dominieren die FDP seit dem Lambsdorff-Papier von 1982.

Diese Aufstellung muss notwendigerweise mit grobem Pinsel gezeichnet und unvollständig bleiben. Es ist an dieser Stelle vor allem wichtig zu verstehen, dass die FDP eine Partei disparater Flügel war, die zu unterschiedlichen Zeiten ihrer Entwicklung unterschiedlich stark waren und die in einer Partei zu halten stets schwierig war, was die Fluchtbewegungen von 1971 und 1982 mit erklärt.

Die FDP ist durch ihre ganze Geschichte hindurch mit einem Phänomen vertraut, das ihre Konkurrenten von CDU und SPD, aber auch der LINKEn, erst jetzt unter Schmerzen erlernen müssen: Keine signifikante Kernwählerschaft zu besitzen. Die oben angesprochene Kernwählerschaft der FDP, der viel beschworene Mittelstand, ist in seiner genauen Größe schwierig zu taxieren. Man kann darüber streiten, ob er knapp über oder unter der 5%-Hürde liegt; sicherlich aber überschreitet er nicht die 7-8% und unterschreitet nicht die 3-4%. Die FDP war daher immer darauf angewiesen, außerhalb dieser Interessensgemeinschaft auf Wählersuche zu gehen. Dies gelang ihr in den meisten Fällen auch.

Zwischen 1961 und 1998 bestand ihre erfolgreiche Strategie darin, sich als Garant der Mitte zu positionieren. Ob in Koalition mit SPD oder CDU, stets basierte ihr Wahlkampf darauf, solche Wähler auf sich zu ziehen, die mit der Regierung grundsätzlich zufrieden waren, auf den jeweils größeren Koalitionspartner aber misstrauisch schauten. Wer fürchtete, dass die Jusos Helmut Schmidt zu sehr auf die linke Seite drängten, aber gleichzeitig in Kohl und Strauß reaktionäre Tendenzen erblickten, konnten auf die FDP Scheels setzen. Wer fürchtete, dass Norbert Blüm den Sozialstaat ruinieren oder Heiner Geißler gar zu aggressiv nach rechts ausschlug, wusste in Genschers FDP einen sicheren Hafen.

Diese Sicherheit aber ging mit der Etablierung des Vier-Parteien-Systems 1998 verloren. Nun fand sich die FDP plötzlich im "bürgerlichen Lager", das dem "linken Lager" aus SPD und Grünen gegenüberstand. Sie war eine Alternative, nicht mehr der Mediator in der Mitte. Wer mit der SPD haderte oder sie moderieren wollte, wählte nun grün, nicht mehr gelb. Leihstimmen musste die FDP daher im bürgerlichen Lager selbst suchen - oder sich eine neue Basis besorgen.

Das war der Ansatz des Vorsitzenden Guido Westerwelle, als er 2002 als "Kanzlerkandidat" mit dem "Projekt 18" in den Wahlkampf zog. Der Versuch war, die FDP als spritzig, neu, zukunftsgewandt, unideologisch und für alle Schichten interessant zu gestalten und so Stimmen aus allen Richtungen abzuziehen. Es war, ironischerweise, eine Strategie, wie sie heute die Grünen jederzeit unterschreiben würden. Der Versuch ging schief. Ob die Zeit noch nicht reif war, ob es an der Infantilität des Ansatzes lag, an strategischen Fehlern - es ist letztlich irrelevant. Die FDP richtete sich neu aus und bereitete sich darauf vor, an der Seite der CDU das rot-grüne Projekt 2006 entschieden zu beenden und die in den 1980er Jahren begonnende Ära neoliberaler Reformpolitik zu einem glorreichen Höhepunkt zu führen. Die gemeinsame Wahl Horst Köhlers 2004 sollte, analog zur Wahl Gustav Heinemanns 1969, "ein Stück Machtwechsel" demonstrieren.

Es kam anders, ohne Schuld der FDP. Schröder erwies sich für Angela Merkel als wesentlich gefährlicherer Gegner als angenommen. Am Ende blieb 2005 nur die Große Koalition, und die FDP, die sich als Regierungspartei gesehen hatte, fand sich plötzlich in der Rolle des Oppositionsführers. Es war eine Rolle, die sie mit Bravour übernahm. Die FDP jagte die ungeliebte Große Koalition ebenso effektiv von Mitte-rechts wie die neugegründete LINKE sie von der Linken attackierte, wenngleich ohne der CDU so tödliche Verluste beizubringen wie ihre Konkurrenten. Westerwelle hatte nicht nur sich, sondern auch seine Partei neu erfunden. 2009 sollte das 2005 so überraschend verzögerte Projekt Wirklichkeit werden.

