Montag, 7. Dezember 2020

Joe Biden raucht in Maske im Schlachthof auf der Westbank eine Zigarette und denkt über die Zukunft nach - Vermischtes 07.12.2020

 

Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Sie werden mit einem Zitat aus dem Text angeteasert, das ich für meine folgenden Bemerkungen dazu für repräsentativ halte. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten.

1) Israel Tries To Kill The Nuclear Deal

Iran has made the political choice not to pursue nuclear weapons because its leadership has concluded that the price of obtaining them is not worth paying, but with each new attack their thinking could begin to change. In addition to being illegal and outrageous, murdering Iranian scientists makes acquiring a nuclear deterrent more appealing to their leaders rather than less. Contrary to disingenuous Iran hawks like Max Boot, killing Fakhrizadeh has hurt the cause of diplomacy with Iran just as it was meant to. We need only imagine how our government would respond if the positions were reversed and Iranian agents murdered an American or Israeli official. Boot would not be suggesting that this paves the way to new negotiations. He would be predictably agitating for war. The assassination was an outrageous and unjustified attack, and the Israeli government that carried it out is guilty of sponsoring terrorism. There can be no excuse for attacks like this no matter who the target is, and it ought to be just as widely condemned as any other attack would be. [...] We are used to having every aggressive Israeli action outside Israeli borders relabeled as “self-defense,” but there is no whitewashing this one. A U.S. client state carried out a heinous attack on another country’s soil for the purpose of undermining the foreign policy of the next American administration at the risk of sparking a regional conflagration. There have to be consequences for that behavior, or there will be even more of it in the years to come. The lack of any public response from the Biden camp so far has not been encouraging. (Daniel Larison, The American Conservative) 

Die Aggressivität, mit der Israel gegen den Iran vorgeht, ist Besorgnis erregend, aber auch konsistent. Bereits zu Zeiten von George W. Bush drängte das Land stets in Richtung einer möglichst kriegerischen Haltung gegenüber Teheran. Ich finde das beunruhigend, aber auf der anderen Seite werde ich auch nicht ständig durch das Mullah-Regime bedroht. An dieser Stelle will ich daher vor allem bemerken, wie effektiv Israel darin ist, seine bevorzugte Sicherheitspolitik in der Region durchzusetzen und sowohl den Kurs der USA zu bestimmen als auch, und das ist neu, Allianzen mit muslimischen Ländern in der Region zu schmieden. Das ist ein volatiler Mix mit vielen Playern, die bereit zur Eskalation sind.

2) Vom Schlachthof bis ins Homeoffice

Endspurt in der GroKo: Sechs Koalitionsvorhaben, die der SPD am Herzen liegen, sollen noch durchs Parlament. Doch die Union hat die Lust an Kompromissen verloren. In Umfragen ist sie mehr als doppelt so stark wie die SPD. Sie kann die Sozis am ausgestreckten Arm verhungern lassen. Ihr Restprogramm heißt deshalb: verzögern, verwässern, verhindern. [...] Da wäre das Arbeitsschutzkontrollgesetz, mit dem Hubertus Heil (SPD) die Fleischindustrie zu besseren Arbeitsbedingungen in Schlachthöfen zwingen will. [...] Ausnahmen sind das erprobte Mittel, um Gesetze, die man innerlich ablehnt, ins Leere laufen zu lassen. Das Führungspositionen-Gesetz, mit dem Franziska Giffey und Christine Lambrecht (beide SPD) eine verbindliche Frauenquote in Unternehmensvorständen einführen wollen, wird kommen, doch betroffen sind davon nicht mal hundert Betriebe [...] Das Lieferkettengesetz, mit dem der Arbeitsminister Unternehmen verpflichten will, auch bei ausländischen Zulieferfirmen auf die Einhaltung von Menschenrechten und Umweltstandards zu achten, wird von Wirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) blockiert, [...] Das Recht auf Homeoffice für 24 Arbeitstage im Jahr, das Minister Heil gesetzlich verankern will, hat Altmaier bereits kassiert [...] Ebenso mau sieht es beim Demokratiefördergesetz aus, [...] Sogar das Lobbyregistergesetz – seit zehn Jahren diskutiert – ist von der Union so abgemildert worden, dass es sich nur noch auf den Bundestag bezieht [...] Nur einmal im Finaljahr der GroKo hat die Union die SPD nicht ausgebremst, sondern vorwärts getrieben: beim Infektionsschutzgesetz. Während die Genossen einen Parlamentsvorbehalt für Grundrechtseingriffe verlangten, wollte die Union ihrem schneidigen Gesundheitsminister freie Hand geben. Die SPD gab klein bei. Nach diesem Muster werden wohl sämtliche noch ausstehenden Gesetzesvorhaben realisiert werden. Denn anders als die SPD ist die Union bereits im Wahlkampf. (Wolfgang Michal, Freitag)

