Mittwoch, 8. Mai 2024

Droht eine AfD-Machtergreifung? Von Potenzial und Grenzen des historischen Vergleichs

 

Vergleiche mit dem Nationalsozialismus sind bekanntlich nicht eben dazu angetan, eine sachliche Diskussion zu ermöglichen. Einerseits ist die Nazi-Diktatur so extrem, so tödlich, so vernichtend, dass es so gut wie nichts gibt, das sich auf demselben Level bewegt (eigentlich eine gute Nachricht), andererseits sind sie gleichzeitig so ubiquitär, dass sie beinahe bedeutungslos sind. In der Debatte um die AfD kommt nicht zuletzt dank Strafverfahren gegen Björn Höcke, Aussagen von AfD-Funktionären und nicht endenden Warnungen immer wieder die Frage auf, inwieweit die Partei denn eine "Nazi-Partei" sei. Diese Frage lässt sich leicht beantworten: das Wort als solches ist nutzlos. Wer nach Vergleichsmarkern sucht, die in der politischen Kultur der 1920er und 1930er Jahre liegen - uniformierte parteipolitische Schlägertrupps etwa, Vernichtungsrhetorik etc. - wird diese nicht finden. Genauso sinnlos sind Verweise darauf, dass die AfD keine 51%-Mehrheit finden wird. Solcherlei Argumentationen beruhen häufig auf einer krassen Unkenntnis darüber, wie die Nationalsozialisten überhaupt an die Macht kamen.

Die NSDAP wurde 1920 gegründet und war eine von vielen völlig irrelevanten Splitterparteien. Ihr Name und ihre ideologische Festlegung stammen aus dieser Zeit; es handelte sich, wie ich meinen Schüler*innen auch immer erkläre, letztlich um ein "Best of" von allem, was 1920 gerade politisch angesagt war: National (check, hoch im Kurs), sozialistisch (check, hoch im Kurs), deutsch (immer gut, check) und Arbeiterpartei (bei den Wahlen 1919 hatten SPD und USPD die absolute Mehrheit zwar verfehlt, aber Arbeiterparteien waren hoch im Kurs, check). Dahinter steckte ansonsten nicht viel. Als Hitler die Partei übernahm, gab er sehr wenig auf programmatische Arbeit; das "ewige" Parteiprogramm von 1924 ist kaum mehr als eine glorifizierte Zehn-Punkte-Liste, die keinen Einfluss auf das spätere Regierungsarbeiten hatte. Die NSDAP war anders als die KPD keine programmatische Partei. Darin liegt auch eine der Wurzeln, dass es nach 1945 keine Nazis mehr zu geben schien: es war ein Amalgman sich teilweise ausschließender Ideen, die von Hitler interpretiert und befördert wurden. Ohne Hitler keine NSDAP. Der Führer war das einigende Element des ganzen Ladens, und mit seinem Selbstmord am 30.4.1945 war der Laden effektiv erledigt.

Die Teilnahme am Putsch 1923 sorgte für ein Parteiverbot, das die NSDAP bis 1925 völlig irrelevant machte. Hitler hatte nach seiner Entlassung ein politisches Betätigungsverbot. "Mein Kampf" lag wie Blei in den Regalen und interessierte so wenig Menschen, dass das zweite Buch nie veröffentlicht wurde (auch nach 1933 nicht, da war es ihm wegen der Offenheit zu heiß). Hätten die Rechtsradikalen der DNVP nicht darauf bestanden, die NSDAP wieder zuzulassen, gut möglich, dass es dabei geblieben wäre. Noch bei den Wahlen 1928 spielte die NSDAP kaum eine Rolle. Das änderte sich erst massiv mit der Weltwirtschaftskrise; 1930 explodierte der Stimmenanteil der Partei auf rund 18%. Kein anderes Ereignis war so entscheidend für den Aufstieg der NSDAP: it's the austerity, stupid.

Das allerdings war nur eine notwendige, keine hinreichende Bedingung. Unter der katastrophalen, autoritären Politik Brünings und seiner Demontage der Demokratie wuchs der Stimmenanteil der Partei weiter; sie wurde im Juli 1932 stärkste Kraft. Diese Wahl wurde unter gewaltigem Ressourcenaufwand geführt und erschöpfte die Finanzen der Partei weitgehend; anders als viele linke Legenden bis heute Glauben machen wollen, genoss Hitler wenig Unterstützung bei der Wirtschaft. Den deutschen Kapitalisten war der Teil der Partei, der das "sozialistisch" im Namen etwas ernster nahm als Hitler, trotz dessen ständiger Beteuerungen zu unheimlich. Bei den Wahlen im November 1932 blieb sie zwar stärkste Kraft, verlor aber bereits über 4%. Ihr Stern war sichtbar im Sinken, und im Hauptquartier der Partei breitete sich Panik aus: Hitlers Strategie des "Alles oder Nichts" (Kanzlerschaft, keine Koalition) schien in eine Sackgasse geraten zu sein. Seine Kontrolle über die Partei war jedoch absolut. Die Vorstellung von Schleichers, er könne mit Hilfe Gregor Strassers eine Spaltung vorantreiben, war illusionär; ein einziges Hintergrundgespräch reichte, um Strasser vollständig zu unterwerfen (nicht, dass ihm das geholfen hätte; in der "Nacht der Langen Messer" wurde er wie von Schleicher ermordet).