Es kam anders, erneut. Das Ausscheiden aus dem Bundestag von 2013 ist nur zu einem kleineren Teil der Partei selbst anzulasten. Zwar beging Westerwelle gleich zu Beginn mehrere schwere Fehltritte - die Mehrwertsteuersenkung für Hotels hängt der Partei, wenngelich zu Unrecht, bis heute nach, und sein "Hier wird Deutsch gesprochen" war weniger ein Ausdruck seiner Autorität als Unsicherheit -, die das Image der Partei prägen sollten. Aber letztlich wuchs Westerwelle schnell mit dem Amt des Außenministers. Der Wechsel an der Parteispitze zu Philipp Rößler schien ebenfalls Aufbruch und Erneuerung zu versprechen.

Wir müssen an dieser Stelle kurz innehalten. Das Ausscheiden aus dem Bundestag 2013 war für die Partei aus nahvollziehbaren Gründen eine schwere, traumatische Erfahrung. Sie ist ein Wendepunkt in der Geschichte der Partei, dessen Folgen immer noch nicht absehbar sind. Es ist deswegen wichtig zu untersuchen, woher dieses Ausscheiden rührte - und auch, auf welcher Basis der Wiedereinzug 2017 erfolgte, der ja sehr gut auch hätte mit der Auflösung der Partei enden können, ein Schicksal, das 2013 nicht eben unwahrscheinlich schien. Wie auch der Niedergang der SPD umgibt 2013 ein Kampf mehrerer Narrative, sowohl innerhalb als auch außerhalb der Partei. Meine Interpretation ist die eines Beobachters von außen. Sie kann daher nur Aspekte abbilden, die mir sichtbar sind. Die innerparteilichen Grabenkämpfe verschließen sich größtenteils meiner Kenntnis und meinem Verständnis.

Ich sagte bereits, dass die FDP nur eingeschränkt etwas für ihren Abstieg kann. Ich will daher meine Einschätzung der Gründe, die selbstverschuldet sind, voranstellen.

Da wären zum einen die kommunikativen Fehlgriffe, allen voran das Versagen darin, ihre ersten Regierungsmaßnahmen als etwas Anderes als nackte Interessenpolitik zu verkaufen. Auch bekräftigte Westerwelle in den ersten Monaten der Koalition 2009 auf unschöne Weise das Bild eines Leichtgewichts und reaktivierte Erinnerungen an 2002. In den Folgejahren arbeitete er diszipliniert und erfolgreich dagegen an, aber der Schaden war angerichtet. Auch andere Führungsfiguren wie Rainer Brüderle und Philipp Rößler landeten eher wegen kommunikativer Fehlgriffe in den Schlagzeilen und fanden selten den richtigen Ton.

Zum anderen aber rächte sich für die Partei paradoxerweise die grandiose Oppositionsarbeit aus der Zeit der Großen Koalition. Die FDP musste schnell eine Erfahrung machen, die für sie neu, jedem Linken aber sehr vertraut ist: Dass, einmal in Regierungsverantwortung, unangenehme Kompromisse geschlossen werden müssen und dass die reine Lehre sich nicht umsetzen lässt. Prinzipien zu verteidigen ist leicht, wenn man auf der Oppositionsbank sitzt. Es ist schwer, wenn man an der Regierung ist. Die Partei war aber gänzlich unvorbereitet darauf, tatsächliche Regierungsarbeit zu leisten. Mit dem besten Ergebnis aller Zeiten und präzedenzlos vielen Ministerposten ausgestattet, hatte der Kaiser keine Kleider. Die FDP hatte keine Agenda, die sie, nun an der Regierung, hätte abarbeiten können. Sie hatte Prinzipien, aber keine Idee, wie diese in Politik zu gießen waren.