Man muss das so hart sagen, aber die SPD verdient ihre Niederlage einfach. In der Partei existiert keinerlei Machtinstinkt. Wie kann man sich so vorführen lassen? Das war bereits in der letzten großen Koalition völlig absurd. Da hat die SPD es geschafft, nach der Beinahe-Krise um den Parteivorsitz geeint hinter Olaf Scholz zu stellen und ihn mit ernsthaftem Gesicht als Kanzlerkandidaten zu präsentieren, Monate bevor die CDU ihre Streitigkeiten - vielleicht! - beilegen kann. Und seither machen sie...was? Diese Leute glauben doch gar nicht daran, dass sie jemals ernsthaft wieder Macht haben könnten. Da ist ja die FDP fordernder, was ihre Rolle in einer Koalition angeht, und die ist nicht mal halb so groß!

Ich erinnere mich noch daran, was ich vor dem Wahlkampf 2017 geschrieben habe: Dass die SPD in eine große Koalition gehen soll mit einem Kernanliegen, das sich dann dazu eignet, den Wahlkampf gegen die CDU aus der Koalition heraus zu führen. Die Vorlage dafür war der Konflikt um die D-Mark-Aufwertung, der 1969 als großes Spalterthema diente und half, die SPD an die Regierung zu bringen. Welches Thema genau spaltet denn gerade CDU und SPD? Was würde ein Kanzler Scholz anders machen als eine Kanzlerin Merkel? Der Kampf um den CDU-Parteivorsitz ist aktuell wesentlich folgenreicher als der um die Frage, ob CDU oder SPD den Kanzler stellen - was ohnehin nur eine intellektuelle Fingerübung ist, wenn man sich die Umfragewerte der Sozialdemokratie so anschaut.

3) Comparing Biden's administration picks to Obama's is revealing

For the Bernie Sanders wing of the Democratic Party, the Joe Biden presidential transition is what losing looks like. It is also, for better or for worse, what incremental progress looks like. Whether it’s enough to match the scale of the overlapping crises or to stave off a midterm wipeout remains to be seen, but a comparison to the transition of President Barack Obama reveals the distance the party has traveled over the past 12 years. [...] That Biden is staffing his White House with fewer ghouls than his former boss is a function of both internal and external factors. The party broadly has shifted left, with ideas like Medicare for All and a Green New Deal gaining serious traction. Biden, who has consistently positioned himself in the center of the party, whichever direction the party went, has moved with it, as evidenced by the progressive drift of his presidential platforms from 1988 to 2008 to 2020. But it also involved a long-running research and advocacy campaign that sprang up as a reaction to the failure of the left to influence Obama’s transition on personnel. The Revolving Door Project, helmed by Jeff Hauser, a former AFL-CIO official, was built to influence a Hillary Clinton administration and has worked in collaboration with the group Demand Progress, which has similarly focused on the importance of personnel as policy. Clinton’s loss gave the outfits an extra four years to continue compiling research documents on dozens of potential Democratic appointees. Just on Tuesday, RDP was featured in both the New York Times and Politico. (Ryan Grim, The Intercept)

