Mittwoch, 19. Juni 2024

Höhere Parktickets sorgen bei französischen Konservativen für selbstkritisches Hinterfragen vom Bau von Chipfabriken mittels Wehrpflichtiger - Vermischtes 19.06.2024

 

Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Die "Fundstücke" werden mit einem Abschnitt des Textes, der paraphrasiert wurde, angeteasert. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels empfohlen; ich übernehme keine Garantie für die Richtigkeit oder Vollständigkeit der Zusammenfassungen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten. Dazu gibt es die "Resterampe", in der ich nur kurz auf etwas verweise, das ich zwar bemerkenswert fand, aber zu dem ich keinen größeren Kommentar abgeben kann oder will. Auch diese ist geordnet (mit Buchstaben), so dass man sie gegebenenfalls in den Kommentaren referieren kann. Alle Beiträge sind üblicherweise in der Reihenfolge aufgenommen, in der ich auf sie aufmerksam wurde.

Fundstücke

1) Frisches Geld für Berliner Nahverkehr

Berlins öffentlicher Nahverkehr (ÖPNV) befindet sich trotz Dauerkritik national und international auf einem hervorragenden Niveau. Ein dichtes Netz aus S- und U-Bahnen, Trams und Bussen mit engen Takten, auch am Wochenende rund um die Uhr, bildet die Grundlage der Verkehrswende. Doch die Krise des Berliner Landeshaushalts stellt plötzlich die Frage, wie lange dieser Standard aufrechterhalten werden kann. Der Parlamentarische Geschäftsführer der SPD-Fraktion, Torsten Schneider, deutete kürzlich an, dass auch die Mittel für die Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) und S-Bahn zur Debatte stehen. Sollte der schwarz-rote Senat tatsächlich beim ÖPNV kürzen, wäre dies ein fataler Schritt. Bus und Bahn sind das Rückgrat des städtischen Verkehrs, und ohne ausreichende Mittel wird die Verkehrswende scheitern. Die bisherigen Einnahmen aus dem Ticketverkauf reichen nicht aus, um den ÖPNV zu finanzieren, insbesondere seit der Einführung des Deutschlandtickets. Verkehrsexperten fordern daher seit Jahren eine dritte Finanzierungssäule, um privates Geld in den Nahverkehr zu lenken. Dies könnte durch Parkgebühren, eine City-Maut, einen Touristenbeitrag, eine Arbeitgeberabgabe oder ein Pflichtticket geschehen. Frühere Pläne, höhere Parkgebühren und ein verpflichtendes Touristenticket einzuführen, wurden nie umgesetzt. Verkehrssenatorin Ute Bonde (CDU) hat jedoch einer City-Maut und einer Nahverkehrsabgabe von Unternehmen eine Absage erteilt. Bleiben also höhere Parkgebühren als einzige realistische Option. Höhere Parkgebühren könnten zwei Probleme gleichzeitig lösen: die Reduzierung des Autoverkehrs im Zentrum und die Sicherung der Mittel für den ÖPNV. Dies ginge jedoch auf Kosten der Autofahrer. Der Senat muss sich nun ehrlich machen und entscheiden, ob der Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs wirklich Priorität hat oder ob am Ende die Interessen der Autofahrer überwiegen. (Christian Latz, Tagesspiegel)

In der Berliner Verkehrspolitik spiegelt sich im Kleinen das ganze Dilemma der deutschen Verkehrswende. Auf der einen Seite sind sich grundsätzlich alle einig, dass es da Änderung braucht. Auf der anderen Seite darf aber auf keinen Fall der Primat des Automobils angetastet werden. Das allein ist schon unvereinbar. Dann sind sich alle klar, dass die Verkehrswende nur mit mehr ÖPVN kommen kann, der darf aber keinesfalls auch nur einen Cent zusätzlich kosten. Auch das ist grundsätzlich unvereinbar. Die Lösung kann im Rahmen der deutschen Politik, die öffentliche Investitionen ausschließt, eigentlich nur in marktwirtschaftlichen Preismechanismen bestehen. Dazu aber braucht es seitens der Politik den Mut, die Preise auch entsprechend realistischer zu gestalten. Es gibt kein Menschenrecht auf billige Parkplätze im Stadtzentrum.