Dieser Nachteil verband sich mit dem dritten selbst verschuldeten Problem. Selbst wo Pläne dann auftauchten und nicht gleich durch miese Kommunikation zunichte gemacht wurden, zeigte sich das FDP-Spitzenpersonal der Aufgabe oft nicht gewachsen und wurde vom Koalitionspartner an die Wand gespielt. Diese Schwäche der FDP-Führungsriege allerdings war hausgemacht. Die CDU war gnadenlos. FDP-Vorschläge liefen ins Nichts.

Das ist nur zum Teil Resultat von strategischen Entscheidungen in der bürgerlichen Koalition. Das Overton-Fenster hatte sich verschoben. Der Bedarf an klassischer wirtschaftsliberaler Politik schrumpfte rapide. Steuervereinfachungen verloren gegenüber Schutzmaßnahmen für Arbeitsplätze dramatisch an Attraktivität. Die Geschichten von Hartz-IV-Missbrauch verschwanden aus den Schlagzeilen. Die Stimmung in der Bevölkerung wandelte sich rapide.

Dies lag an zwei externen Ereignissen, auf die die FDP so viel Einfluss hatte wie die baden-württembergische CDU auf den Reaktorunfall von Fukushima, nämlich keinen.

Das erste dieser Ereignisse fand noch in der Großen Koalition statt und schien die Partei erst merkwürdig unberührt zu lassen, ja, ihr zu helfen: Die Finanzkrise von 2008/2009. Mit ihr endete jedoch der Mythos von den Leistungsträgern, die mehrstellige Millionengehälter als Belohnung ihrer Brillanz erhielten. Die Zeiten, in denen ein Josef Ackermann allgemeinen Zuspruch fand, waren vorbei, und die FDP tat sich schwer damit, ihre Rhetorik entsprechend anzupassen.

Das zweite Ereignis war die Griechenlandkrise, wie sie sich ab 2010 entwickelte. Sie war es, die der FDP das Genick brach.

Die Krise berührte die Kernidentität der FDP in mehreren neuralgischen Punkten. So betraf sie Griechenland, eines jeder Länder, die weniger wegen ihrer Wirtschaftskraft oder Wertekompatibilität als aus politischen Gründen in eine Gemeinschaft aufgenommen wurde. So betraf sie den Euro, eine Währung, der Liberale ob ihrer tiefen Verankerung im französischen Etatismus immer skeptisch gegenübergestanden hatten. So betraf sie die offenkundigen Verstöße Griechenlands nicht nur gegen die Buchstaben des Vertrags von Maastricht, sondern auch seinen Geist. So verletzte jede Intervention der Eurostaaten, der EZB und des IWF das Vertragsgeflecht, mit dem Wirtschaftsliberale, gleich ob in CDU oder FDP beheimatet, die neue Währung so weit wie möglich der D-Mark und die EZB der Bundesbank anzugleichen versucht hatten.

Kurz: In der Euro-Krise erfüllten sich alle liberalen Ängste, waren Grundprämissen angegriffen. Zahllose Abgeordnete, Sympathisanten und Wähler blickten mit wachsender Unruhe, Unverständnis, ja, Abscheu auf die Rettungspolitik, die die Regierung durchsetzte. Mal in diese, mal in jene Richtung mäandernd, die Begründungen und Logiken permanent wechselnd.

Die FDP trug diese Schritte mit. Sie tat es, weil sie eine verantwortliche, demokratische Partei ist. Mit der Entscheidung konfrontiert, Kompromisse auf nationaler und internationaler Ebene zur Beilegung einer Krise zu schließen oder ihre Prinzipien zu bewahren, entschied sie sich für den Kompromiss. Allein dafür gebührt ihr Anerkennung.

Der Preis war hoch. Das Wort der "Alternativlosigkeit", das Merkel (nicht nur) in Bezug auf die Eurokrise gerne gebrauchte, wandte sich gegen das bürgerliche Lager. Die Liberalen spalteten sich. Zum ersten Mal seit über 80 Jahren gab es wieder eine ernstzunehmende nationalliberale Partei: Die Alternative für Deutschland, gegründet von vom Kurs der schwarz-gelben Regierung abgestoßenen Wirtschaftsliberalen aus den Reihen beider bürgerlicher Parteien, war Fleisch vom Fleische der FDP. Ein Wirtschaftsprofessor wie Albrecht Lucke wäre früher, zu Recht, als Kernklientel der Partei betrachtet worden. Dass dieser Verlust auch die CDU traft, spielt keine große Rolle. Sie konnte ihn verkraften. Für die FDP erwies er sich als tödlich.

