Dienstag, 22. Dezember 2020

Feinde und Agenten, wohin man sieht

 

Es ist eine lange Tradition, zur Festigung der innenpolitischen Macht übelmeinende äußere Mächte zu beschwören. Agenten eines Feindes außerhalb der eigenen Landesgrenzen, der Übles will, hecken Verschwörungen aus. Sie sind unter uns. Gerne wird dann innenpolitischen GegnerInnen vorgeworfen, mit diesen äußeren Feinden im Bunde zu sein. In der letzten Zeit scheinen mir diese Narrative stark im Aufschwung zu sein. Zumindest konnte ich sie als ein Muster in verschiedenen Ländern wahrnehmen, die von populistischen Autokraten regiert werden. Ob diese sich als rechts oder links definieren, spielt dabei effektiv keine Rolle. Ich will anhand einiger Beispiele deutlich machen, wie diese Beschwörung von ausländischen Einflüssen politische Narrative bildet.

Großbritannien

Bei den europafeindlichen Tories wie Labour-Abgeordneten spielten Narrative einer feindlich gesinnten EU, gegen die sich der Inselstaat zu wehren habe, schon immer eine Rolle und dienten als unausgeprochene Unterfütterung der beliebten Weltkriegserzählungen, in denen sich die beherzten InsulanerInnen Jahr für Jahr gegen den Blitz und eine mögliche Invasion durch Hitler in "Britain's Finest Hour" zur Wehr setzten. Die Vergleiche zur jeweils aktuellen politischen Situation waren je nach politischer Finesse und Geschmack dabei mal mehr, mal weniger krude.

Aber seit dem Brexit und dem damit verbundenen Sieg dieses einstmaligen Randes, seinem Vordringen und seiner Etablierung im Mainstream, wurde der Subtext klar zum Text. Das wurde bereits während der Brexit-Kampagne selbst klar, in der "die EU" als sinistere Macht von außen inszeniert wurde, deren Machenschaften zu einer "Überflutung" der Insel mit EinwanderInnen führte. Besonders MigrantInnen aus Polen und Rumänien waren lange Zeit im Visier der Brexit-BefürworterInnen, aber um den Wahltermin spielte absurderweise die akut drohende Gefahr türkischer Einwanderungswellen aufgrund eines gegen den britischen Willen erzwungen Türkei-EU-Beitritts eine Rolle - ein Szenario, das so absurd ist, soviel Unkenntnis über die EU offenbart, dass man gerne darüber lachen würde, wenn es nicht so dramatische Konsequenzen gehabt hätte.

Die Idee der Insel-Nation als von außen bedroht und nur dank der die Wellen beherrschenden Marine immer noch souverän findet im aktuellen Streit um die Fischereirechte in Zuge des Brexits ihren Höhepunkt. Die Farce, die hier um einen keine 2% des Bruttoinlandsprodukts ausmachenden Wirtschaftszweig ausgefochten wird, ist an Albernheit kaum zu überbieten. Die Tories überbieten sich im Parlament mit Forderungen, die Royal Navy möge ihre Flugzeugträger entsenden, um französische und belgische Fischerei-Trawler aufzubringen, die es wagen, britische Hoheitsgewässer zu verletzen. Die Vorstellung, die Royal Navy liefere sich Schusswechsel mit der französischen Marine um die Frage, wer wo im Ärmelkanal fischen darf - vor wenigen Jahren wäre sie noch völlig unvorstellbar gewesen. Heute ist sie nur eine miese Wahlumfrage für Boris Johnson entfernt.

Die Schuld an immer aufs Neue scheiternden Brexit-Verhandlungen, die mal ums mal den politischen Offenbarungseid erforderten, wurden stets der EU angelastet, und gerne, weil Personalisierungen es immer leichter machen, der Person Angela Merkels. Diese Tendenz verschärfte sich vor allem in den letzten zwei, drei Jahren, in denen Merkel für viele Staaten mit populistischen und/oder zum Autoritarismus neigenden Staatsoberhäuptern zur einfachen Chiffre wurde.

Polen

Dieser Trend wird besonders in Polen deutlich, wo die konservativen Parteien schon immer gerne mit Deutschfeindlichkeit Politik machten, dies allerdings seit dem Machtantritt der PiS ebenfalls zu einem wesentlich offensiveren Merkmal verkommen ist. Wo früher in Andeutungen und verklausulierten Forderungen nach Reparationen gearbeitet wurde, erklären der polnische Präsident Duda genauso wie PiS-Chef Kaczinsky heute völlig offen, dass Deutschland genauso wie im Zweiten Weltkrieg gegen Polen arbeite.