Biden war schon immer ein absoluter Zentrist, der sich geschmeidig mit seiner Partei bewegte. Im Kabinett Obama stand er leicht zur Rechten seines Bosses; nun, vier Jahre später, haben sich die Democrats so weit nach links bewegt dass er leicht zur Linken seines früheren Chefs steht. Das spiegelt sich auch in den Personalentscheidungen wieder. Ich denke aber auch, dass es eine gewisse Schwäche Bidens gegenüber seiner Partei zeigt, die nicht bereit ist, ihm, anders als Obama, praktisch freie Hand bei der Auswahl des Personals zu lassen. Das ist eine Lektion, die die GOP schon vor 40 Jahren gelernt hat. Biden könnte der erste in einer Reihe demokratischer Präsidenten sein, bei denen letztlich die Person nicht sonderlich wichtig ist, weil die Mächtegruppen innerhalb der Partei die Personalauswahl und darüber das Programm maßgeblich mitbestimmen. Das ist natürlich seine sehr frühe Einschätzung; aktuell ist alles noch sehr im Fluss und schwer zu sagen. Seht das daher als zu überprüfende These und weniger als belastbare Analyse.

4) Zigaretten sind Massenvernichtungs-Waffen

Die Meldung mit den 127.000 Toten ist nur eine Randnotiz, viele Onlinemedien ignorieren sie an diesem Nachmittag komplett. Diese Toten werden nicht täglich gezählt, Landkreis für Landkreis. Es gibt keine weltweiten Datenbanken, die alle Fälle erfassen, keine Sterbekurven. Kaum ein Politiker spricht von ihnen. Es sind die alltäglichen Toten. Die Tabak-Toten. [...] Eine Prohibition wäre wohl nicht mehrheitsfähig, vielleicht auch überzogen. Aber der Staat würde schon viele Leben retten, wenn er das Produkt Zigarette unattraktiver machen würde. Laut der »Tobacco Control Scale« wird die Zigarettenindustrie von keinem EU-Staat so lax reguliert wie hierzulande. Deutschland ist der Paria in der Tabakkontrolle. [...] Andere Länder sind uns weit voraus: Etwa Großbritannien, wo die Kippen fast das Doppelte kosten wie bei uns. Im Vereinigten Königreich bekommen Jugendliche die Tabakwaren im Supermarkt gar nicht erst zu sehen. Schließlich dürfen die Verkaufsstellen die Tabakwaren nicht so offen auslegen wie hierzulande. Sie müssen sie hinter abschließbaren Türen aufbewahren – und dürfen sie nur auf gezielte Nachfrage der Kundinnen und Kunden herausholen. [...] All das scheint Wirkung zu zeigen: In Australien, das als Erstes eine umfassende Anti-Tabak-Politik startete, wie auch in Großbritannien sind die Raucherquoten über die Jahre drastisch zurückgegangen. Millionen Jugendliche haben gar nicht erst angefangen. [...] Vielleicht an einer weiteren deutschen Besonderheit: Selbst nach dem Ende der Plakatwerbung im übernächsten Jahr soll Sponsoring erlaubt bleiben – etwa von Parteitagen. Die lassen sich CDU und SPD noch immer von der Zigarettenlobby mitfinanzieren. (Claus Hecking, SpiegelOnline)

Der zähe Kampf gegen Alkohol und Zigaretten wird bereits seit langer Zeit ausgefochten. Jeder kleine Sieg auf diesem Gebiet muss hart erkämpft werden, aber immerhin: Der Konsum beider Rauschmittel geht seit ebenso langer Zeit langsam, aber stetig zurück. Auch wenn es das Komasaufen von Jugendlichen noch gelegentlich als moralinsaurer Aufreger in die Schlagzeilen schafft, wenn es sonst nichts zu berichten gibt, so trinken Jugendliche heute doch insgesamt weniger als in früheren Generationen, rauchen weniger Jugendliche. Gleiches gilt logischerweise für die Gesellschaft als Ganzes. Sowohl das Nicht-Trinken als auch das Nicht-Rauchen sind gesellschaftlich wesentlich akzeptierter als sie das vor 20 Jahren noch waren. Das alles macht Hoffnung. Es wäre schön, wenn man weitere Schritte in diese Richtung gehen würde, denn letztlich sind und bleiben beide ungemein schädliche Rauschmittel.