Man darf nicht vergessen, dass FDP und AfD 2013 jeweils nur knapp an der 5%-Hürde scheiterten. Zusammen brachten sie immer noch über 9% aufs Tablett. So schmerzhaft das Ausscheiden aus dem Bundestag für die Liberalen auch war, so war doch auch ersichtlich, dass der Jubel im progressiven Spektrum über ein Ableben des ungeliebten Neoliberalismus deutlich verfrüht war. 2013 war, letztlich, Pech. Mit der generellen Attraktivität der liberalen Partei hatte es nur am Rande zu tun. In dem Maße, wie die Eurokrise an Relevanz verlor - wofür es bereits 2013 klare Anzeichen gab - würde wohl auch die AfD wieder an Bedeutung verlieren. Es sei denn, natürlich, sie würde ein anderes Thema finden. Dass Angela Merkel für die AfD gleich zweimal die Geburtshelferin spielen würde, war 2013 freilich noch nicht abzusehen.

Ersteinmal allerdings stand die FDP vor einem schwerwiegenden Problem. Das Ende ihrer Fraktion trocknete eine Reihe von Infrastrukturen, Geldquellen und Institutionen aus, die für die Partei unerlässlich waren und die aus rapide schwindenden Geldmitteln privat würden finanziert werden müssen (eine feine Ironie, für die damals nur wenige ein Lächeln übrig gehabt haben dürften). Fast noch schwerwiegender aber war der Abfluss an Personal. Litt die Partei schon in der Koalition seit 2009 an einem erkennbaren Mangel von Schwergewichten, so traf sie der Weggang praktisch sämtlicher disavouierter Führungspersonen, am kompetentesten sicherlich Rößler, Brüderle und Westerwelle, schwer.

In dieser Situation musste eine neue Führung sich beinahe zwangsläufig aus den Landesverbänden rekrutieren; die ausblutende Bundespartei war zu solchen Impulsen kaum in der Lage. Doch auch hier sah es düster aus: Gerade in der traditionellen FDP-Herzkamm Baden-Württemberg regierte seit 2011 erstmals eine grün-rote Koalition, war die FDP nach Jahrzehnten aus der Regierung geflogen. Kaum der Ort, an dem man für einen Neuanfang auf Personalsuche geht. Erfolge verzeichnet hatte in der letzten Zeit eigentlich nur Wolfgang Kubicki aus Schleswig-Holstein, der auch in Talkshows eine gute Figur zu machen vermochte.

Die Wahl fiel jedoch auf einen anderen Landesverband. Einer der wenigen Lichtblicke war der (relative) Erfolg der Partei in Nordrhein-Westphalen 2012 gewesen, wo die Partei 8,6% der Stimmen erreicht hatte - bereits im Schatten der Eurokrise, die innenpolitisch ja gerade mit den Landtagswahlen in Nordrhein-Westphalen von 2010 ihren Anfang genommen hatte. Christian Lindner, der junge und dynamische Shootingstar des Landesverbands, übernahm die Führung der Partei. Er warf das etwas bräsige und angestaubte Mittelstandsimage, das die Partei über so lange Zeit stabil gehalten hatte und für das auch Kubicki gestanden hätte, über Bord. Auch sonst blieb kaum ein alter Zopf verschont. Neues Logo, neue Farben (Magenta!), eine neue Spritzigkeit, die aber stets bedacht war, die Unseriosität des Westerwelle'schen Spaßwahlkampfs zu vermeiden - das war Lindners Strategie. Sie war risikoreich, aber Lindner wurde für seinen Mut mehr als entlohnt - ebenso wie die Partei, die sich rückhaltlos seiner Führung unterordnete. 2017 gelang der triumphale Wiedereinzug in den Bundestag, der direkt in Koalitionsverhandlungen mit Merkels CDU mündete, die harsche Verluste hatte hinnehmen müssen. The tables have turned, wie der Angelsachse sagen würde.