Was den Briten die Fischereirechte ist den Polen dabei die Kohlekraft. Das Land ist zu fast drei Vierteln zur Energieerzeugung auf das Verbrennen fossiler Brennstoffe angewiesen. Viele Häuser haben noch Kohleöfen, die von den EinwohnerInnen auch mit allem möglichen Müll betrieben werden - was durch die Behörden absichtlich nicht verfolgt wird, obwohl es illegal ist. In Folge ist die Luftverschmutzung in Polen gigantisch; über die Hälfte der 50 schmutzigsten Städte Europas liegen in Polen, die Raten an Lungenkrankheiten und frühzeitigem Tod durch die Luftverschmutzung sind atemberaubend.

Aber anstatt zu versuchen, diesen Zustand abzubauen, betreibt die PiS Identitätspolitik und gibt sich eine Identität als Partei der Bergmänner. Der Strukturwandel wird so verzögert, während die EU als Feind von außen konstruiert wird, der versucht, diese polnische Energiequelle zu rauben und das Land zu unterwerfen. Dass polnische Kohle so schlecht und teuer ist, dass sie unverkäuflich auf riesigen Halden lagert, während das Land für seine Kraftwerke russische Kohle importiert - geschenkt. Dass die polnische Kohle bereits 2020 nicht mehr konkurrenzfähig ist macht die jahrelange Weigerung der PiS-Regierung, auch nur bis 2050 (!) einen Kohleausstieg anzusetzen, umso absurder.

Hier ist die Zusammenarbeit mit Russland auch kein Problem, während gleichzeitig die teuflische Merkel bei Nordstream natürlich an einer Neuauflage des Molotow-Ribbentrop-Pakts arbeitet. Das Mittel der Wahl sei dabei - natürlich - die EU, die - natürlich - von Merkel persönlich gegen die unterdrückten Polen geführt werde, die sich nur durch einen Akt nationaler Einheit gegen diese fremde Einflussnahme zur Wehr setzen könnten. Das Besondere im Falle Polens ist, dass die Bevölkerung selbst ziemlich pro-europäisch ist und auch die Regierung deutlich weiß, wie sehr sie auf EU-Finanzhilfen angewiesen ist, weswegen Polen immer noch vorsichtiger ist als etwa Ungarn.

Ungarn

Wenn man ein Land sehen will, das völlig von fremden Agenten unterwandert und einem Dauerangriff ausgesetzt ist, dann muss man nach Ungarn gehen. Denn der dortige Beinahe-Diktator Victor Orban, der soweit wie kein anderer EU-Staatschef darin ist, die Demokratie in seinem Land völlig abzuschaffen, weiß auf ein beeindruckendes Repertoire solcher Feinde zurückzugreifen.

Ganz vorne dabei sind natürlich die EU und, wer auch sonst, Angela Merkel. Sie attackieren die "Souveränität" der ungarischen Nation - ein Narrativ, das sich auch in Großbritannien und Polen permanent findet. Aber man sollte nicht denken, dass Ungarn ausschließlich von den Deutschen bedroht wird. Vielmehr unterliegt das Land außerdem einer konzertierten Attacke durch den internationalen Kapitalismus, der voller antisemitischer Untertöne vor allem mit George Soros personifiziert wird, einem Lieblingsziel von Antisemitischen weltweit. Im Verbund mit der EU und Merkel unterhöhlt Soros nicht nur die Seelen der Ungarn, sondern versucht auch, das Land davon abzuhalten, die Sinti und Roma zu misshandeln. Das kann ja nur ein finsterer Plan der Brüsseler Zentrale für Souveränitätsfeinde sein.

Doch die Lage ist noch verfahrener. Auch "Linksliberale" (was auch immer das sein soll) haben es auf das Land abgehen. Als etwa ein führender Fidesz-Politiker bei einer Corona-Party in Brüssel versuchte, einer Razzia durch die Flucht aufs Dach zu entgehen, wurden in seinem Rucksack erhebliche Mengen Ecstasy gefunden. Diese gehörten natürlich nicht ihm; wie sie in den Rucksack kamen, vermochte der Abgeordnete leider nicht zu erklären. Für Orban dagegen war die Sache klar: linksliberale Agenten, von der EU angeheuert, wollten die Fidesz unterwandern.