2) Der Verräter

Éric Ciotti, der Vorsitzende der konservativen Partei Les Républicains in Frankreich, ist eine polarisierende Figur in der französischen Politik. Jeden Sommer hält er seine Jahresversammlung in Levens, einem Dorf in Südfrankreich, wo er sich wie ein Rockstar inszeniert. Tausende Parteifans versammeln sich dort, um seine Reden zu hören, die oft rechtsextreme Positionen und Thesen beinhalten. In einem umstrittenen Schritt hat Ciotti kürzlich einen offiziellen Pakt mit der rechtsextremen Partei Rassemblement National von Marine Le Pen für die Neuwahlen am 30. Juni vorgeschlagen. Diese Entscheidung traf er ohne Rücksprache mit anderen Parteiführern oder Ortsverbänden, was zu heftigen Reaktionen innerhalb seiner Partei führte. Einige forderten seinen Rücktritt, während andere, wie der Vorsitzende der Jugendorganisation, den Schritt begrüßten und die Kooperation mit der Le-Pen-Partei ankündigten. Ciotti, der sein ganzes Berufsleben in der Schwesterpartei der CDU verbracht hat, ist bekannt für seine reaktionären Überzeugungen und Reden. Seine jüngsten Vorschläge und Äußerungen, wie die Einrichtung eines französischen Guantanamo für Terroristen oder die Einführung der "nationalen Präferenz", stießen auf breite Kritik. Sein Vorschlag, eine Allianz mit Le Pen zu bilden, könnte entscheidend sein, um Marine Le Pens Ziehsohn Jordan Bardella zum Premierminister zu machen. Dies könnte eine bedeutende politische Verschiebung in Frankreich bedeuten, da die rechtsextreme Partei dadurch eine starke Position im Parlament erlangen könnte. Ciotti, der aus einer konservativen und zunehmend rechtsextremen Ecke Frankreichs stammt, hat viele Gegner, darunter seinen ehemaligen Mentor Christian Estrosi, den Bürgermeister von Nice. Die beiden bekämpfen sich öffentlich in den lokalen Medien. In der aktuellen Krise wird Ciotti vom obersten Parteigremium der Republikaner nicht einmal mehr zu Treffen eingeladen, was seine Position innerhalb der Partei weiter schwächt. Diese Entwicklungen werfen die Frage auf, wie die politische Landschaft in Frankreich sich weiterentwickeln wird und welche Auswirkungen eine mögliche Allianz zwischen den Republikanern und dem Rassemblement National auf die französische und europäische Politik haben könnte. (Annika Joeres, ZEIT)

Ich habe über dieses Thema bereits 2017 geschrieben, als LePen gegen Macron in die Stichwahlen ging. Damals rief die im ersten Wahlgang unterlegene konservative Partei zum Wahl Macrons auf, was über zwei Drittel ihrer Wählenden dann auch befolgten. Der Unterschied zum Verhalten der amerikanischen Konservativen war offensichtlich. Daran hat sich wenig geändert. Rechtsradikale können nur an die Macht kommen, wenn sie konservative Steigbügelhalter haben. Deren Verhalten ist daher der entscheidende Punkt, und wird es vermutlich auch zu den kommenden Wahlen in Frankreich wieder sein. Dass Ciotti von seiner Partei ausgestoßen wurde und dann das Drama um die Besetzung der Parteizentrale lief zeigt allerdings, wie kaputt die Partei mittlerweile ist. Das scheint ebenfalls ein Trend zu sein, der sich in mehreren europäischen Ländern vollzieht und der bisher glücklicherweise an uns vorbeigegangen ist.

Zu den Ereignissen siehe auch dieser großartige Thread.