Allein, so einfach gestaltete sich die Lage nicht. Denn Lindners Erfolg fand nicht im Vakuum statt. Die Verluste der CDU machten eine Neuauflage von Schwarz-Gelb unmöglich. Für die FDP stand damit eine unangenehme Entscheidung an. Zwar war sie, spätestens nach der Verweigerung der SPD zur Fortführung der Großen Koalition, direkt wieder potenzieller Regierungspartner. Aber das Trauma von 2013 saß tief, und wenn es weitere Belege für die Schädlichkeit von Koalitionen mit der großen asymmetrischen Demobilisiererin im Kanzleramt brauchte, reichte ein Blick auf die desolate Lage der Sozialdemokratie. Sollte die Partei in eine Koalition, in der sich auch noch die Grünen tummelten, mit denen die CDU auf Landesebene mittlerweile genug Erfahrung gesammelt hatte und mit der man sich im Bundestag ziemlich gut verstand? Das Zögern der Partei, direkt wieder in Regierungsverantwortung zu gehen, ist vor diesem Hintergrund verständlich.

Noch ein weiteres Problem kam hinzu. Unter Lindner hatte die Partei im Wahlkampf 2017 auf andere Themenfelder gesetzt, als sie traditionell vertrat. Eine (sehr nebulös bleibende) Bildungsoffensive und eine (nicht viel genauer ausgestaltete) Schwerpunktsetzung auf Digitalisierung ersetzten die große Steuerreform, mit der die FDP in der letzten Koalition so sehr baden gegangen war und die in einer Jamaika-Koalition ohnehin nicht durchsetzbar gewesen wäre. Zwar gab es hierzu einen überparteilichen Konsens - inzwischen stand jede Partei irgendwie hinter mehr Bildung und Digitalem - aber auf der Prioritätenliste stand es weit unten. Eine Kernmaßnahme, die man in der Jamaika-Koalition hätte umsetzen können, gab es nicht wirklich. Dazu kam, dass die Personaldecke weiterhin extrem dünn war. Zum einen war dies eine logische Konsequenz der vier Jahre ohne Bundestagsrepräsentation, aber zum anderen reflektierte es auch die Schattenseite des Parteizuschnitts auf Führungsfigur Lindner, die wenig Platz für andere ließ. Dadurch gab es in der Partei auch wenig natürliche Aspiraten auf Minister- und Staatssekretärsposten, die Lindner Druck gemacht hätten, wodurch er einen großen Spielraum besaß.

Am Ende entschloss sich Lindner, die Jamaika-Gespräche platzen zu lassen. Wir müssen an dieser Stelle gar nicht die alte Debatte darüber erneuern, ob es geboten war. Die politische Logik ist einsichtig, aber nicht ohne Risiko. Ob sich die Entscheidung am Ende bewährt haben wird, steht aktuell in den Sternen. In den Umfragen ist die FDP gegenüber 2017 abgesackt und hat zudem krachend zwei Landtagswahlen im Osten verloren; auf Lindners Entscheidung zurückführen lässt sich das nur schwer. Zu viele andere Faktoren spielen mit hinein.

Der Vorwurf, den ich Lindner mache, ist der, aus parteitaktischen Motiven das Große Ganze zu vernachlässigen. Er floh aus der Verantwortung und überließ es Frank-Walter Steinmeier, die SPD in die Große Koalition zurückzuzwingen - eine Entscheidung, mit der niemand glücklich ist. Die Tatsache aber, dass ich nicht nur kein Problem mit einer FDP-Regierungsbeteiligung 2017 gehabt, sondern diese aktiv begrüßt hätte, zeigt auch, welche Reise nicht nur die Partei und das Parteiensystem, sondern auch ich selbst mittlerweile mitgemacht habe.

Die FDP steht damit im Jahr 2019 vor mehreren Herausforderungen. Ihre alte Strategie vom Abziehen von beunruhigten Wählern der Koalitionspartner, ob SPD oder CDU, funktioniert nicht mehr. Die Mitte ist ziemlich voll. Wer eine Partei möchte, die überwiegend die (breit gefasste) Mittelschicht vertritt, die zukunftszugewandt ist und liberale Ideale pflegt, kann auch die Grünen wählen. Gewiss, deren Fokus liegt auf anderen Themen, und ihre Neigung zu staatlicher Regulierungspolitik gegenüber marktbasierten Instrumenten lässt jedem Liberalen die Berge zu Haare stehen. Aber in vielen anderen Feldern sind sich beide Parteien näher, als man ob der Rhetorik manchmal glauben könnte.