Es ist an dieser Stelle, an der die Missverständnisse prävalent sind. Die NSDAP erreichte nie eine Mehrheit der Stimmen; die 37% im Juli 1932 waren der Höhepunkt, und der war bereits im November absehbar überschritten. Weitere Wahlen hätten ziemlich sicher zu einem weiteren Abstieg geführt. Denn auch die Weltwirtschaftskrise hatte ihre Talsohle überschritten. Brünings Politik brachte verspätet den lang ersehnten außenpolitischen Erfolg der Abschaffung der Reparationen. Das Scheitern der Genfer Abrüstungskonferenz ebnete den Weg für die von den Rechten ersehnte deutsche Aufrüstung. Die Zeichen standen schlecht für Hitler. Wie also kam er an die Macht?

Dies war nur durch die Intrigenspiele im Hintergrund eines völlig dysfunktionalen politischen Systems mit wenigen Akteuren möglich, eine Dysfunktionalität, die seit den Wahlen 1932 durch die theoretische Mehrheit von NSDAP und KPD, zwei der Zerstörung der Demokratie verschriebenen Parteien, quasi offiziell war. Die Präsidialkabinette seit 1930 hatten dafür gesorgt, dass die Kamarilla um den senilen Reichspräsidenten Hindenburg übermäßigen Einfluss besaß. Die Zerstörung von Rechtsstaat und Demokratie durch Brüning und von Papen hatte den politischen Möglichkeitsspielraum deutlich ausgeweitet. Hitler kam nicht als Resultat einer demokratischen Wahl an die Macht, sondern durch Ernennung Hindenburgs. Dass er der erste (und einzige) Präsidialkanzler mit einer eigenen Mehrheit war (dank Koalition mit der DNVP), ändert daran nichts.

Die zentralen Bausteine für die Errichtung der Diktatur waren dann allerdings die Reichstagsbrandverordnung vom Februar 1933 (ein Geschenk des Himmels für die Nationalsozialisten) und das Ermächtigungsgesetz vom März 1933. Letzteres hob de facto die Verfassung auf und verwandelte Deutschland in eine Diktatur, wenngleich (noch) nicht in die absolute, wie wir sie kennen; Hitler blieb (in einer Parallele zu Mussolini) bis 1934 noch immer von anderen Faktoren abhängig; es waren erst der Tod Hindenburgs und der sogenannte "Gleichschaltungsprozess", die ihm über den Verlauf von etwa anderthalb Jahren jene Macht anhäuften, die er dann unumstritten bis 1945 innehatte. Aber das Ermächtigungsgesetz zeigt uns eine wichtige Sache auf: die echte Diktatur erlangte er - ebenfalls wie Mussolini - nur durch die aktive Zusammenarbeit der Konservativen. Sie gaben ihm die Zwei-Drittel-Mehrheit, die er benötigte, um danach nie wieder Mehrheiten zu benötigen.

Was also können wir aus der Geschichte lernen?

- Der Aufstieg der NSDAP erforderte außergewöhnliche exogene Faktoren. Die Weltwirtschaftskrise, die Zerrüttung der Weimarer Demokratie und Austeritätspolitik Brünings und von Papens sind darunter sicher die wichtigsten.

- Hitler erlangte die Macht nicht durch demokratische Wahlen, sondern durch eine Hinterzimmerintrige. Dies war nur möglich, weil die Demokratie seit 1930 bereits de facto abgeschafft war.

- Die demokratischen Parteien waren gegenüber den Extremisten von NSDAP, DNVP und KPD in der Minderheit, die eine destruktive Mehrheit besaßen.

- Die Grundbedingungen für die Diktatur wurden in Zusammenarbeit mit den Konservativen gelegt. Ohne deren Zustimmung geht es nicht, jedenfalls nicht ohne einen Bürgerkrieg (zu dem Hitler zweifelsohne bereit war).

