Donnerstag, 30. Mai 2024

Nukleartechnologie wird neue deutsche Staatsräson, weil der Matheunterricht die deutschen Gerichte in Sylt beschäftigt - Vermischtes 30.05.2024

 

Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Die "Fundstücke" werden mit einem Abschnitt des Textes, der paraphrasiert wurde, angeteasert. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels empfohlen; ich übernehme keine Garantie für die Richtigkeit oder Vollständigkeit der Zusammenfassungen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten. Dazu gibt es die "Resterampe", in der ich nur kurz auf etwas verweise, das ich zwar bemerkenswert fand, aber zu dem ich keinen größeren Kommentar abgeben kann oder will. Auch diese ist geordnet (mit Buchstaben), so dass man sie gegebenenfalls in den Kommentaren referieren kann. Alle Beiträge sind üblicherweise in der Reihenfolge aufgenommen, in der ich auf sie aufmerksam wurde.

Fundstücke

1) Nuclear Energy’s Bottom Line

In den USA nimmt die Atomenergie eine ambivalente Stellung ein: Sie symbolisiert sowohl die Hoffnung auf emissionsfreie Energie als auch die Angst vor katastrophalen Unfällen und radioaktivem Abfall. Neue Kernkraftwerke sind zudem extrem teuer, wie das Beispiel in Georgia zeigt, das mehr als zehn Jahre und 35 Milliarden Dollar kostete – weit über den ursprünglichen Planungen. Trotz dieser Herausforderungen ist die Atomkraft für die USA essenziell, um ihre Klimaziele zu erreichen. Die erneuerbaren Energien allein werden wahrscheinlich nicht ausreichen. Früher schien Atomkraft die Zukunft der Energieversorgung zu sein, aber Vorfälle wie der Unfall von Three Mile Island 1979 und der folgende Regulierungsschub machten neue Anlagen teurer und schwieriger umzusetzen. Ein weiterer Faktor für steigende Kosten war das Fehlen standardisierter Reaktordesigns. In den 60er und 70er Jahren versuchten Versorgungsunternehmen, immer größere und ambitioniertere Reaktoren zu bauen, was die Kosten in die Höhe trieb. Länder wie Frankreich und Südkorea, die sich auf einige wenige Reaktortypen konzentrierten, konnten ihre Kosten stabilisieren oder senken. Heute sind viele der Fachkräfte und das Wissen, das für den Bau von Atomkraftwerken notwendig ist, in den USA nicht mehr vorhanden. Das Wiederbeleben dieser Fähigkeiten ist eine Herausforderung, aber notwendig. Nuklearenergie benötigt deutlich weniger Land als Wind- und Solarenergie und kann überall gebaut werden, wodurch lange Übertragungsleitungen entfallen. Es gibt zwei Ansätze, um die Kosten für den Bau von Kernkraftwerken zu senken: Erstens, durch das kontinuierliche Bauen vieler Anlagen, um daraus zu lernen und effizienter zu werden. Zweitens, durch die Entwicklung kleinerer, massenproduzierbarer Reaktoren. Beide Wege sind noch nicht bewiesen, aber die Biden-Regierung unterstützt sie beide mit finanziellen Anreizen und Investitionen. Obwohl unklar ist, ob die USA wieder lernen werden, Atomkraft effizient zu nutzen, ist ein Versuch notwendig, um den Klimazielen näher zu kommen und die Energieversorgung zu sichern. (Rogé Karma, The Atlantic)

Der Artikel stellt eine sehr gute Übersicht zum Stand der Nukleartechnologie dar. Ich bin bei dem Thema gerade etwas im Fluss, meine aktuelle Denke möchte ich versuchen kurz zu skizzieren: ich halte die Technologie nach wie vor für einen Fehler, allerdings eher einen historischen. Erklärbar ist die Technik eigentlich nur aus dem Kalten Krieg. Das ungelöste Müllproblem und die katastrophalen Folgen von Pannen (die der Artikel echt arg nonchalant beiseitewischt) sind einfach zu real, und wenn man wie vorgeschlagen die Menge der Reaktoren hochskaliert UND die Sicherheit reduziert (Kosten!), dann steigt die Unfallwahrscheinlichkeit ja wesentlich über das bisherige Niveau, was auch ignoriert wird. Aber: die Befürwortenden haben insofern Recht, als dass wegen des historischen Fehlers aktuell keine echte Alternative für Produktion zu bestehen scheint, weswegen der deutsche Ausstieg unter diesen Bedingungen wohl ein Fehler war. Wenngleich einer, das sei betont, den alle Parteien getragen haben. Und auch das hilft nun wenig, weil ich nicht wirklich sehe, wie Deutschland wieder einsteigen sollte. Da macht es wohl mehr Sinn, den europäischen Strommarkt zu nutzen und die Erneuerbaren voranzutreiben, weil die ja perspektivisch alles tragen sollen. Da kann es nicht schaden, wenn wir (wieder) Weltmarktführer würden und unser Stromnetz up to date bringen, dann wäre deutsche Infrastruktur zur Abwechslung mal nicht 40 Jahre hinterher.