Lindner versucht daher, seiner Partei ein Update ihrer bisherigen Strategie zu verpassen. Überwiegend erfolgreich hat er die alte Interessenvertretung über Bord geworfen. Die FDP ist nicht mehr die Partei der Apotheker, wenngleich diese sich bei ihr sicherlich immer noch am besten vertreten fühlen dürften. Auch der beständige Fokus auf dem Versuch, die große Reform im Steuerrecht zu erzielen, ist erst einmal passé. Stattdessen versucht er, klassisch liberale Lösungsansätze auf die großen Problemfelder unserer Zeit anzuwenden.

Das sieht man bei der Digitalisierung, die er vor allem als Standortfrage und Partizipationstool begreift. Es ist eine Variation der Idee der Chancengerechtigkeit: Nur wenn der Zugang zu dieser Schlüsselinfrastruktur des 21. Jahrhunderts gegeben ist, kann ein meritokrarischer Aufstieg erfolgen. Konsequenterweise setzt sich auch keine Partei so sehr für die Digitalisierung der Schule ein wie die FPD.

Das sieht man beim Thema des Klimawandels. Hier vertritt die FDP die klassisch marktwirtschaftlichen Lösungsansätze: Ein Vertrauen auf die Innovationskraft der Unternehmen einerseits, die durch die Beseitigung störender regulatorischer Fesseln freigesetzt werden muss, und ein marktorientiertes Regularium andererseits. Letzteres findet seinen Ausdruck vor allem im in liberalen Kreisen periodisch populären CO2-Handel.

Das sieht man zuletzt bei der Frage der Zuwanderung. Hier fordert die FDP bereits seit sicherlich zwei Jahrzehnten eine Reform des Einwanderungsrechts; als Vorbilder werden stets zuverlässig Kanada, Australien und mit Abstrichen die USA genannt. Gleichzeitig versucht Lindner, hier die Lücke zu besetzen, die die CDU gelassen hat, und eine bürgerlich-anständige Variante der Anti-Flüchtlings-Politik zu etablieren.

Man sieht an diesen Themenfeldern bereits, dass die neue FDP auch hier wieder vor allem versucht, Wähler anderer Parteien abzuziehen, die zwar die jeweiligen Probleme anerkennen, die Partei mit dem jeweiligen Profil - ob Grüne, AfD oder CDU - aus verschiedenen Gründen nicht oder nur mit Bauchschmerzen wählen wollen. Wie immer gibt es für den Erfolg dieser Ansätze keine Garantie, aber das ist die FDP gewohnt. Was wir mit Lindners Themensetzung sehen ist ein Versuch, die Partei breiter aufzustellen und so Wähler von einer größeren Bandbreite von Parteien anzuziehen als dies unter Westerwelle der Fall war. Zwar profitiert die Partei so nicht wie anno 2009 mit astronomischen Zugewinnen. Zugleich minimiert sie aber auch das Risiko eines Absturzes à la 2013.

Ich halte Lindners Strategie für wohldurchdacht und sinnig. Der Mann gehört sicher zu den aktuell besten politischen Talenten der Republik. Die Partei muss sich in einem Sechs-Parteien-System zwangsläufig öffnen und kann sich nicht einfach nur als Mehrheitsbeschaffer der CDU verstehen, allein schon, weil diese aus eigener Kraft gar nicht mehr mit der FDP mehrheitsfähig ist. Doch genau diese Logik schafft für die Partei ein massives Problem.

Denn Lindner war zwar erfolgreich darin, die Partei zu verändern und zu erneuern und damit wieder zu einem Player zu machen. Aber wie 2017 zu sehen war, bleibt die große Frage, was die Partei mit dieser neuen Flexibilität nun anfangen will. Perspektivisch ist die einzig mögliche Machtoption die Jamaika-Koalition, sofern Lindner nicht auf ein schwarz-gelbes Revival hofft (das allerdings wäre eine arg risikoreiche Wette). Eine Ampel ist mit der aktuellen SPD nicht zu machen, während die AfD als nicht demokratische Partei nicht satisfaktionsfähig ist; ein schwarz-blau-gelbes Bündnis steht damit ebenso nicht zur Debatte.

Wenn aber Jamaika für Lindner aus polittaktischen Gründen zu riskant ist, legt er die Partei implizit auf die Oppositionsrolle fest. Das kann man machen, aber es sorgt dafür, dass die FDP Objekt der politischen Entwicklung und nicht Subjekt ist. Angesichts der anstehenden Grundsatzentscheidungen auf gerade den Feldern, die Lindner als Profil für die Partei ausgemacht hat, dürfte das in diversen Parteimitgliedern Unruhe hervorrufen.