Keine dieser Bedingungen ist in der Bundesrepublik des Jahres 2024 gegeben. Wir haben keine tiefgreifende Wirtschaftskrise. Die Krisen, die wir haben, wurden von den vergangenen Regierungen weitgehend kompetent und unter minimalen Auswirkungen für die Bevölkerung beigelegt (man denke an Kurzarbeitsgeld, Einlagengarantie, Coronahilfen, Tankrabatt, Gaspreisbremse). Die Lektion der Austeritätspolitik wurde glücklicherweise gelernt. Die Demokratie auf Bundesebene ist zudem auch stark und lebendig, die demokratischen Normen halten. Die Vorstellung, ein Bundespräsident würde einfach irgendwelche Kanzlerkandidaten vorschlagen, die nicht durch Wahlen legitimiert sind (was er theoretisch könnte), ist völlig absurd. Auch wäre anzunehmen, dass das Bundesverfassungsgericht genügend Legitimität besitzt, dass Putschversuche wie das Ermächtigungsgesetz nicht einfach durchgehen würden. In unserem Diskurs ist die mangelnde Begründung einer Schuldenbremsenausnahme ja bereits ein Riesenskandal; die Vorstellung, dass da mal eben das Parlament komplett ausgeschaltet werden würde, ist irreal. Zudem fehlt eine extremistische linke Partei, die zusammen mit der AfD eine antidemokratische Mehrheit bilden würde.

In dieser Hinsicht tragen die Nazivergleiche daher wenig. Auch ein theoretischer Ministerpräsident Höcke könnte in Thüringen nicht die Diktatur errichten. Ein Bundeskanzler Höcke könnte nicht einfach alles beiseite wischen. Die deutsche Demokratie steht auf wesentlich stärkeren Füßen. Es existiert keine AfD-SA, die dem staatlichen Gewaltmonopol Konkurrenz machen würde. Polizei, Militär und Innenministerien sind es durch jahrzehntelange betriebliche Übung gewöhnt, demokratisch verfasst zu sein und sich demokratischer Kontrolle und demokratischen Normen zu unterwerfen. Und so weiter. Daher: nein, es steht aller Wahrscheinlichkeit nach keine Machtergreifung 2.0 ins Haus. Höcke ist nicht Hitler. Die AfD ist nicht die NSDAP.

Aber.

Was die Kritiker*innen dieses Arguments gerne übersehen ist, dass Hitler 1932 im übertragenen Sinne auch nicht ins Haus stand. Die wenigsten Leute, die in den Reichstagswahlen ihr Kreuz bei den Nazis machten, dürften sich Reichstagsbrandverordnung und Ermächtigungsgesetz ausgemalt haben, noch viel weniger Dachau oder gar Auschwitz, Stalingrad und Totalen Krieg. Anders ausgedrückt: dass es so kommen würde, wie es kam, war für Wählende 1932 nicht absehbar. Es war ja nicht einmal 1933 oder 1934 absehbar. Denn das ist der andere große Fehler, der bei diesen Vergleichen gerne gemacht wird: mit dem Wissen darum, wie es gelaufen ist, zu urteilen. Als hätten die Zeitgenoss*innen das wissen müssen und als hätte es nicht anders laufen können. Nur: das hilft genauso wenig.

Ich habe bereits eingangs beschrieben, dass die Ideologie der NSDAP ein unglaublich inkohärenter Mix war. Das ist ja auch an den zeitgenössischen Beobachtenden nicht vorbeigegangen. Dass Hitler seine Reden je nach Publikum massiv änderte und die propagandistische Botschaft der Partei sehr zielgruppenspezifisch war, war weithin bekannt. So hielt Hitler seine "alles vernichten"-Reden vor eingefleichten Nazis. Vor "normalem" Publikum sprach er völlig anders, und die Elite wusste er beredt über seine Absichten zu belügen und sich von seiner Partei zu distanzieren. Zudem konnte er auf ein Heer von "Hitler-Erklärern" zurückgreifen, die alles relativierten und jederzeit betonten, wie missverstanden der Führer bei dieser oder jener Aussage sei, die eher als rhetorisches Stilmittel zu begreifen sei (gerne mit einem bedauernden Verweis auf Hitlers niedrige Herkunft), wie sehr er sich von der pöbelnden Parteibasis unterscheide und so weiter. Aus dieser Fehleinschätzung heraus ist ja auch die erleichterte Reaktion auf den Putsch 1934 zu begreifen, als einige hundert Leute ermordet wurden und das in bürgerlichen Kreisen als Wiederherstellung der Ordnung gefeiert wurde!

