In dem berühmten Märchen "Des Kaisers neue Kleider" gibt es einen entscheidenden Moment, als ein Kind die offensichtliche Wahrheit ausspricht, die alle Erwachsenen ignorieren: dass der Kaiser nackt ist. Vorher hatten alle sich eingeredet, dass die Kleider, die nur klugen Menschen sichtbar sein sollten, eben doch vorhanden sein müssten. Das Ende der Illusion, die man sich eingeredet hatte, war für alle Beteiligten ein eher peinlicher Moment. In Bezug auf die Schuldenbremse gibt es einen solchen Moment nicht. Das Kind existiert nicht, weil alle Erwachsenen weiterhin fest die Augen zusammenkneifen und so tun, als ob da eine Schuldenbremse sei, die das tut, zu was sie ursprünglich geschrieben worden ist. Doch das ist seit dieser Woche erkennbar nicht mehr der Fall. Stattdessen werden wir Zeugen eines des wohl größten Wahlbetrugs mindestens seit den "blühenden Landschaften" Helmut Kohls, die völlig ohne zusätzliche Kosten für die Westdeutschen finanzierbar sein sollten.
In der Phase des Bundestagswahlkampfs, die noch nicht vom Migrationsthema dominiert war, spielte die Frage nach der künftigen Rolle staatlicher Investitionen eine herausgehobene Rolle. Die Ampel-Regierung war über dieser Frage gescheitert. Eine niedrige zweistellige Milliardensumme hatte nach dem BVerfG-Urteil im Haushalt gefehlt. Die Forderung etwa Robert Habecks, mehrere hundert Milliarden Euro als Sondervermögen in Infrastruktur und Verteidigung zu investieren und damit den deutschen Verteidigungshaushalt in die Nähe von 3,5% des BIP zu bringen, wurden wahlweise harsch kritisiert oder verlacht. Die Union erklärte auf das Werben der Grünen und der SPD, noch in der alten Legislaturperiode ein Sondervermögen auf die Bundeswehr auf den Weg zu bringen, dass sie für so eine haushaltspolitische Initiative nicht zu haben sei. Die Wahl solle es klären, und zusätzliche Sondervermögen gebe es mit der CDU ohnehin nicht. Die schließlich sei gegen zusätzliche Schulden und für finanzpolitische Seriosität. Den Gegenargumenten der Progressiven, dass gerade angesichts der Lage Seriosität eher Investitionen in gewaltiger Höhe bedeuten würden, wurde höhnisch entgegengehalten, dass nach der Wahl eine Regierung unter Friedrich Merz gebildet werden würde, die anders als die Grünen etwas von Wirtschaft verstehe.
Nur Tage nach der Wahl vollzog Friedrich Merz mit seiner Partei eine Wende um 180 Grad. Die Forderungen nach zusätzlichen Sondervermögen für Verteidigung und Infrastruktur schraubten sich in schwindelerregende Höhen. 200 Milliarden forderte die CDU, 300 Milliarden die SPD, in bester an die Mehrwertsteuererhöhung von 2005 erinnernder Manier sind es jetzt 500 Milliarden geworden. Mark Schieritz nennt das Paket in Anlehnung an die Finanzkrisen-Pakete "eine Bazooka für Friedrich Merz". So radikal ist dieser Schritt, die Abkehr von verbissen verteidigten Positionen, dass man geneigt ist, Ricarda Lang zuzustimmen:
Gebt den Sondierungen noch zwei Wochen und Markus Söder baut uns allen kiffend ne Wärmepumpe ein.
