Donnerstag, 3. Dezember 2020

Die Pandemie als Krise des Westens

 

Die Horrormeldungen reißen nicht ab. Jeden Tag sterben in den Ländern der Europäischen Union hunderte von Menschen an Covid-19. In den USA erreicht die Zahl der Todesopfer bald die Viertelmillionmarke, während die (noch) regierenden Republicans sich auf die Linie zurückziehen, dass es sich dabei um das erwartete Ergebnis handle und man nichts dagegen tun könne, eine so barbarische Reaktion, dass einem die Sprache weg bleibt. In der Substanz unterscheidet sie sich leider kaum von dem, was die Regierungen der EU oder Kanadas zu bieten haben. In manchen Ländern sind die Infektions- und Todeszahlen höher (Schweden, Italien, Spanien) als in anderen (Norwegen, Finnland). Aber das Bild ist insgesamt nicht schön. In der eigenen Wahrnehmung denkt man gerne, dass es anderswo auch nicht besser ist. Aber zunehmend muss man feststellen, dass die Pandemie zwar eine weltweite Krise ist, diese aber weltweit sehr unterschiedlich behandelt wird. Zugespitzt gesagt: die Pandemie ist eine Pandemie des Westens.

Um das an nur einem Beispiel deutlich zu machen: Während US-AmerikanerInnen wegen der katastrophalen Lage im Land der unbeschränkten Möglichkeiten in kaum mehr irgendein Land weltweit einreisen dürfen, darunter auch die gesamte EU, gilt diese Einschränkung für Reisende aus Ruanda nicht mehr. Und das nicht deswegen, weil Ruanda im Reiseaufkommen irrelevant wäre. Das Land hat 0.28 Coronatote pro 100.000 Einwohner. Diese Zahl beträgt in den USA 70.4. Dabei handelt es sich um keinen Einzelfall. Dasselbe gilt für den Senegal und viele weitere afrikanische Länder, wie Ahmed Mushfiq Mobarak und Rifaiyat Mahbub in ihrem lesenswerten Artikel "What the US can learn from how African countries handled Covid" für CNN berichten.

Die Gründe hierfür sind vielfältig. So gibt es eine wesentlich größere gesellschaftliche Disziplin, was social distancing und Maskentragen anbelangt. Die Staatsoberhäupter gehen hier häufig mit gutem Beispiel voran. Gleich zu Beginn der Pandemie wurden rigorose Lockdown-Maßnahmen durchgeführt und Einreisebeschränkungen erlassen, zu einem Zeitpunkt, als im Westen der Gedanke auch nur an Kontrollen an Flughäfen noch als Ketzerei galt. Länder wie Ghana und Senegal bauten ein umfassenderes Testregime auf als manches europäische Land; Gesundheitsarbeitende gingen von Haus zu Haus. Die Regierungen verbreiteten wesentlich offensiver Informationsmaterial und überließen die konkreten Maßnahmen den ExpertInnen, statt (wie in Deutschland) die Pandemiebekämpfung zu einem Gegenstand des föderalen Hahnenkampfs zu machen. In Afrika wird eine Helmholtz-Software erfolgreich eingesetzt, die in Deutschland aus Datenschutzgründen nicht zugelassen ist.

Und wir reden noch nicht einmal von den asiatischen Ländern, in denen seit Monaten praktisch Coronafreiheit herrscht. Vietnam hatte seit Wochen keine neuen Fälle mehr. In Taiwan fanden riesige Straßenfeste mit sechsstelliger Teilnehmendenzahl statt. In Japan konnte die Pandemie trotz einer im Westen praktisch unerhörten Bevölkerungsdichte fast vollständig unter Kontrolle gehalten werden. Gleiches gilt für Südkorea. Neuseeland gilt als eines der Länder mit der besten Pandemiestrategie und ist seit langer Zeit ohne Neuansteckungen.

Die Gemeinsamkeiten in all diesen Ländern sind offenkundig: eine entschlossene, stringente Reaktion. In allen Ländern, die die Pandemie unter Kontrolle haben, wurden frühzeitig Flughäfen geschlossen, wurde rigoros getestet und quarantänisiert, wurde auf GesundheitsexpertInnen gehört und Masken getragen. Es sind zwei Weltregionen, in denen die Pandemie verheerend wirkt: Amerika und Europa.