2) MINT-Studie: „Der Mathematik-Unterricht ist oftmals wenig kognitiv aktivierend“

Die MINT-Bildung in Deutschland, insbesondere in Mathematik, steht vor erheblichen Herausforderungen. Ein Bericht des MINT Nachwuchsbarometers zeigt, dass die mathematischen Leistungen der 15-Jährigen laut PISA zwischen 2012 und 2022 um 39 Punkte gefallen sind, was einem Rückstand von einem Schuljahr entspricht. Gründe hierfür sind unter anderem die Auswirkungen der Corona-Pandemie und langfristige Probleme im Bildungssystem. Zu den spezifischen Problemen zählen:

Abnehmende mathematische und naturwissenschaftliche Leistungen der Neuntklässler. Eine Vergrößerung der Risikogruppe bei gleichzeitiger Halbierung der Spitzengruppe. Mangelnde kognitive Aktivierung und fehlender Alltagsbezug im Mathematikunterricht.

Prof. Olaf Köller vom Leibniz-Institut für die Pädagogik der Naturwissenschaften und Mathematik betont die Notwendigkeit eines stärkeren Lebensweltbezugs und einer besseren Verknüpfung der Lerninhalte. Das Nachwuchsbarometer identifiziert fünf Qualitätsmerkmale für guten Mathematikunterricht: kognitive Aktivierung, Verstehensorientierung, Durchgängigkeit, Adaptivität und Kommunikationsförderung. Eine empfohlene Unterrichtsmethode ist das kollaborative problembasierte Lernen, das reale Probleme nutzt, um das Lernen zu fördern. Studien zeigen, dass diese Methode zu deutlich größeren Lernfortschritten führt. Ein großes Hindernis für die Verbesserung des Mathematikunterrichts ist der Mangel an qualifizierten Lehrkräften. Die Anzahl der Studierenden in MINT-Lehramtsstudiengängen stagniert oder sinkt, was einen Teufelskreis auslösen könnte. Eine mögliche Lösung ist die Einführung von Ein-Fach-Lehramtsstudiengängen für Mangelfächer wie Physik oder Informatik. (News4Teachers)

Matheunterricht ist DAS Sorgenkind des deutschen Bildungssystems. Die schlechteste Didaktik, die schlechteste Ausbildung, die schlechtesten Ergebnisse kommen hierher. Ein Problem ist, dass die Leute im System naturgemäß immer schlechte Kandidat*innen für das Lösen struktureller Probleme sind (Frösche und Sümpfe), aber Leute wie ich, die von der Seitenlinie meckern, viel zu wenig Fachwissen haben, um Substanzielles beitragen zu können. Ich bin etwa skeptisch beim Thema "Alltagsbezug". Das braucht es in meinen Augen nicht so dringend, vor allem nicht, wenn es um mehr als Alltagsrechnen geht (Mathematik kann man das ja nicht nennen). Der kognitive Anspruch scheint mir das viel größere Problem zu sein; effektiv rechnet man ständig irgendwas, aber extrem oft verstehen die meisten Schüler*innen gar nicht, was sie da eigentlich tun. Sie lernen effektiv nur Prozesse und Formeln auswendig, ohne das entsprechende Tiefenverständnis. Zumindest ist das mein Eindruck.

3) Die neue Übergriffigkeit der Gerichte

Deutsche Gerichte greifen zunehmend durch kreative Auslegung des Rechts in die Politik ein, was zu einem Spannungsfeld zwischen Rechtsprechung und politischer Entscheidungsfindung führt. Der Klima-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 24. März 2021, der den Klimaschutz in den Verfassungsrang erhob und die Regierung zu ambitionierten Reduktionszielen verpflichtete, ist ein prominentes Beispiel. Kritiker argumentieren, dass solche Eingriffe die Politikverdrossenheit fördern und die Entscheidungsspielräume der Bürger einschränken. Ein weiteres Beispiel ist der Beschluss des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg vom 16. Mai 2024, der die Regierung zur Verschärfung ihres Klimaschutzprogramms zwang. Diese Urteile könnten politischen Rückschlag und erstarkende populistische Kräfte zur Folge haben. Es wird betont, dass die Politik die Rechte verschiedener Bevölkerungsgruppen gegeneinander abwägen muss, da nicht alle Ziele gleichzeitig erreicht werden können. Diese Aufgabe darf den Gerichten nicht übertragen werden. Die Gerichte sollten daher zurückhaltend agieren, um ihre Macht nicht zu verlieren und den Rechtsstaat zu schützen. Aktivistische Gerichte könnten sonst politische Backlashs verursachen, wie sie in vielen Staaten bereits zu beobachten sind. (Alan Posener, Welt)