— Ricarda Lang (@Ricarda_Lang) March 5, 2025
Man muss das klar formulieren: die CDU hat einen riesigen Wahlbetrug begangen. Dazu braucht es nicht einen bösen Linken wie mich; Horst Seehofer und Ulf Poschardt nehmen da, pars pro toto, kein Blatt vor den Mund. Obwohl völlig offensichtlich war, dass ihr Programm völlig fantastisch war (geschlagen nur von den geradezu surrealen Zahlen des FDP-Wahlprogramms), was wir hier im Blog ja immer wieder diskutiert haben, galt die übliche Regel der Berichterstattung: die CDU ist immer die Partei wirtschaftspolitischer Vernunft und Seriosität, während SPD und Grüne auf jeden Fall Steuergeld verschwendende Halodris sind. Dass die CDU jetzt quasi das Programm von SPD und Grünen umsetzt, ist kein Zeichen von deren großer Stärke, wie etwa Thomas Schmid in der Welt schreibt ("Zum Erfolg verdammt"). Vielmehr wird Friedrich Merz schlichtweg von der Realität eingeholt - und ist anders als Christian Lindner flexibel genug, sich der Realität zu stellen. Der schlappe Versuch, die Wende mit der Regierungsübernahme Trumps und seinen offen pro-russischen Handlungen erklären zu wollen, offenbart nur eines: entweder eine schlechte Lüge oder eine erschreckende Unwissenheit über die geopolitische Lage. Man muss beinahe hoffen, dass Merz vor allem gelogen hat; die Alternative wäre noch viel schlimmer.
Tatsächlich müssen wir froh sein, dass Friedrich Merz die Wahl gewonnen hat. Niemals würde die CDU diese Wende hin zur Realität machen, wenn sie nicht das Kanzleramt innehätte. Wieder einmal zeigt sich, dass die CDU Macht versteht - anders als ihre Konkurrenz im progressiven Lager. Denn die Verabschiedung der Mittel für die Bundeswehr mit den Stimmen des alten Bundestags hätte Merz bereits vor Monaten haben können - aber er wollte aus wahlkampftaktischen Gründen nicht. Stattdessen verhöhnte und attackierte er die Grünen - und ist nun selbst auf deren Stimmen angewiesen, wie im Übrigen ziemlich absehbar war. Ich kann mich erinnern, immer wieder darauf verwiesen zu haben, dass die Grünen als Hauptgegner in der Wahl auszumachen angesichts der wahrscheinlichen Mehrheitsverhältnisse nach der Wahl keine gute Idee ist. Ohne Sahra Wagenknechts Versagen wäre das für Merz noch viel offensichtlicher und peinlicher.
Aus demokratischer Perspektive ist das, was die sich bildende schwarz-rote Koalition hier abzieht, aus dreifacher Hinsicht mehr als dubios. Einerseits mag das Manöver, mit dem alten Bundestag und seinen Mehrheiten das Ganze im Eilverfahren durchzuziehen, rechtlich durchaus in Ordnung sein. Sonderlich demokratisch ist es nicht - und die CDU hat VOR der Wahl noch genau damit gegen die Vorschläge vor allem Habecks für die Verabschiedung damals noch eines reinen Verteidigungssondervermögens argumentiert. Zweitens bricht die CDU damit ihre zentralen Wahlversprechen und stellt sich komplett gegen das, was sie monatelang mit Verve behauptet hat. Und drittens erpresst Schwarz-Rot die Grünen: entweder ihr stimmt unserem Programm zu, ohne Einfluss darauf zu haben, oder Deutschland leidet.
Das ist nicht eben die feine Art, aber Politik ist ein schmutziges Geschäft, und anders als die SPD und die Grünen versteht sich die CDU schon immer darauf. Es hat schon seinen Grund, dass die Union doppelt so oft regiert wie ihre progressive Konkurrenz. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass Merz 2027 einem Deutschland vorsteht, das mit ordentlichem Wirtschaftswachstum neue Rekorde beim Ausbau der Erneuerbaren und dem Umstieg auf eMobilität feiert - alles ohne rot zu werden. Diese Fähigkeit der CDU und ihrer Kanzler, in den Worten Adenauers "auf das Geschwätz von gestern" nicht sonderlich viel zu geben, und die umgekehrt große Loyalität der SPD und Grünen zur Republik, könnten unsere Rettung werden. Denn umgekehrt wäre beides nicht möglich; weder die so krasse Kehrtwende noch die Loyalität. Niemals würde die CDU unter umgekehrten Umständen einer Rot-Grünen Einigung im alten Bundestag die Zustimmung geben.