"Linksliberal" ist für Orban auch ein Codewort für "schwul", denn wie jeder autoritär-populistische Regierungschef hat er eine neurotische Angst vor homosexuellen Männern. Diese wollen nämlich - natürlich mit Hilfe der EU - die Macht in Ungarn übernehmen und so die berühmte ungarische Männlichkeit zerstören. Ist diese erst einmal dahin, steht nämlich der Übernahme durch Soros und seine Garden nichts mehr im Wege.

Russland

Diese spezifische Neurose teilt Orbans Ungarn mit Putins Russland. Gegen keine Minderheit geht der russische Staat so aggressiv vor wie gegen Homosexuelle. Ihr legaler Status ist nur unwesentlich besser als im Iran; ungehemmte Polizeigewalt, gesellschaftliche Ausgrenzung und rechtliche Diskriminierung gegen sie sind die Kehrseite von Putins ultra-maskuliner Inszenierung. Da russische Männer viel zu stark und, nun ja, männlich, sind, um den Verlockungen der westlich-liberal kodierten Homosexualität zu verfallen - ungeachtet der Tatsache, dass die sexuelle Orientierung ohnehin keine Entscheidung, sondern genetische Veranlagung ist - muss der Grund dafür, dass solche Menschen doch immer wieder in Russland auftauchen, in westlicher Unterwanderung liegen.

Bereits im Jahr 2012 wurde diese Verschwörungserzählung Gesetz: Das so genannte "Agentengesetz" zwang sämtliche Nichtregierungsorganisationen, die Geld aus dem Ausland erhielten - und das sind in einer globalisierten Welt ohnehin praktisch alle - sich als "Agenten" zu registrieren, was der Diffamierung und Diskriminierung Tür und Tor öffnete. In der neuesten, 2020 verabschiedeten Reform des Gesetzes begann der Staat damit, auch Einzelpersonen als "ausländische Agenten" zu registrieren. Es braucht wenig Fantasie um sich vorstellen zu können, wie ein Autokrat wie Putin solche Gesetze nutzt, um die innerparteiliche Opposition auszuschalten. Vorausgesetzt, die überlebt die Giftanschläge.

China

Solcherlei Feinheiten berühren die chinesische Führung eher weniger. Noch unsubtiler geht China vor, wenn es um den Genozid an den Uighuren geht. Diese muslimische Minderheit wird in Konzentrationslager gesteckt, in Geheimgefängnissen gefoltert und ermordet, zur Zwangsarbeit gezwungen und zehntausendfach ermordet. Die Erklärung dafür: Die Uighuren wären, natürlich, fremde Agenten, die den Fortschritt der Volksrepublik untergraben würden. Das ist die direkte Fortsetzung der gewaltigen Mordprogramme aus dem "Großen Sprung nach vorn" oder der "Kulturrevolution", in der die massiven Fehler der Kommunisten auch mit irgendwelcher subversiver Agententätigkeit begründet wurden.

Die Kommunisten vertrauen stattdessen in bester 1984-Manier auf die brutale Durchsetzungsfähigkeit des Staates dabei, den Menschen Narrative einfach aufzuzwingen. So war sich die chinesische Regierung nicht zu schade, der Bevölkerung zu Jahresbeginn die Story zu verkaufen, dass amerikanische Agenten das Corona-Virus in Wuhan platziert hätten. Die offensichtliche Inkonsistenz dieser Erklärung mit allen Fakten und, vor allem, mit aller nachfolgenden Politik, spielt dabei keine Rolle. Aber die DDR hat ihren Bürgern ja ohne verzogene Miene auch 40 Jahre lang erklärt, dass Menschenfänger aus dem Westen die Menschen in Massen in die BRD entführen würden. Da ist eine gewisse Routine vorhanden.

Venezuela

Mit amerikanischen AgentInnen hat auch Venezuela Erfahrungen, wenn man den Worten der dortigen Linkspopulisten Glauben schenken darf. Denn die massiven Wirtschaftsprobleme des Landes sind nicht auf die Inkompetenz und Korruption der Machthabenden und die fallenden Ölpreise zurückzuführen. Genauso wenig sind die Proteste gegen die Regierung legitimer Ausdruck des Unmuts über Hungertote, sondern das Resultat nefariösen US-Einflusses.