5) Die eigentlichen Corona-Opfer kommen in den Medien viel zu kurz

Moderator Ingo Zamperoni fragt mit sorgenvollem Blick: „Womit müssen wir nun rechnen?“ Ich denke nach: Nein, ins Krankenhaus will ich nicht. Ich möchte auch niemanden anstecken, mache mir Sorgen um die Eltern und Freunde mit gefährlichen Vorerkrankungen. Die psychisch Kranken fallen mir ein: Wie viele werden jetzt noch schwermütiger oder abhängiger? Oder die Kinder, die häuslicher Gewalt ausgesetzt sind: Wie sollen sie das überstehen? Wir sollten mit dem Schlimmsten rechnen. Aber um all das geht es im folgenden ARD-Beitrag nicht. Ein Reporter fragt Passanten in einer Einkaufsstraße. „Wir befürchten leider das Schlimmste“, antwortet eine Frau. Sie meint die Verschärfung des Lockdowns. [...] Könnte es also sein, dass die Medien ein Problem mit der Corona-Berichterstattung haben? Könnte es sein, dass sie sich vor ihrem eigentlichen Berichtsgegenstand drücken? Sind wir alle zu bequem und tragen lieber das hirnbefreite Geschwätz von Querdenkern an die Öffentlichkeit als die O-Töne einer Corona-Patientin, die sich in der Rehaklinik vom zweimonatigen Koma erholt? Ist es uns wirklich wichtiger, zu erfahren, was verhinderte Restaurant-Gäste, Sportler, Nikoläuse denken, als der Mann, der auch noch sechs Monate nach einer eher milde verlaufenen Infektion mit SARS-CoV-2 unter Herzschwäche, Kurzatmigkeit und chronischer Müdigkeit leidet? Ist es wichtiger, wie sich eine Bahnreisende nach dreistündiger Zugfahrt mit Maske fühlt als ein ermatteter Pfleger auf der Corona-Intensivstation nach seiner Nachtschicht oder die Medizinerin, die plötzlich selbst am Virus erkrankt, nachdem sie einen Notfall retten musste und zu wenig auf Vorsichtsmaßnahmen geachtet hatte? Diese wahren Geschichten aus der echten Corona-Krise laufen an uns vorbei. Natürlich ist es mühsam, an sie heranzukommen. Aber das sollte kein Hinderungsgrund für guten Journalismus sein. Im Gegenteil. [...] Doch nicht nur die Geschichten und Erkenntnisse der Betroffenen kommen in den deutschen Medien zu kurz. Auch die Corona-Wissenschaft an sich. Themen wie die Erforschung der Krankheit oder die Prognosen zum Verlauf der Pandemie wurden längst in die Spezialsendungen und auf die Wissens-Seiten zurückgedrängt. Wissenschaftsjournalist*innen oder Epidemiolog*innen sitzen nur in Ausnahmefällen in Talkshows. [...] Kann es sein, dass wir – warum auch immer – viel zu wenig über die eigentliche und viel zu viel über die uneigentliche Krise berichten? Kann es sein, dass wir dadurch womöglich dazu beitragen, dass mehr Menschen sterben oder leiden, als nötig gewesen wäre? (Peter Spork, Übermedien)