Das wirft kein gutes Licht auf diese Regionen. Verallgemeinerungen für die Gründe sind schwierig. An der Demokratie als solcher kann es nicht liegen, denn die Autokratien Russlands, Ungarns und Polens versagen ebenso wie die Lateinamerikas; die Demokratien im Herzen der EU sind genauso betroffen wie die in Nordamerika. Dagegen sind die Demokratien Ost-Asiens praktisch pandemiefrei, Indien dagegen deutlich problembeladener; ist das autokratische China erfolgreicher als der nicht minder diktatorisch regierte Iran. Aber die Häufung ist auffällig.

Entsprechend ist die These, die Pandemie sei eine Krise des Westens, zwar zugespitzt. Aber sie ist gerechtfertigt. Denn keine Region war in ihren Anlagen so gut auf ein solches Ereignis vorbereitet - in Fachpersonal, Reichtum und Strukturen - und macht in ihrer Bekämpfung einen so jämmerlichen Job.

Führen wir uns nur die Situation in Deutschland noch einmal vor Augen. Die Gesundheitsämter sind völlig überlastet und schon längst nicht mehr in der Lage, das Infektionsgeschehen nachzuverfolgen - eine absolute Grundlage jeder erfolgreichen Eindämmung, wie uns etwa Südkorea vor Augen geführt hat. Die Regelungen ändern sich mittlerweile im Wochentakt und werden von immer größeren Teilen der Bevölkerung nicht mehr nachvollzogen. Die MinisterpräsidentInnen leisten sich einen permanenten Wettkampf um Aufmerksamkeit, der diese Faktoren verschärft und wertvolle Ressourcen bindet. Die Corona-App ist ein einziges Drama, bei dem wir wohl nie erfahren werden, ob sie hätte funktionieren können. Selbst wenn sie irgendwelche Kontakte meldet, hat dies keine Konsequenzen. Die Einhaltung der Regeln wird bestenfalls bruchstückhaft kontrolliert. Und so weiter.

Und da sind wir noch nicht einmal bei den Auswirkungen für die Wirtschaft. Auch hier sind regional extrem starke Unterschiede zu beobachten, wie etwa Adam Tooze in seinem Artikel "Global Inequality and the Corona shock" herausarbeitet:

Whereas in China the narrative of national triumph over COVID “balances” the hardship of those worst affected, in India a rampant epidemic, a savage economic recession, and extreme disparities compound each other. The same is true in Latin America. [...] The upshot of this partial exercise in mapping is that the COVID crisis reveals a world split into five distinct regimes of inequality and growth. Europe and the US have differed in ways that have become familiar in recent decades. What is new is that the world of emerging markets has split three ways. All three are marked by extreme inequality, but whereas China has maintained growth, India has suffered a shuddering blow that has starkly exposed its limited governance capacities. The one consolation is that India may be able to get back on track. The same cannot be said for Latin America, which is haunted by the prospect of a new “lost decade.” If 2020 will be remembered as, in President Macron’s words, the moment when humanity as a whole suffered an “anthropological shock,” it will also be remembered as a moment of extreme polarization, the moment that buried, once and for all, the millennial vision of a convergent future of economic globalization, growth, and social transformation. (Adam Tooze, Public Books)

Die ganze rundherum gute Analyse ist sehr zu empfehlen; mir geht es nur darum, dass die betroffenen Länder offensichtlich sehr unterschiedlich aus der Krise herauskommen. Zusätzlich zu der katastrophalen Bewältigung des Virus' steht etwa Lateinamerika vor einer Depression. In Europa erweisen sich manche Sozialstaaten als leistungsfähig genug, wie etwa in Deutschland die meisten Auswirkungen abzufedern. Andere dagegen sind kaum in der Lage, das blanke Minimum an Pandemiebekämpfung zu leisten. An eine Absicherung der wirtschaftlich Betroffenen ist da kaum zu denken.

Wie so häufig verblasst die EU auch in dieser Krise in den Hintergrund. Zwar gibt es mit dem Corona-Hilfspaket eine große Umverteilungsaktion innerhalb der EU, wie sie noch vor 10 Jahren bei der Eurokrise undenkbar war. Aber die Zahlungen sind von einem auf die gesamte EU gesehen sehr geringem Umfang und längst zum Spielball der Rechtspopulisten in Ungarn und Polen geworden. Die Chance, dass die EU in den betroffenen Ländern eindeutig als positive Kraft auftreten könnte, die das Leben der Menschen verbessert, ist schon fast dahin. Weiterhin zeigt sich die Gemeinschaft zu energischem, gemeinsamem Handeln als unfähig (was natürlich auch andere Politikfelder wie die Sicherheitspolitik betrifft, wie ich in letzter Zeit immer wieder im Vermischten thematisiert habe, aber das gehört nicht hierher).