Doch noch ein Problem plagt die Partei. Zwar sind Lindners Themensetzungen alle firm im liberalen Mainstream und nur eine konsequente Weiterentwicklung und Akzentverschiebung des liberalen Programms. Gleichzeitig aber laufen sie in politische Sackgassen.

So beantwortet die FDP die Kernfrage, woher die digitale Infrastruktur eigentlich kommen soll, nicht wirklich. Darauf zu hoffen, dass private Initiativen Deutschland mit Glasfaser versorgen, hieße arg naiv zu sein. Investitionen auf Pump verbieten sich allein aus ideologischen Gründen. Zwar gibt es diverse ansprechende und grundsätzlich kompatible Modelle - etwa einen Investitionsfond - aber das ist ein Spagat der politischen Kommunikation, der viele Risiken birgt. Und hier ist noch der am einfachsten zu bewältigende Fallstrick.

Der von der Partei präferierte CO2-Handel etwa ist grundsätzlich kein schlechtes Instrument, er ist nur, wenn man den Klimaexperten glauben darf, unzureichend. Cap+Trade hätte es vor 20 Jahren gebraucht. Mittlerweile haben wir diese beiden Dekaden verschwendet, und mit jedem weiteren Jahr, das ins Land geht, braucht es drastischere Maßnahmen. Hier wird die Verantwortungsflucht von 2017 besonders offenkundig, zeigt sich am deutlichsten das Problem der Oppositionsrolle. Möglicherweise wird die FDP, wenn sei denn an die Regierung kommt, vor der Wahl stehen, aus demokratischer Verantwortung ein wesentlich ausgreifenderes und eigentlich mit ihrer Identität unvereinbares Programm mitzutragen oder erneut anderen das Feld überlassen. In beiden Fällen würden ihre Ideen auf dem Ablagestapel der Geschichte landen. Keine guten Aussichten für die Liberalen.

Eine andere Hürde tut sich im Komplex des Einwanderungsrechts auf. Die FDP hat hier die klarste Position aller Parteien. Exemplarisch sieht man dies an der Forderung Lindners, Grenzschließungen für Asylbewerber aus anderen EU-Staaten einzuführen. Damit stellt sich die Partei erst einmal nur hinter klar bestehende EU-Verträge, vor allem die Dublin-Abkommen. Die Crux besteht darin, dass diese Forderung nur umsetzbar ist, wenn man die Grenzen dicht macht und kontrolliert - und das wiederum widerspräche dem Schengenabkommen. Das ist ein Dilemma, an dessen Lösung Angela Merkel bereits seit Beginn der Krise scheitert und das mit der Dynamik des Brexit vergleichbar ist. Es gibt schlichtweg keine saubere Lösung, auch wenn Lindner das suggeriert. In einem Geflecht sich widersprechender Grundsätze und Verträge wird immer ein Bruch existieren. Die Partei, die das nicht anerkennt, ist nicht regierungsfähig.

Das andere Problem der FDP-Position für Migration ist gerade die Übernahme des Migrationsbegriffs. Denn Flüchtlinge sind keine Migranten. Ein System einzuführen, das ähnlich Kanada oder Australien Einwanderung nach Punktekriterien vergibt, wäre eine deutliche (und liberale!) Verbesserung des aktuellen Einwanderungsrechts, das überkompliziert und immer noch von den alten ius-sanguinis-Überresten und den rot-grünen Reformversuchen belastet ist. Nur tut es gar nichts zu der Frage, wie mit Flüchtlingen und Asylbewerbern zu verfahren ist. Sollen diese einen "path to citizenship" erhalten? Das bleibt unklar, und man darf vermuten: absichtlich.

Solange die FDP in der Opposition ist, spielen diese Reibungspunkte keine Rolle. Der innerparteiliche Frieden bleibt gewahrt, die Partei nach mehreren Richtungen offen und eignet sich als Projektionsfläche für alle möglichen Wähler. Das ist die Stärke des Lindner'schen Ansatzes, mit der er auch den Triumph von 2017 feierte. Spätestens 2021 aber wird sich die Partei einigen harten Fragen stellen müssen. Wie die Antworten darauf ausfallen, kann den Kurs der Bundesrepublik entscheidend verändern.

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