USA

Man könnte annehmen, dass wenigstens die allmächtigen Vereinigten Staaten, die eine so illustre Riege unschuldiger Opfer von Ungarn über Russland und China zu Venezuela zu unterwandern verstehen, sicher vor ausländischer Agententätigkeit sind. Aber weit gefehlt. Unter der Präsidentschaft Donald Trumps nahm der Einfluss des Auslands in einem Ausmaß zu, dass man sich schon fragen muss, wozu das Pentagon eigentlich bezahlt wird. #Draintheswamp! Schauen wir uns die Liste an.

Da wäre etwa China, dessen unfaire Handelspraktiken die amerikanische Wirtschaft unterminieren, eine Verschwörungstheorie, die den zusätzlichen Vorteil hat, wahr zu sein. Aber auch eine kaputte Uhr geht zweimal am Tag richtig. Gleichzeitig sind die USA einem schweren Angriff durch Deutschland ausgesetzt, der von Angela Merkel persönlich (wem auch sonst!) orchestriert wird. Die Deutschen nämlich verkaufen Autos in den USA, die in den USA hergestellt werden und deren Gewinne in den USA versteuert werden. Ein Unding. Irgendwie ist es Merkel dabei gelungen, die komplette Hoheit über die EU-Handelspolitik an sich zu reißen.

Die USA sind aber Opfer nicht nur der EU-Institutionen, sondern auch der UNO. Vor allem die WHO hat ihre SpitzelInnen überall untergebracht und versucht, die Souveränität der USA zu untergraben. Dabei arbeitet sie eng mit China zusammen. Diese Institutionen versuchen auch, die USA zu zwingen, ihre Klimaverschmutzung zu reduzieren. So ist etwa das absehbare Ende des amerikanischen Kohleabbaus in West Virginia nicht Resultat von Marktkräften, die diese Kohle schlicht zu teuer machen, als dass sich der Abbau lohne. Stattdessen brauche es nur entschlossene, ur-amerikanische Intervention der Politik.

Nicht zu vergessen in diesem Mix ist Mexiko als Stellvertreterin für praktisch alle süd- und mittelamerikanischen Ländern, aus denen migrantische Bewegungen in die USA vollzogen werden. Eine Allianz von linken Vaterlandsverrätern arbeitet mit diesen Ländern zusammen, um eine ethnische Neumischung Amerikas zu erreichen. Mit dieser These eröffnete Trump seinen Wahlkampf 2015. Etwas Ähnliches passiert in diesem Bild bezüglich Muslimen, die natürlich alle irgendwie verdächtig sind.

Das Körnchen Wahrheit

Natürlich sind diese ganzen Theorien nicht völlig an den Haaren herbeigezogen, ein Körnchen Wahrheit steckt überall mit drin. So gehört zur Mitgliedschaft in der EU tatsächlich die Verpflichtung, rechtsstaatliche Prinzipien zu achten. So hat sich auch Polen vertraglich zur Reduzierung der Emissionen verpflichtet. So arbeiten Geheimdienste aller Herren Länder natürlich gegeneinander. Einwanderung aus der lateinamerikanischen Welt in die USA ist eine Realität. Die Uighuren sind tatsächlich Muslime, die mit der Vision der zentralistisch-atheistischen KPCH wenig am Hut haben. Die chinesischen Währungsmanipulationen sind gut belegt, und Deutschland treibt den Bau von Nordstream 2 politisch voran.

Aber die Welt ist eben ein komplexer Ort, und diese Dynamiken sind oftmals das Resultat zahlreicher miteinander verschränkter Phänomene. Aber Bergarbeiter wollen diese Erklärungen nicht hören, ob in Kattowitz oder Williamson. Wöllte ich auch nicht, wenn ich von Arbeitslosigkeit bedroht wäre, vermute ich. Aber manche Staaten und Regierungen versuchen nicht einmal das zu erklären, und sie versuchen auch nicht, Abhilfe zu schaffen. Was sie stattdessen anbieten ist ein Schuldiger, ein Schwarzer Mann, auf den man seinen gesamten Hass, seine gesamte Frustration abladen kann. Das ändert nichts und macht nichts besser, aber bei Gott fühlt es sich gut an.

Verantwortungsvolle Regierungen tun so etwas nicht, oder wenigstens nur in homöopathischen Dosen. Aber "Verantwortung" wird genauso selten in einem Sinnzusammenhang mit "Populismus" gebraucht wie mit "Autokratie". Das Ablenken inneren Drucks auf echte oder eingebildete äußere Feinde ist ein seit Jahrhunderten bewährtes Rezept. An seinem Ende steht aber allzu oft ein Pogrom.

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