Aber gerade Deutschland leistet sich dieses Drama im Kleinen, wo der Föderalismus an allen Ecken und Enden Sand ins Getriebe schleudert. Statt einen Wettbewerb um die besten Lösungen auszulösen, sind die Bundesländer unwillig, voneinander zu lernen (gut sichtbar am extrem verspäteten Eingeständnis Sachsens, mit seinem Kurs nicht gut gefahren zu sein), dafür aber sehr willig, in einen permanenten Wettbewerb um die größte Gockelhaftigkeit zu treten. Allzu oft steht der Bund daneben, willig zu helfen und zu handeln, aber ohne Kompetenzen und auf Mithilfe der Länder angewiesen, die sich ihren Aufgaben nicht gewachsen zeigen und dies durch Aufplusterei kompensieren.

Nirgendwo wird das sichtbarer als im Bildungsbereich. Die KultusministerInnenkonferenz erlässt Empfehlungen, an die die Mitglieder sich dann nicht halten (hallo Baden-Württemberg), und die Belastung für Lehrkräfte ist aber durch Corona generell massiv gestiegen. Längere Arbeitszeiten, psychologische Belastung, etc. Die absolute Missachtung durch die Dienstherren verschärft die Lage weiterhin. Gleichzeitig ist um den Streit der Infiziertenzahlen an den Schulen ist mittlerweile ein veritabler politischer Streit entbrannt, seit die SPD in Nordrhein-Westfalen ausgerechnet hat, dass der Inzidenzwert unter Lehrkräften wesentlich höher als im Durchschnitt liegt. Das FDP-geführte Kultusministerium dementiert dies. Das Grundproblem ist aber nicht spezifisch für Nordrhein-Westfalen: es gibt praktisch keine belastbaren Zahlen zu den Schulen, und es gibt diese, weil die Kultusministerien - egal von welcher Partei geführt - bewusst nicht hinschauen und verhindern, dass solche Zahlen erhoben werden.

Man vergleiche diese katastrophale Krisenpolitik etwa mit Südkorea. Dort wurden im Frühjahr die Schulen ebenfalls geschlossen. In der dadurch gewonnenen Zeit wurde die ohnehin bereits ordentlich ausgebaute digitale Infrastruktur verstärkt, wurden Plexiglastrennwände zwischen den Plätzen der SchülerInnen installiert und rigorose Hygienekonzepte für die Rückkehr in den Präsenzunterricht erarbeitet. In der gleichen Zeit geschah in Deutschland - praktisch nichts.

Aber das Versagen der Politik nimmt sich nachgerade harmlos aus gegenüber dem Versagen der Gesellschaft. Wo gerade in Asien wie selbstverständlich Masken getragen und eine rigorose Isolationspolitik von der Gesellschaft umstandslos mitgetragen wurde, sind hierzulande die Regeln immer noch schlecht verstanden (der Anteil der Leute, die die grundlegende Theorie hinter dem Maskentragen, Aerosolen und Abstand halten nach sieben Monaten immer noch nicht verstanden haben, ist erschreckend) und werden nur unzureichend umgesetzt.

Die Corona-Krise zeigt sich daher vor allem als eine Krise des Westens. Unter den Ländern, von denen man einen kompetenten und entschlossenen Umgang mit der Krise hätte erwarten dürfen, versagt gerade diese Hemisphäre in einem absolut erschreckenden Ausmaß. Während in Ländern, die sich dem Ganzen kompetent angenommen haben, seit Monaten wieder weitgehend Normalität herrscht, findet hier niemand etwas dabei, den Erfolg der Pandemiepolitik daran zu bemessen, dass nicht alle Intensivbetten belegt sind und nur zwei- bis dreimal so viele Menschen sterben wie an einer besonders schlimmen Grippe. Das Ausmaß, in dem dieses völlige Versagen hingenommen wird, vor allem im Gegensatz zu anderen Ländern, die offensichtlich gegen die exakt gleiche Krankheit wesentlich höhere Erfolge verzeichnen, ist kaum zu fassen.

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