Ich habe das immer wieder betont: diese Verrechtlichung der Politik ist eine ungeheuer gefährliche Straße, die uns direkt in eine Verfassungskrise führt. Ein solches Eingreifen der Gerichte ist immer ganz toll, wenn es die eigenen Politik unterstützt (siehe bürgerliche Kommentierende und das Haushaltsurteil bzw. die Kritik der Progressiven), aber ganz schrecklich, wenn sie das nicht tut (siehe bürgerliche Kommentierende beim Klimaurteil bzw. dem Jubel der Progressiven). Politik muss von der Politik gemacht werden, und dieses permanente Abgeben von Verantwortung an die Gerichte, die EU oder die weite Welt führt zu einem Hände-in-die-Luft-werfen und Defätismus, der uns nicht gut tut - einmal abgesehen von den verfassungsmäßigen Komplikationen, die ich schon oft angesprochen habe.

4) Auf der falschen Fährte

Eine Modeinfluencerin musste sich auf TikTok verteidigen, weil sie fälschlicherweise als Teilnehmerin eines rassistischen Videos auf Sylt identifiziert wurde. In diesem Video rief eine Gruppe junger Leute Parolen wie „Ausländer raus“ und „Deutschland den Deutschen“. Obwohl die Influencerin nur denselben Vornamen und Haarfarbe wie eine der Frauen im Video teilt, wurde sie Ziel von Hasskommentaren und Drohungen. Dieser Vorfall zeigt die gefährlichen Folgen von Online-Doxing und den Druck, den soziale Medien auf Einzelpersonen ausüben können. Obwohl der Kampf gegen Rassismus wichtig ist, rechtfertigt dies nicht die Veröffentlichung personenbezogener Daten oder die eigenmächtige Verfolgung vermeintlicher Täter. Solche Aktionen schaden langfristig der Gesellschaft und untergraben den Rechtsstaat. Es ist entscheidend, dass die Politik klare Stellung bezieht und der Staatsschutz gegen solche Vergehen ermittelt. Gleichzeitig muss die Gesellschaft reflektieren, wie sie mit Alltagsrassismus umgeht, ohne in rechtlich fragwürdige Handlungen zu verfallen. Die wahre Herausforderung besteht darin, Rassismus durch legales und gesellschaftlich verantwortungsbewusstes Handeln zu bekämpfen. (Angela Gruber, Spiegel)

Ich finde es faszinierend, wie dieses nicht einmal 15 Sekunden lange Videoschnippsel gerade die Republik in Atem hält. Der Spiegel hat eine gute Gesamtübersicht zum Thema (siehe auch Feel the News), die auch die Frage anspricht, warum ausgerechnet dieser rassistische Zwischenfall so auffällig ist (ich denke, Neid nach oben spielt tatsächlich eine gute Rolle; die Täter*innen sind so wunderbar leicht zu verabscheuen und abgrenzbar). Aber insgesamt halte ich es für einen schlechten Absprungpunkt zur Beschäftigung mit dem Thema. Es ist einer jener Tage im Kalender, die anzustreichen sind, weil ich grundsätzlich Ulf Poschart zustimme, der den "Pranger-Exzess" beklagt. Tatsächlich bin ich wesentlich geneigter als viele eher dem progressiven Spektrum zuneigende Kommentierende, das Ganze unter "Alkohol" und "junge Leute machen Mist" zu verbuchen. Die Rufe nach Doxxing, nach Exmatrikulation, nach Jobverlust sind genau jene Lust zum Strafen, die ich immer beklage, und die hier voll zum Tragen kommt.

Nebenbemerkung: Friedrich Merz ist beim Thema erfreulich stabil.