Ich kann dieser Kritik nur unterschreiben. Ich habe bereits öfter beschrieben, dass in der Pandemie ein gesamtgesellschaftliches Versagen vorliegt (wobei, das sei noch einmal betont, die Hauptverantwortung bei der Politik liegt). Die Berichterstattung aber zählt da sicherlich mit hinein und unterstützt diese allgemeine Geisteshaltung des nicht komplett ernst Nehmens der Pandemie, das resignierte Erfüllen der Auflagen, ohne sie wirklich zu durchdringen oder abseits befürchteter Sanktionen auch weiter umzusetzen. Weite Teile der Bevölkerung betrachten etwa die Maskenpflicht ähnlich wie das Tempolimit. Man hält sich dran, wenn man beobachtet wird, aber man hat auch kein Problem, "wenn niemand gefährdet wird" dagegen zu verstoßen und da der Überzeugung zu sein, eigenständig entscheiden zu können, wann Verordnungen gelten und wann nicht. Der verschobene Fokus der Berichterstattung ist sicherlich ein Teil dieses Puzzles.

6) Politik der Zukunftsvergessenheit

Die deutsche Politik – hier ist nicht nur, aber vor allem die schwarz-rote Bundesregierung gemeint – hatte im Sommer genug Zeit, nachdem die erste Welle abgeflaut war, den allgemeinen Gebrauch der Ordinalzahlen ernst zu nehmen und sich Gedanken für die zweite (und dritte) Welle zu machen. Stattdessen, während die Kontaktverfolgung kollabierte, rechnete uns die Kanzlerin vor, wie exponentielles Wachstum geht – und wird dafür gefeiert: „Wow, die Frau ist Naturwissenschaftlerin! Das hat der Trump aber nicht zu bieten!“ Vor allem ist die Frau im Moment und schon seit einigen Jährchen aber unsere Regierungschefin. Und genau da fängt das Problem an. [...] Dabei möchte man doch meinen, ja, hoffen, dass auf den ganzen langen Gängen der zuständigen Bundesministerien wenigstens ein Büro als winzig kleines Frühwarnsystem fungiert – ein, zwei Menschen mit funktionierenden Instinkten, Neugierde und ohne Twitter-Account, die Zeitung lesen, wissenschaftliche Periodika, Fachaufsätze. Wahrscheinlich gibt es dieses gedruckte Wissen in den Bibliotheken der Ministerien, wird sorgfältig von erstklassigen Bibliothekaren erfasst und für den Abruf bereitgestellt. Doch der Abruf kommt nicht. Man ist in den Büros, Fluren und Etagen anscheinend mit der Kommunikation untereinander beschäftigt, mit dem politischen Gegner oder einem Fall möglicher Diskriminierung bei Markus Lanz. Und was nützen all die Kommissionen, Ausschüsse und Referate, wenn die Zukunft als etwas verstanden wird, das einen nichts angeht, weil es unbekannt, unberechen- und unvorhersehbar ist. Eine Politik, die keine Zukunftspolitik ist, taugt nichts. Desinteresse, Versäumnisse, Gleichgültigkeit schlagen als schlimme Folgen zurück. Man kann auf die Zukunft warten oder sich auf sie vorbereiten. Denn ist immer gewiss, dass sie kommt. Am Ende müssen wir auch im jetzigen Fall, in unserer Corona-Gegenwart, die Hoffnung teilen, die Matt Damon als zurückgelassener Astronaut Mark Watney auf dem Mars ungefähr so formulierte: „Letztlich können wir uns nur mit Wissenschaft aus der Scheiße ziehen.“ Doch auf die Dauer ist es auch notwendig und zudem kostengünstiger, neben dem Gemein- auch einen Zukunftssinn zu entwickeln. Er sollte unser politisches Bewusstsein prägen. (Bernd Rheinberg, Salonkolumnisten)