3) Nur ein kleines bisschen Pflicht

Verteidigungsminister Boris Pistorius hat im Verteidigungsausschuss seine Pläne für einen neuen Wehrdienst vorgestellt. Anstelle einer Wiedereinführung der Wehrpflicht plant er, 18-jährige Männer und Frauen mit einem Fragebogen anzuschreiben, wobei die Beantwortung für Männer verpflichtend, für Frauen freiwillig sein soll. Pistorius hofft, dadurch das Interesse an der Bundeswehr zu steigern und die Personaldecke zu stärken. Ziel ist es, bis 2031 eine Reserve von 100.000 Soldaten aufzubauen, um die aktuelle Zahl von gut 181.000 Soldaten aufzustocken. Der neue Wehrdienst soll eine Grundausbildung von sechs Monaten umfassen, die auf bis zu 17 Monate verlängert werden kann. Um den Dienst attraktiver zu gestalten, sind Bonusoptionen wie eine Verpflichtungsprämie von 5.000 Euro, kostenlose Sprachkurse und ein kostenloser Führerschein im Gespräch. Die Pläne enthalten keine allgemeine Dienstpflicht, da hierfür eine Grundgesetzänderung nötig wäre. Stattdessen setzt Pistorius auf pragmatische Änderungen, die mit der Mehrheit der Ampelkoalition umsetzbar sind. Die SPD-Spitze, insbesondere Parteichefin Saskia Esken, betont die Freiwilligkeit des neuen Wehrdienstes als entscheidend für die Akzeptanz der Demokratie. Esken betont, dass Selbstbestimmung wichtig sei und Freiwilligkeit bei der Bundeswehr das richtige Prinzip darstelle. Kritik kam von der Opposition, insbesondere von CDU-Politikerin Serap Güler, die die Pläne als dünn und vage bezeichnete. Sie bemängelte insbesondere die fehlende Klarheit über die Organisation der Musterung. SPD-Politiker Johannes Arlt begrüßte hingegen die Pläne als logischen Einstieg in einen neuen Wehrdienst und plädierte langfristig für einen Gemeinschaftsdienst für Männer und Frauen. Auch die Grünenabgeordnete Sara Nanni unterstützte den Einstieg, betonte jedoch, dass die Bundeswehr allgemein attraktiver für junge Menschen werden müsse. Pistorius plant, seine Vorschläge am Nachmittag öffentlich vorzustellen und eine Kampagne in den sozialen Medien zu starten. Am Abend wird er im "heute-journal" auftreten, um seine Pläne weiter zu erläutern. (Matthias Gebauer/Marina Kormbaki, Spiegel)

Auch das ist eine typisch deutsche Dynamik. Es wird ein Defizit erkannt - in diesem Fall das Fehlen von Personal und das Fehlen einer Reserve - und dann eine recht offensichtliche Lösung diskutiert, bei der aber wieder keinesfalls irgendein allzu effektiver Schritt unternommen werden darf. Es ist völlig unklar was passiert, wenn jemand den Fragebogen nicht ausfüllt, völlig unklar, wie das laufen soll; die Dauer mit 6 Monaten löst das Problem der Bundeswehr nicht wirklich; die Fördermaßnahmen taugen so gut wie nichts, etc. Alles ist noch unter dem kleinsten gemeinsamen Nenner und vor allem homöopathisch. Dazu kommt die Debatte um die Geschlechterregel: eine Wehrpflicht, die nur für Männer gilt, kann im Jahr 2024 in meinen Augen nicht mehr durchsetzungsfähig sein. Natürlich ist das wieder der leichtere Weg, weil man das über eine Wiedereinsetzung der alten Wehrpflicht lösen könnte, aber das macht es nicht besser. Nur deutscher.

4) South Korea Lays Out $470 Billion Plan to Build Chipmaking Hub

Südkorea plant, über 470 Milliarden US-Dollar in den Aufbau des weltweit größten Chipfertigungskomplexes zu investieren. Bis 2047 sollen 622 Billionen Won aus dem privaten Sektor fließen, um 13 neue Chipfabriken und drei Forschungszentren zu errichten. Diese werden neben den bestehenden 21 Produktionsstätten in einem Gebiet von Pyeongtaek bis Yongin angesiedelt sein, das bis 2030 monatlich 7,7 Millionen Wafer produzieren soll. Die Regierung unterstützt die heimische Chipindustrie, die 16% der Gesamtexporte ausmacht, mit großen Steuererleichterungen. Samsung und SK Hynix planen erhebliche Investitionen in fortschrittliche Chipfabriken im Inland: Samsung will 500 Billionen Won bis 2047 in Foundry-Projekte investieren, während Hynix 122 Billionen Won in Speicherchips in Yongin anlegen wird. Ziel ist es, die Selbstversorgung mit Halbleitern zu verbessern und den Marktanteil an der globalen Logikchipproduktion bis 2030 von 3% auf 10% zu steigern. (Sohee Kim, Bloomberg)