5) Jetzt droht das Ende des Völkerrechts

Rechtsprofessor Matthias Herdegen kritisiert in seinem Gastbeitrag die zunehmende Instrumentalisierung völkerrechtlicher Verfahren durch korrupte Diktaturen gegen die westliche Ordnung. Diese Entwicklungen gefährden laut Herdegen die Glaubwürdigkeit und Autorität der internationalen Gerichtsbarkeit. Er thematisiert insbesondere den Haftbefehl gegen den israelischen Premierminister und Verteidigungsminister durch den Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH), Karim Khan. Herdegen warnt, dass die Gleichsetzung der demokratischen israelischen Führung mit der Hamas-Führung die Glaubwürdigkeit des IStGH untergraben und als Propaganda-Erfolg für die Hamas gewertet werden könnte. Herdegen betont, dass internationale Gerichte nur dann eingreifen sollten, wenn die nationale Justiz versagt, was bei Israel nicht der Fall sei. Er warnt vor den politischen Konsequenzen solcher Verfahren und verweist auf die Anfälligkeit Deutschlands und anderer westlicher Staaten für Einschüchterung und moralische Anklagen. Die zunehmende Nutzung internationaler Gerichtsbarkeit durch autoritäre Regime zur Schwächung der westlichen Ordnung stellt eine ernsthafte Bedrohung dar. Die internationale Gerichtsbarkeit befindet sich an einem kritischen Punkt, an dem sie ihre Unabhängigkeit und Autorität bewahren muss, um nicht zu einem politischen Instrument zu werden. Herdegen appelliert an die internationalen Gerichte, vorsichtig und besonnen zu agieren, um die regelgebundene Weltordnung zu schützen und ihre eigene Legitimität nicht zu gefährden. (Matthias Herdegen, Welt)

Wo wir gerade bei Tagen sind, an denen ich Ulf Poschardt zustimme: der schreibt "Auf diese Bundesregierung kann sich Israel nicht mehr verlassen", und natürlich nicht. Israel verlässt sich auch nicht auf die Bundesregierung. Das ist eine kategorische Aussage, denn hier geht Poschardt ein bisschen die aktivistische Ampelfeindschaft durch; auf die vorherigen Regierungen konnte Israel sich auch nicht verlassen (im Übrigen nicht mal auf die schon fast direkt verbündeten USA). Die Idee Merkels, dass Israels Sicherheit "deutsche Staatsräson" sei, war schon immer eine Schimäre. Da war nichts dahinter, und Israel ist das auch völlig klar. Daran hat sich nichts geändert und wird sich auch nichts ändern, übrigens auch wegen Israel selbst. Wenn Deutschland kollektiv einen Schlag auf den Kopf bekäme und Bundeswehrsoldat*innen nach Gaza schicken wöllte - würde Israel die etwa akzeptieren? Das ist eine Sackgasse erster Güte.

Resterampe

a) Die Republicans in Texas versuchen mal wieder, one man one vote zu untergraben.

b) Verhältnisse.

c) Ich sag immer, da kommt noch ein richtig böses Erwachen für viele.

d) Lesenswertes Interview mit dem Rechtshistoriker Thiessen zur verfassungsrechtlichen Komponent der Wiedervereinigung.

e) Detaillierte Analyse von Samuel Alito.

f) BSW: Sahra-Wagenknecht-Partei in Thüringen will Bürgerveto gegen Gesetze. Natürlich. Nur falls jemand glaubt, die könnte was Konstruktives; "Veto".

g) Will Netanyahu ever stop the settler violence?

h) Study suggests Republican panic caused recent inflation.

i) Biden’s position on the Gaza war has always been clear.

j) Republicans today care only about illegal immigration. Echt krass.

k) Zionism is dead.

l) Entwicklungshilfe liegt im ureigensten Interesse Deutschlands.

m) Biden’s good news problem.

n) But there were warnings!

o) The economy is still running hot, hot, hot.

p) Bundestagswahl 2025: Robert Habeck hält Schwarz-Grün für möglich. Ach was. Was soll er auch sonst sagen?

q) Twitter’s community notes work pretty well. Good news!

r) New study says internet access improves everything for (almost) everybody.

s) The British Prime Minister Bowed to the Inevitable.

t) Die rechtliche Situation, wenn Beamt*innen Anweisungen bekommen, die rechtswidrig sind.

u) Was andere Rechtsparteien Europas Deutschland voraus haben.

v) Kristina Schröders Perspektive auf die Wehrpflicht. Ich teile ihre Argumentation nicht, aber sie ist in sich schlüssig.

w) Cum-ex: Bundeskanzler Olaf Scholz soll erneut vor Ausschuss in Hamburg aussagen. Einfach lächerlich wie der damit durchkommt.

x) We are living in the worst decade ever. Echt lächerlich.


Fertiggestellt am 30.05.2024

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