Ich kann Rheinbergs Kritik nur teilen. Merkels Kanzlerschaft steht für Vieles, aber mit Sicherheit nicht für Zukunftsgewandtheit und Aufbruch. Dabei gäbe es vom Klimawandel über die rapide sinkende Biodiversität zur Herausforderung des Arbeitsmarkts wegen technologischen Fortschritts sehr vieles, was angegangen werden müsste. Natürlich sollte man diesen toten Hund nicht alleine der Regierung vor die Füße legen, denn es ist ja nicht gerade so, als ob es an den Wahlurnen belohnt würde, wenn Politik für die Zukunft betrieben werden würde. Vermutlich kann das in der Politik kaum anders sein. Wenn wir ehrlich sind, ist es in der Wirtschaft ja meist auch nicht anders; die großen Unternehmen sind ja auch nicht sonderlich auch Entwicklungen in zehn oder zwanzig Jahren fokussiert, sondern verwalten vor allem den Status Quo, bis die Marktdisruption sie zum Handeln zwingt. Das Denken in sehr überschaubaren Zeiträumen ist sehr menschlich, aber es könnte uns noch um die Ohren fliegen.

7) Anticipating Senate bottlenecks, Biden races to fill agency jobs

The shift in focus to filling positions that do not require confirmation reflects the urgency with which the Biden team sees its staffing conundrum — especially in the realm of national security, where there’s little room for error. It also signals Biden’s anxiousness to replace Trump appointees and fill long-empty positions as soon as possible so he can enact his agenda. The strategy is an explicit effort to overcome a common hurdle of the early months of a new administration: The middle tier of political appointees often don’t take up their posts until well into the first year. “You get into this weird situation where a lot of times you’ll have the top people confirmed and in place basically right away and the non-confirmed people at a whole lower level,” said Richard Fontaine, chief executive officer of the Center for a New American Security. Those in between “can take literally months to get through the confirmation process.” [...] The Biden team is aiming to replace “every political appointee of Trump immediately,” with a particular emphasis on national security positions, said a former U.S. official involved in the transition. “They have people identified all the way down to the [deputy assistant secretary] level.” (Nahal Toosi, Tyler Pager/Andrew Desiderio, Politico)

Ich habe schon während des Vorwahlprozesses die Hoffnung geäußert, dass wer auch immer Präsidentschaftskandidat der Democrats wird, sich darüber im Klaren ist, dass es keine Kompromisse mit der GOP, keine überparteiliche Zusammenarbeit gegen wird. Die naive Hoffnung darauf war der größte Fehler der Obama-Ära. EinE demokratischer PräsidentIn "has to hit the floor running", wie man im Englischen so schön sagt. Ich bin daher sehr erfreut zu sehen, dass das Biden-Team Pläne in der Schublade hat, die Posten so schnell wie möglich zu füllen. Beachtlich ist, dass sie dabei ALLE politischen Beamten auswechseln wollen. Obama hat seinerzeit signifikante Teile der Bush-Beamtenschaft behalten.

Die Notwendigkeit eines solchen Komplettaustauschs erwächst sicherlich nicht nur aus der Erkenntnis, dass eine Zusammenarbeit mit der GOP ausgeschlossen ist, oder aus den bitteren Erfahrungen, die einige dieser überparteilichen Ernennungen mit sich brachten (man denke nur an James Comey). Im Falle Trumps ist es nun eben auch so, dass praktisch alle diese Leute erschreckend inkompetent und korrupt sind, eine aktive Gefährdung für Demokratie und Rechtsstaat oder beides zugleich. Hoffen wir, dass Bidens Team auch eine gute Liste von executive orders und ähnlichen Projekten bereit liegen hat.

8) Tausende abgelehnte Asylbescheide aufgehoben

Die Verwaltungsgerichte haben einem Medienbericht zufolge in den ersten neun Monaten des Jahres 5644 ablehnende Asylentscheidungen für afghanische Flüchtlinge aufgehoben. Afghanische Asylbewerber hatten wegen Entscheidungen des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) 9557 Mal die Gerichte angerufen - in 59,1 Prozent der Fälle mit Erfolg, wie die Zeitungen der Funke Mediengruppe berichteten. Das gehe aus der Antwort der Bundesregierung auf eine parlamentarische Anfrage der Linken im Bundestag hervor. Die Linken-Politikerin Ulla Jelpke sagte den Zeitungen, "wenn 59 Prozent der BAMF-Bescheide sich nach einer gerichtlichen Überprüfung als falsch erweisen, ist das ein inakzeptables Ergebnis". Hier müsse gründlich umgesteuert werden. Das BAMF solle fehlerhafte Bescheide von sich aus überprüfen und korrigieren, um die Verwaltungsgerichte zu entlasten, forderte Jelpke. (Tagesschau)