Ich sage immer wieder, dass Deutschland einfach keine Industriepolitik kann, und diese Meldung ist ein weiterer Beleg dafür. Niemals würden wir so etwas machen. Die Vorstellung, in Zukunftstechnologien zu investieren und dafür zu sorgen, dass man strategisch wichtige Bereiche unter eigener Kontrolle hat beziehungsweise in die Wirtschaft von morgen investiert, ist hierzulande geradezu Anathema. Stattdessen herrscht ein Versuch vor, den alten Status möglichst lange einzufrieren. Wie lange redet man schon vom Aufbau einer heimischen Chipindustrie? Rhetorik und Größe der Aufgabe einerseits und die konkreten Vorschläge und noch viel weniger die Resultate andererseits passen null zusammen.

5) Links, grün, versifft? Ich doch nicht!

In einem Kommentar reflektiert eine Journalistin über ihre Entscheidung, Zitate von Politikern in einem Newsletter zu verwenden. Besonders interessant fand sie ein Zitat von Robert Habeck (Grüne), verzichtete jedoch darauf, es zu erwähnen, um nicht als "linksgrün" wahrgenommen zu werden. Stattdessen fühlte sie sich wohler, ein Zitat von Jens Spahn (CDU) zu loben. Sie erkennt, dass die Vorwürfe, Journalistinnen und Journalisten seien voreingenommen, sie beeinflussen. Diese Selbstzensur könnte erklären, warum sich ein antigrüner Zeitgeist durchsetzen kann, wie bei den hohen Verlusten der Grünen bei der Europawahl zu sehen. Die Autorin betont, dass Journalistinnen trotz ihrer persönlichen politischen Neigungen neutral berichten sollten. Eine besondere Strenge gegenüber Linken und Grünen wäre jedoch unfair und keine echte Neutralität. Abschließend überlegt sie, in einer nächsten Kolumne sowohl das Zitat von Habeck als auch das von Spahn zu besprechen, um ausgewogen zu berichten. (Susanne Beyer, Spiegel)

Ich habe das erst jüngst im Kontext von Medienkompetenz diskutiert. Man glaubt immer viel bereitwilliger, was man glauben will, und hinterfragt kritischer, was man nicht glauben will. Wir sind immer von unseren eigenen Vorannahmen geprägt, die unsere Wahrnehmung bestimmen. Die Reflexion Beyers hier ist daher sehr wertvoll. Mir fällt das selbst auch immer wieder auf. Ich bin immer total erleichtert, wenn ich die Grünen für irgendetwas kritisieren kann, um dem Eindruck der Voreingenommenheit entgegenzuwirken (nicht, dass es viel hilft). Dadurch entsteht leicht dieser Mix aus Hype und Backlash. Das betrifft ja nicht nur die Grünen. Ab 2015 wurde es ja total angesagt, Angela Merkel zu kritisieren, nachdem man zuvor jahrelang das Gegenteil geschrieben hatte. In den 2000er Jahren war man nicht ernstzunehmen, wenn man nicht die SPD kritisierte. Wer nach 2009 nicht die FDP doof fand, war auch out. Und so weiter. Sich in Erinnerung zu rufen, dass man immer solchen Moden und den eigenen Vorlieben unterliegt, ist ein wichtiger Akt politischer Hygiene.

Resterampe

a) Pistorius' Wehrpflichtpläne wirken irgendwie halbgar und merkwürdig anachronistisch.

b) Selbst der BDI fordert mittlerweile das Ende der Schuldenbremse und Milliardeninvestitionen.

c) Die Welt deiner Kindheit existiert nicht mehr.

d) Guter Artikel zum Stand der SPD.

e) Nach den Grünen fordert auch die GEW einen Verzicht auf klassische Hausaufgaben (und aufs Sitzenbleiben). Man sollte auch die Alternativvorschläge lesen bevor man urteilt.

f) Did you know . . . we defeated inflation in a single month?

g) Das dröhnende Schweigen dazu ist halt die andere Seite der Migrationsdebatte.

h) Sind eigentlich langsam alle verrückt geworden?

i) Was Habeck sagt.

j) The lessons of COVID.

k) Niemand ist immun gegen das "nach der Wahl"-Phänomen politischer Rhetorik.

l) So true.


Fertiggestellt am 19.06.2024

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