Dass Merz diese bekommt, ist natürlich noch nicht ausgemacht. Die Sonderierungsergebnisse sind letztlich ein rein schwarz-roter Kompromiss, ohne jede Rücksicht auf andere, deren Stimmen man auch benötigt. Komplett auf den Rücken drehen und tot spielen werden auch die Grünen nicht, die dazu auch Zwängen innerparteilicher Inkohärenz unterworfen sind. Gleichwohl ist schwer vorstellbar, dass an ihrer Forderung, mehr Geld direkt den Kommunen zur Verfügung zu stellen, eine Einigung scheitern wird. Es ist auffällig, dass die Grünen keine Parteipräferenzen fordern, etwa einen stärkeren Ausbau der Erneuerbaren, das Tempolimit oder solcherlei Spielereien. Die technische Ebene, auf der sie aktuell unterwegs sind, sollte für CDU und SPD problemlos annehmbar sein.
Und Nachbesserung ist dringend geboten. Denn so begrüßenswert der grundsätzliche Wandel, den selbst Welt-Kommentatoren wie Robin Alexander und Florian Schuster (letzterer natürlich NACH der Wahl) begrüßen, auch sein mag, so wenig verheißungsvoll ist das konkrete Paket, das sehr an die Merkel-Jahre erinnert und auch hier so gar nicht zu Merz' Rhetorik vom Politikwechsel und seiner ostentativen Abkehr von der Politik seiner Vorgängerin passen will. Zahlreiche Konsumausgaben wie die Mütterrente oder eine erhöhte Pendlerpauschale, alles Geschenke für die jeweilige Kernklientel, werden durch Buchungstricks mit in das Paket hineingeschoben, und Investitionen in den Klimaschutz fehlen weitgehend. Nicht einmal die Zukunft des Deutschlandtickets wollten die Verhandler in ihr Investitionspaket schreiben, als ob die Zukunft Deutschlands weiterhin nur auf der Straße läge.
Gleichwohl ist die Forderung, dass die Grünen ihre Zustimmung verweigern sollten, wie sie etwa Dieter Schnaas oder Adam Tooze formulieren, in meinen Augen fehl am Platz. Denn wir Mark Schieritz richtig sagt: "Selten ging es um so viel." Ich mag zwar angesichts der schmutzigen Manöver der CDU, die immer die Macht zuerst und das Land bestenfalls als zweites stellen, verärgert sein. Aber wenigstens hier gilt, dass man high gehen muss, auch und gerade wenn sie low gehen, um Michelle Obama zu zitieren. Denn wie Mark Schieritz in seinem Artikel erklärt: "Friedrich Merz und Lars Klingbeil ist mit ihrem Finanzpaket (über das der Bundestag kommende Woche abstimmen soll) etwas gelungen, was in der Politik nur selten gelingt. Sie haben ein Narrativ gebrochen. In diesem Fall: dass die Bundesrepublik Deutschland ein unregierbarer Sanierungsfall ist." Obwohl das Paket noch nicht einmal fertig verhandelt, geschweige denn beschlossen ist, sind bereits deutliche Konsequenzen zu sehen.
Der deutsche Finanzmarkt, jahrelang das Sorgenkind der EU, erholt sich. Das Triple-A-Rating der Bundesrepublik wird durch die Sondervermögen stabiler. nicht instabiler. Die Investmentbank Goldman Sachs erwartet 0,5% mehr Wachstum, ihre Konkurrenz von Morgan Stanley indes prognostiziert 2026 mit dem Sondervermögen eine niedrigere Schuldenquote als ohne. Selbst durch das Riesenpaket von 500 Milliarden wird der Schuldenstand von 2010 nicht ansatzweise erreicht. Bereits in diesen Vorzeichen ist gut erkennbar, dass die Progressiven eben richtig lagen. Umso schlimmer sind all die verlorenen Jahre unter Merkel und der FDP-blockierten Ampel. Man hätte diese Programme, deren Zielsektoren bereits vorher erkennbar in Not waren, bereits in Zeiten aufnehmen können, in denen Kredite billiger waren als heute. Man hätte das stagnierende Wachstum der letzten Zeit vermeiden können. Die Ideologie der "Fiskal-Ajatollahs", deren Ende jetzt glücklicherweise endgültig gekommen scheint, hat Deutschland ungeheuer viel gekostet. Es wäre fahrlässig, jetzt aus parteipolitischer Motivation die Zustimmung zu etwas zu versagen, das selbst in seiner klientenpolitisch verseuchten, rückwärtsgewandten schwarz-roten Version so viel positive Effekte hat und dessen Zukunft so wichtig ist - egal, wie unklar die konkreten Wohlstandseffekte auch sein mögen.
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