Das ist leider ein Muster, das wir auch in der Sozialgesetzgebung beobachten konnten. Die Zahl fälschlich ausgestellter Bescheide ist extrem hoch, so hoch, dass sie in fast keinem anderen Feld einfach achselzuckend akzeptiert werden würde. Aber sowohl Asylanträge als auch Hartz-IV-Anträge betreffen die Schwächsten der Gesellschaft, die keine Lobby haben und keine Aufmerksamkeit bekommen. Dass hier die Faust des Staates grob und oft verfehlend zuschlägt, stört keinen von denen, die sonst das Banner des Rechtsstaats schwingen. Als es schien, als ob das BAMF zu viele Asylberechtigungen ausgestellt hat, war das Geschrei groß. In die andere Richtung interessiert es keinen.

9) Corona: Traditionelle Aufgabenverteilung im Haushalt belastet Frauen stark

In der Corona-Krise lastet die Haus- und Familienarbeit zum überwiegenden Teil auf den Schultern der Frauen. So geben 69 Prozent der Frauen an, dass sie die generelle Hausarbeit erledigen, während das unter den Männern gerade einmal elf Prozent von sich behaupten. Ähnlich verhält es sich bei der Kinderbetreuung und beim Homeschooling: Während laut Auskunft der Frauen jeweils mehr als die Hälfte von ihnen die hier anfallenden Aufgaben übernimmt, sind es bei den Männern nur 13 und 15 Prozent. Demnach finden sich Männer und Frauen bei der Bewältigung der zusätzlichen häuslichen Aufgaben, die mit den Einschränkungen des öffentlichen und beruflichen Lebens einhergehen, häufig in traditionellen Rollen wieder. Auffällig ist, dass Frauen und Männer die Hausarbeit und die damit verbundene Arbeitsbelastung stark unterschiedlich wahrnehmen. Obwohl den Männern auffällt, dass viele der genannten Aufgaben bei den Frauen liegen, sind sie dennoch zu 66 Prozent der Ansicht, die Aufgaben der Kinderbetreuung und Hausarbeit seien gerecht aufgeteilt. Die Antworten der Frauen vermitteln hingegen ein anderes Bild: Noch nicht einmal jede zweite Befragte ist der Meinung, dass die Hausarbeit gerecht verteilt sei. 43 Prozent geben an, dass es ihnen schwerer als zu normalen Zeiten falle, Familie und Beruf zu vereinbaren. Fast die Hälfte der Frauen fühlt sich außerdem durch die Situation an ihre körperliche, psychische und emotionale Grenze gebracht. Unter den Männern räumen dies 30 Prozent ein. [...] Jede zweite Frau ist der Auffassung, dass Hausarbeit und Kinderbetreuung schon vor Ausbruch der Corona-Pandemie ungleichmäßig zwischen ihr und dem Partner aufgeteilt gewesen seien. Von den Männern äußern immerhin 39 Prozent dieselbe Meinung. Insofern hat die Corona-Krise weniger einen Rückfall in traditionelle Rollen verursacht, sondern scheint vielmehr ans Licht zu bringen, dass die traditionelle Rollenverteilung zwischen Männern und Frauen in Deutschland bisher so gut wie gar nicht aufgebrochen war. (Barbara von Würzen, Bertelsmann-Stiftung)

Wir können einmal mehr den Mythos ad acta legen, die Frauen wöllten das so. Es sind die Männer, die das so wollen. Das erkennt man eindeutig an den entsprechenden Umfragen. Die Zahl von 66%, die die ungleiche Aufteilung als gerecht betrachten, ist absolut erschreckend, vor allem wenn man es mit der Zahl der Frauen kontrastiert, die dieser Einschätzung zustimmen würden. In Corona-Zeiten wird diese Belastung nur noch größer. Auffällig finde ich im Artikel auch die merkwürdige Nutzung des Passivs, von wegen "Frauen finden sich wieder", als ob das eine Naturgewalt sei, die sie in eine Situation bringt, in der man sich dann wiederfindet, statt einer, die auf aktiven Entscheidungsprozessen innerhalb der Partnerschaft beruht.