Hitler war lange Schrödingers Diktator: ein weiterer "Trommler" und Großschwätzer, wie so viele andere vor ihm; ein grundsätzlich pragmatischer Illiberaler, der die Probleme des Landes hemdsärmlig angehen würde; ein Freund des "kleinen Mannes", der die Herrschaft "der Eliten" beenden würde; ein Autokrat in Mussolinis Fußstapfen, der verlässlich Gewerkschaften bekämpfen und Austeritätspolitik durchsetzen würde; ein Revolutionär, der Deutschland grundsätzlich umgestalten würde; ein gefährlicher Irrer, der es in den Abgrund stürzen würde. Hitler verkörperte den kompletten Möglichkeitsrahmen und erlaubte einer großen Anzahl Menschen, ihr Wunschbild auf ihn zu projizieren. Der Hitler, der nach 1934 auf der Bühne stand, hätte niemals die Prozentzahlen erreicht, die Schrödingers Hitler 1932 und 1933 erreichen konnte. Wie wäre Hitlers Kanzlerschaft verlaufen, hätte der Reichstag nicht gebrannt, hätte das Zentrum ihm die Stimmen nicht gegeben, wäre Hindenburg nicht 1934 gestorben? Wer kann das schon sagen?

Aber wir können erst wissen, was die Leute mit der Macht anfangen, wenn sie sie in Händen halten. Das ist eine banale Erkenntnis, aber sie muss nichtsdestotrotz ausgesprochen werden. Die Umstände formen zudem mindestens genauso viel. Hat irgendjemand in der Ampel 2021 damit gerechnet, dutzende Milliarden in Aufrüstung, Gas- und Benzinpreise investieren zu müssen? Wer weiß, welche Krisen in Zukunft aus uns warten? Krisen eröffnen den Handlungsspielraum; man muss nicht weiter als zum Reichstagsbrand zu blicken. Die Krisen müssen auch gar nicht echt sein, um als Gelegenheit genutzt zu werden. Deswegen hilft es letztlich nichts, festzustellen, dass die AfD aktuell nicht der NSDAP entspricht. Die NSDAP entsprach 1932 auch nicht der NSDAP. Wenn sie das tut, ist es zu spät.

Zudem ist die Nazidiktatur ohnehin der falsche Referenzrahmen. Sie ist tatsächlich so extrem, dass sie ein Phänomen sui generis darstellt; Höcke vorzuwerfen, er wolle die Gestapo-Folterkeller und Dachau wiederzuerrichten oder gar den Vernichtungskomplex von Auschwitz (der Resultat einer jahrelangen Radikalisierungsspirale und eines totalen Vernichtungskriegs war und ohne die spezifischen Umstände des Krieges gar nicht vorstellbar war) ist so offenkundig dämliche Polemik, dass sie dem Kampf gegen ihn einen Bärendienst erweist. Der Referenzahmen sind die illiberalen Demokratien, wie sie Orban in Ungarn aufgebaut hat; möglicherweise autokratische Herrschaften wie die Putins (wobei mir selbst das zu weit gehen würde).

Die Gefahr, die durch die AfD ausgeht, besteht in der Normalisierung von Gewalt gegen politische Gegner; die Anfänge davon sehen wir bereits. Sie besteht in der Besetzung von Verwaltung und Gerichten durch loyale Gefolgsleute und der Repression seiner Gegner. In der Kontrolle der Medien, in der Manipulation freier Wahlen. In der Unterdrückung von Minderheiten, dem Zurückfahren von Frauenrechten, in stumpfer Wissenschaftsfeindlichkeit und der Propagandisierung der Bildungspläne. All das sehen wir in Ungarn und in Polen. Wir wissen, wie das aussieht. And it ain't pretty.

Und es bleibt die wichtigste Lektion: Die AfD kann die Macht nur erlangen, wenn die Konservativen sie ihr geben. Es gibt aktuell kein Szenario, in dem die AfD in Regierungsnähe kommt, in dem sie nicht mit der CDU koaliert oder von ihr toleriert wird. Solange die Brandmauer steht, gibt es keinen Grund zur Beunruhigung. Genau hier liegt die größte Gefahr und die größte Chance. Denn in Thüringen ist die Brandmauer weitgehend zerstört; sowohl FDP (Kemmerich!) als auch CDU sind unsichere Kantonisten. Aber in den meisten Bundesländern und auf Bundesebene steht die CDU treu zu Demokratie, Verfassung, Pluralismus und Rechtsstaat. Friedrich Merz ist nicht Prälat Kaas. Das ist und bleibt letztlich der entscheidende Faktor. Solange die Demokrat*innen zusammenstehen, haben die Extremist*innen keine Chance.

PS: Ja, ich weiß, dass die Gesetze eigentlich "Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Reich" und "Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich" hießen, aber erstens ist das umständlich und zweitens muss ich nicht die Propagandasprache übernehmen. Daher "Reichstagsbrandverordnung" und "Ermächtigungsgesetz".

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