10) Joe Biden should do everything at once

What we do know is that Republicans will wage full-on war on Biden from the second he takes office. They will generate fake conspiracies and controversies through right-wing media and social media. Conservative voters will be told again and again that Biden and Kamala Harris are uniquely dangerous traitors engaged in all sorts of elaborate evil plots. The entire conservative movement, from top to bottom, will view limiting Biden to one term as its primary strategic objective. And the movement will engage in misinformation, norm violation, procedural fuckery, and outright lawbreaking, if necessary, to achieve that objective. [...] The theme of these stories is that Democrats relied on clever sequencing over and over again, imagining some amount of political capital (“credibility”) that they could husband and spend strategically to get assistance across the aisle, at every juncture underestimating the ferocity and unanimity of Republican opposition. They kept behaving as though they would find good-faith negotiating partners, as though they were still in the postwar American era of relatively low (or at least manageable) polarization. [...] Here we return to the lesson that Trump has to teach Biden about life in hyperpolarized politics. To wit: blitz. Do everything at once. No matter what the Biden administration does, it will be accused of socialism and corruption by the right. [...] By constantly blundering forward, Trump has helped chart which US institutions and norms provide real resistance and which don’t. The courts have tangibly restrained Trump; they have been the primary bulwark against him. But the chattering of the media and the political classes? Moral outrage? Precedent and tradition? Civil protest? All of these have proven gossamer. Trump charged right through them like they were cotton candy. By constantly acting, being on the offensive, generating new stories and controversies, he simply overwhelmed the ability of the system to fasten on any one thing. Biden should learn the lesson. All that matters is what gets done, put on paper and into law. The rest is vapor. (David Roberts, vox.com) 

In einem Rückgriff auf Fundstück 7 möchte ich diesem Artikel von David Roberts, den ich seiner Gänze zur Lektüre dringend anempfehlen möchte - ich habe hier nur einen sehr kleinen Ausschnitt zitieren können - von ganzem Herzen zustimmen. Wenn die Präsidentschaften Obamas und Trumps im Vergleich eines gezeigt haben, dann, dass die Legenden von überlegter, pragmatischer Politik, dem Abwägen von Für und Wider, dem gewissenhaften Ausarbeiten von Initiativen, genau das sind - Legenden. Niemand kümmert sich darum. Trump stattdessen log im Schnitt mehrmals am Tag, produzierte Korruption in einem seit dem 19. Jahrhundert nicht mehr dagewesenen Ausmaß und wurde dafür wieder und wieder belohnt. Biden sollte es genauso halten und die Kanäle einfach mit Initiativen überfluten. Die GOP und die Medien (siehe Fundstück 11) werden ihn ohnehin kritisieren.

11) Tweet


Wo wir gerade bei den Medien sind, wir sehen schon, wie es los geht. Während unter Trump die krassesten Skandale als News des Tages betrachtet und innerhalb kürzester Zeit vergessen waren, wird im genau selben Tonfall nun über den kleinsten Mist bei den Democrats berichtet. Es gibt keinerlei Gewichtung, alles ist gleich aufregend, alles ist irgendwie ein Skandal. In dieser von Medien geschaffenen Umwelt ist völlig egal, was man tut. Biden kann daraus eigentlich nur den Schluss ziehen, dass es irrelevant ist, was er tut. Die Medien werden die Sozialismus-Vorwürfe ungefiltert senden, sie werden das Narrativ der außer Kontrolle geratenen linken Basis drücken und generell alles zu einem Skandal hochkochen. Warum also darauf irgendwie Rücksicht nehmen? Es ist ein Trauerspiel.

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